„Heimatlos“ ist eine repräsentative Auswahl aus dem erzählerischen Gesamtwerk Lee Hochols (*1932), eines der bekanntesten koreanischen Gegenwartsautoren. Benannt ist die Sammlung nach der gleichnamigen ersten Erzählung, mit der Lee Hochol 1950 erstmals einer größeren koreanischen Öffentlichkeit bekannt geworden war.
Die insgesamt fünfzehn Erzählungen erschienen in einem Zeitraum von 45 Jahren, nämlich zwischen 1955 und 2000. Sowohl die Auswahl als auch die Anordnung der Erzählungen hat Lee Hochol persönlich für diese deutsche Ausgabe vorgenommen.
Geboren in Wonsan, einer Hafenstadt im heutigen Nordkorea, geriet Lee während der Wirren des Koreakrieges (1950–1953) in den Süden des Landes und entschied sich, dort zu bleiben.
So befasst er sich in den ersten vier Erzählungen dieses Bandes, die in den 1950er Jahren entstanden, mit der Thematik dieses Krieges. Im Zentrum der in diesem Band vorgestellten Prosa steht jedoch Lees Werk der 1960er und 1970er Jahre, jener Zeit, in der Park Chung Hee als Präsident der 3. und 4. Republik Südkorea in eine Entwicklungsdiktatur führte. Drei Erzählungen aus den 1990er Jahren runden diese Auswahl ab, in ihnen thematisiert Lee noch einmal eines der wichtigsten Anliegen seines gesamten literarischen Schaffens – die Verarbeitung der nationalen Teilung, des Traumas seiner Generation.
Im Februar 2013 wurde in Südkorea erstmals eine Frau in das Amt des Präsidenten eingeführt. Park Geun Hye ist die Tochter Park Chung Hees, jenes Mannes, der 1961 durch einen Militärputsch an die Macht kam und bis zu seiner Ermordung 1979 die Geschicke Koreas lenkte. An seiner Person scheiden sich die Geister: Ist er für die einen der Modernisierer par excellence, der „starke Mann“, der in dem zu Beginn der 1960er Jahre noch zu den ärmsten Staaten der Welt gehörenden Südkorea die Grundlagen für eine rasante wirtschaftliche Entwicklung legte, so sehen die anderen in ihm den brutalen Diktator, der Oppositionelle ins Gefängnis werfen ließ und selbst vor Folterungen und politisch motivierten Morden nicht zurückschreckte, unter dem Banner des Antikommunismus demokratische Grundrechte mit Füßen trat und politischen Gehorsam mit wirtschaftlichen Geschenken belohnte. Beide Sichtweisen spiegeln Realität wider, es sind die zwei Seiten einer Medaille – der sogenannten nachholenden Modernisierung.
Vor diesem politischen Hintergrund sind die in den 1960er und 1970er Jahren entstandenen Erzählungen dieses Bandes zu verstehen. Lee Hochol hält der Entwicklungsdiktatur den Spiegel vor – jenseits wirtschaftlicher Entwicklungspläne, beeindruckender Exportstatistiken oder erschütternder Berichte über Verletzungen von Menschenrechten. Seine Protagonisten sind die „kleinen Leute“. Um ihr Denken und Fühlen, ihre Ängste geht es in seinen Erzählungen.
Für sein literarisches Werk erhielt der Autor in Korea zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Hyundai Literaturpreis (1961), den Tongin-Literaturpreis (1962) sowie den Orden für besondere Verdienste im Kulturbereich (2002). |
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Vorwort: Geschichte im Spiegel
„Wir betrachten den Antikommunismus als oberstes Prinzip unserer Politik …“ Die Monotonität nimmt der Radiostimme nichts von ihrer Bedrohlichkeit, die endlosen Wiederholungen verursachen einen bohrenden Schmerz, der den ganzen Körper durchfährt und den erst eine wie auch immer geartete Betäubung erträglich werden lässt. Doch nur für den, der plötzlich ausgestoßen wurde, ausgestoßen aus der Menge der Unbehelligten, hinein in den Kreis der Verdächtigen. So ergeht es dem Protagonisten in Lee Hochols Erzählung Vermasselter Amtsantritt (1965). Kyuho, Oberst a.D. und Veteran des Koreakrieges, ist ein strammer Antikommunist, doch plötzlich sieht er sich verfolgt und versteht die Welt nicht mehr. Hals über Kopf tritt er die Flucht an, und von da an treibt ihn nur noch eins – Angst. Irrationale Angst, erzeugt von einer Gesellschaft, der jede Rationalität abhanden gekommen zu sein scheint, hinter deren scheinbarer Willkür jedoch allzu oft durchaus beabsichtigtes Handeln erkennbar wird. Einfühlsam und eines gewissen Humors nicht entbehrend schildert Lee Hochol die Flucht seines Protagonisten, der sich, beinahe wahnsinnig vor Angst, Hals über Kopf in Alkohol und Frauen stürzt. Kyuho lebt im Seoul der beginnenden 1960er Jahre, jener Zeit, als Generalmajor Pak Chŏnghŭi (Park Chung Hee, 1917–1979) nach einem Staatsstreich an der Konsolidierung seiner Macht arbeitet. Es bereitet jedoch keine Schwierigkeiten, sich einen Kyuho wenige hundert Kilometer weiter nördlich vorzustellen, im Nordkorea der 1960er Jahre. Die beiden koreanischen Staaten jener Zeit, auf den ersten Blick scheinbar so extrem gegensätzlich, sind sich auf den zweiten Blick ähnlicher, als mancher vermuten mag.
Lee Hochol beging im letzten Jahr (2012) seinen 80. Geburtstag. In der nordkoreanischen Hafenstadt Wonsan geboren, geriet er mit achtzehn Jahren als Soldat der Volksarmee in Kriegsgefangenschaft und entschied sich, im Süden des Landes zu bleiben. Hier debütierte er 1955 mit der Erzählung Heimatlos über das Schicksal von vier jungen Nordkoreanern, die es während des Koreakrieges in die Hafenstadt Pusan verschlägt.
Von dieser Zeit an widmet sich Lee vorrangig dem Schreiben. Setzt er sich Ende der 1950er Jahre in seinem literarischen Schaffen vorrangig mit den tragischen Folgen des Koreakrieges im Leben der „kleinen Leute“ auseinander, bildet in den 1960er Jahren die nationale Teilung Koreas immer mehr die zentrale oder zumindest hintergründige Thematik seines Werkes.
1974 wird Lee zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt, da ihn die Staatsanwaltschaft anklagt, das Antikommunismusgesetz und das Staatssicherheitsgesetz verletzt zu haben. Ihm und weiteren Schriftstellern wirft das den Antikommunismus als Leitidee proklamierende Regime vor, in einem Artikel die südkoreanische Gesellschaft kritisiert zu haben. Eindrücke jener Tage finden ihre Widerspiegelung in der Erzählung Flucht (1977), in der Lee sehr eindrucksvoll die subtilen Gefühle beschreibt, die den Protagonisten kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis bewegen und ihn „die Welt hier draußen“ als irreal, geradezu gespenstisch empfinden lassen. In den Jahren der Diktatur Pak Chŏnghŭis verbüßt Lee nach dieser ersten Inhaftierung noch weitere Gefängnisstrafen als politischer Gefangener.
Der vorliegende Band beginnt mit vier Erzählungen aus den 1950er Jahren, die sich alle mit der Thematik des Koreakrieges befassen. Die bekannteste darunter, Heimatlos (1955), spielt in Pusan. Dorthin hatte sich neben zahllosen Flüchtlingen auch die südkoreanische Regierung zurückgezogen, als die Truppen der nordkoreanischen Volksarmee im Herbst 1950 beinahe den gesamten Süden Koreas besetzten. Nur ein kleines Gebiet im Südosten des Landes um die Hafenstadt Pusan herum blieb in südkoreanischer Hand. Dorthin verschlug es die vier Jugendlichen, deren bittere Erfahrungen Lee Hochol hier eindrucksvoll schildert. Als Titelerzählung für diesen Band, dessen Auswahl an Erzählungen – vom Autor selbst getroffen – einen Eindruck seines Gesamtwerks vermitteln soll, ist Heimatlos insofern prädestiniert, als in ihr als dem Erstlingswerk Lee Hochols genau das angesprochen wird, was sich bis ins Spätwerk hinein als zentrale Thematik seines literarischen Schaffens herauskristallisiert: die Teilung Koreas als nationale Tragödie und wesentliche Ursache für teilweise absurde politische und gesellschaftliche Entwicklungen.
Zwei der jungen Protagonisten dieser Erzählung begegnen uns noch einmal in Hochflut (1959), einem Werk, das zwar vier Jahre nach Heimatlos entstand, dessen Handlung jedoch vor der Flucht der vier jungen Männer in den Süden des Landes einsetzt. Hier beschreibt der Autor das Leben in einem nordkoreanischen Dorf nahe der Demarkationslinie im Herbst 1950. Mit der Landung der US-Truppen bei Inchŏn Mitte September 1950 veränderte sich die Kriegslage schnell. Bereits am 30. September 1950 überschritten die Truppen der Nationalarmee den 38. Breitengrad und erreichten – nun mit tatkräftiger Unterstützung der UN-Truppen – bereits im November 1950 den Yalu, die Grenze zur VR China. Auf diese Bedrohung reagierte China mit der Entsendung der sogenannten Volksfreiwilligen, und im Zuge einer nordkoreanisch-chinesischen Offensive, die am 1. Januar 1951 startete, wurde Seoul bereits zwei Tage später, am 3. Januar 1951, zum zweiten Mal von Truppen der Volksarmee besetzt. Vor diesem historischen Hintergrund – dem Einmarsch der Nationalarmee im September 1950 bis zur Rückeroberung des Dorfes durch die Truppen der Volksarmee im Januar 1951 – spielt die Erzählung Hochflut. Den Soldaten der Nationalarmee begegnen die meisten Dorfbewohner gelassen. Sie sehen sich in erster Linie als eine Familie mit gemeinsamen Vorfahren, darauf bedacht, die Stürme der Zeit als solche möglichst unbeschadet zu überstehen. Wer noch vor kurzem mit den Kommunisten zusammenarbeitete, wird nicht an die Nationalarmee verraten, denn Blutsbande binden enger als jede Ideologie. Doch ganz sicher sein kann man sich dessen wohl nicht; denn am Ende besteigen Kwangsok und Tuchan im Gefolge der sich zurückziehenden Nationalarmee ein Schiff, das sie ins sichere Pusan bringen soll.
Etwa die Hälfte der im vorliegenden Band veröffentlichten Erzählungen entstand zwischen 1961 und 1979, jener Zeit, da Pak Chŏnghŭi als Präsident der 3. und 4. Republik die Geschicke des Landes lenkte. Nicht nur das politische Engagement seiner Tochter, Pak Kŭnhye (Park Geunhye) – 2012 siegte sie als Kandidatin der Regierungspartei (Saenuri-dang) bei den Präsidentschaftswahlen und lenkt nun als erste Präsidentin die Geschicke des Landes –, führte dazu, dass jene Zeit der modernen koreanischen Geschichte und hierbei insbesondere die Rolle Paks in der öffentlichen Wahrnehmung erneut heiß diskutiert werden.
An der Person Pak Chŏnghŭis scheiden sich die Geister: Für die einen ist er der Modernisierer par excellence, der „starke Mann“, der das Land – zu Beginn der 1960er Jahre noch zu den ärmsten Staaten der Welt gehörend – wirtschaftlich an die Weltspitze brachte oder zumindest die Grundlagen dafür legte und nach dem sich mancher in Zeiten der Krise zu sehnen scheint. Für die anderen ist er ein brutaler Diktator, der Oppositionelle ins Gefängnis werfen ließ und selbst vor Folterungen und politisch motivierten Morden nicht zurückschreckte, der unter dem Banner des Antikommunismus demokratische Grundrechte mit Füßen trat und politischen Gehorsam mit wirtschaftlichen Geschenken belohnte. Beide Sichtweisen spiegeln Realität wider, es sind die zwei Seiten einer Medaille – der nachholenden Modernisierung.
Vor diesem politischen Hintergrund sind die in den 1960er und 1970er Jahren entstandenen Erzählungen zu verstehen. Lee Hochol hält der Entwicklungsdiktatur den Spiegel vor – jenseits wirtschaftlicher Entwicklungspläne, beeindruckender Exportstatistiken oder erschütternder Berichte über Menschenrechtsverletzungen. Wie erlebten die Menschen jene Zeit?
Die 1962 veröffentlichte Erzählung Zermürbt gehört zu den wohl eindrucksvollsten und eigenwilligsten dieses Bandes. Sie wurde bereits im Jahr ihrer Veröffentlichung mit dem Tongin-Literaturpreis ausgezeichnet. Ein Abend im Mai, die Familie sitzt im Empfangszimmer und wartet auf den Besuch der ältesten Tochter, die vor mehr als zwanzig Jahren in den Norden ging und von der seitdem jede Nachricht fehlt. Eine befremdende, beinahe gespenstische Atmosphäre: Das groteske Warten auf das Unmögliche initiierte das greise Familienoberhaupt, der Einzige im Übrigen, der nicht von der Sinnlosigkeit der Aktion überzeugt ist. Er, bereits nicht mehr im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, die Schwiegertochter, sich in stiller Unterwerfung und ebenfalls einer Art geistiger Umnachtung der Anweisung ihres Schwiegervaters kommentarlos fügend, ihr Ehemann, willenlos, labil, ohne jede emotionale Regung, und Yonghi, die jüngste Tochter des Hauses, die einzig Wache in diesem Raum, der isoliert von der Außenwelt seinen eigenen Gesetzen zu folgen scheint. Der von jeder historischen Perspektive abgeschnittene Raum erfährt hier eine extreme Steigerung ins Absonderliche. Er scheint nicht von dieser Welt, die Figuren in ihm wirken irreal, einzig Yonghi begehrt dagegen auf, doch bleibt sie ungehört, als spreche sie mit Wachsfiguren. Hinter dem Fenster, hinter der Tür lebt die reale Welt, mal bedrohlich „finster“, untermalt vom „schauerlichen Knarren der Bäume“, aber auch als der Ort, der etwas „Frisches, Lebendiges“ hat. Nicht nur der geschlossene Raum und das Draußen korrelieren in dieser Erzählung; dem düsteren apokalyptisch anmutenden Heute im Raum wird ein helles, fröhliches und lebhaftes Gestern gegenübergestellt, ein Gestern, als die älteste Tochter noch im Haus lebte. Die Teilung des Landes, ein in Lees Prosa stets wiederkehrendes Sujet, bildet auch hier den Hintergrund der Geschichte.
Lees Protagonisten sind die einfachen Leute, um ihr Denken und Fühlen, ihre Ängste geht es in seinen Erzählungen. Kyuho, wie vom Wahnsinn getrieben auf der Flucht vor einer imaginären Strafe, Songgyu, der durch einen glücklichen Zufall den Koreakrieg überlebte, und nun ein Leben führt, das die Gäste seiner Geburtstagsparty zu der Überlegung veranlasst, „ob es nicht vielleicht doch besser gewesen wäre, er wäre damals gestorben, als dass er jetzt fett wie ein Schwein dahinlebte.“ Ein Ehepaar, modern und gebildet, das ein weißer Gummischuh zu der Erkenntnis führt, dass der Abschied vom Aberglauben der Vorväter schwieriger ist als gedacht. Hyonu, geplagt von melancholischen Erinnerungen an jene Zeit vor zwanzig Jahren, als er sein nordkoreanisches Heimatdorf verließ und seinem Bruder zum Abschied nur „ein paar unfreundliche Worte an den Kopf warf “, nicht ahnend, dass dies ein Abschied für immer sein würde. Und doch hat er sich in seinem neuen „südkoreanischen“ Leben eingerichtet, endgültig eingerichtet, wie ihm ein Landsmann aus der alten Heimat schmerzlich zu Bewusstsein bringt.
Die letzten drei Erzählungen dieses Bandes entstanden in den 1990er Jahren. In ihnen thematisiert Lee Hochol noch einmal eines der wichtigsten Anliegen seines gesamten literarischen Schaffens – die Verarbeitung der nationalen Teilung, des Traumas seiner Generation. In Gesetzlos, illegal, legal (2000) verarbeitet der Autor die Erfahrungsberichte zweier Veteranen des Koreakrieges. Etwa ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende treffen sich zwei ehemalige Soldaten dieses Krieges wieder – der eine schlug sich seitdem als Tagelöhner durchs Leben, der andere verbrachte ein behagliches Leben als Rechtsanwalt. Der eine entging in buchstäblich letzter Sekunde nur dank eines glücklichen Zufalls und des beherzten Eingreifen eines Freundes dem Tod durch ein Militärgericht, der andere hätte ihn, der unschuldig war, damals entlasten können, hatte es aber nicht getan. Was bedeutet das Gesetz in „gesetzlosen Zeiten“? Wie steht es mit Verantwortung und zivilem Ungehorsam in Zeiten des Krieges?
Auf Deutsch liegen von Lee Hochol bisher zwei Romane – Kleine Leute (1964/2007) und Menschen aus dem Norden, Menschen aus dem Süden (1996/2002) – sowie eine, leider nur teilweise übersetzte Erzählung – Panmunjom (1961/2005) – vor.
Heike Lee
Hamburg, im Februar 2013
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Vorwort des Autors
Beinahe sechzig Jahre, seit 1955, schreibe ich Erzählungen und Romane. Literatur, „Schreiben“ – was ist das eigentlich für mich?
Von dem Ort, an dem ich geboren wurde – Wonsan in Nordkorea – sind es von Seoul 220 km, Richtung Norden, über die Demarkationslinie hinweg. Mit dem Auto dauerte das nicht länger als drei Stunden. Doch im Dezember 1950, während des Koreakrieges, kam ich als Flüchtling in den Süden, allein, und seitdem lebe ich hier, völlig abgeschnitten von der Heimat. Keine noch so kurze Nachricht bekam ich von meiner Familie, ganz abgesehen von Briefen oder gar der Möglichkeit, einmal dorthin zu reisen. Ich weiß nicht, wann, wo und wie meine Eltern verstorben sind. Seit fast sechzig Jahren. Wie ist so etwas möglich?
Es muss vor etwa zwanzig Jahren gewesen sein, 1992, auf einer Reise nach Russland. Ich fuhr nach Jasnaja Poljana, dem Geburtsort Leo Tolstois – genau 220 km von Moskau entfernt. Hin und zurück an einem Tag. Abends erzählte ich beim Essen folgende kleine Geschichte:
„Der Mann, der hier vor Ihnen sitzt, wurde in Wonsan geboren, einer Stadt, die von Seoul, wo er derzeit wohnt, 220 km entfernt ist, genau so weit wie die Strecke, die wir heute zurückgelegt haben. Aber ich bekam in den vergangenen vierzig Jahren keine einzige Nachricht von dort, ich weiß nicht einmal, ob meine Mutter und mein Vater noch leben, ganz zu schweigen davon, dass ich jemals die Chance gehabt hätte, dorthin zu fahren. Denn unser Land ist durch die Demarkationslinie geteilt.“
Der Russe, dem ich dies erzählte, erschrak.
„Aber das ist doch nicht möglich! Was machen denn dann die Mächtigen auf beiden Seiten den ganzen Tag lang? In einer zivilisierten Welt wie heute, wie kann es da noch so etwas geben? Das überrascht mich wirklich.“
Eine ähnliche Erfahrung machte ich in Guadalajara, Mexiko. Dort war ein Radiointerview von fünfzehn Minuten geplant, doch als ich das Problem der Teilung ansprach, war der Moderator derart überrascht, dass er das Interview spontan auf vierzig Minuten verlängerte.
Damals wurde mir erneut die große Wirkung von Literatur bewusst. Ich bekam einen Eindruck davon, auf welch unterschiedliche Weise der weit verbreitete Begriff des „Geteiltseins“– „geteiltes Korea“ oder „geteiltes Deutschland“ – verstanden wird und wie Literatur dabei helfen kann, dieses Phänomen zu konkretisieren.
Mein Gesprächspartner in Russland oder der mexikanische Radiomoderator wussten zwar, dass ich aus einem geteilten Land kam, doch dem allgemein bekannten Wort „Teilung“ hatten sie bisher kaum Beachtung geschenkt. Als sie mir nun gegenübersaßen, „einem Menschen, der aus diesem Land kam“, und direkt aus seinem Mund von den traurigen Umständen dort hörten, waren sie beide sehr erschrocken ... Betrachten wir diese Tatsache einmal genauer:
Ist sie nicht ein Hinweis darauf, welch enorme Wirkung Literatur haben kann, welch gewaltige Kraft in ihr steckt?
Auch das grundlegende Esprit, das die fünfzehn Erzählungen dieser Anthologie mit dem Titel Heimatlos durchdringt, ist der Schmerz der Heimatlosigkeit, das heißt der Schmerz jener, die durch äußere Umstände dazu gebracht werden, ihre Heimat zu verlassen. Jede einzelne dieser Erzählungen hinterlässt bei mir, dem Autor, der sie einst niederschrieb, wenn ich sie jetzt nach so vielen Jahren wieder lese, ganz andere Emotionen, und unabhängig von der jeweiligen historischen Situation sind einige Geschichten darunter, die mir mit der Zeit immer besser gefallen, und so fühle ich irgendwo tief in mir ganz deutlich eine Seelenverbundenheit mit meiner Mutter, die mir Kraft gab. Und nicht nur das – auch die Landschaft meiner Heimat erscheint oft vor meinem geistigen Auge.
So hoffe ich, dass Sie, liebe Leser, diesen Schmerz nachempfinden können, den Schmerz Koreas, dieses Landes, in dem ich seit 80 Jahren lebe und das schon so viele Jahrzehnte geteilt ist.
Lee Hochol
Seoul, 27. Januar 2013
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Auszug aus „Vermasselter Amtsantritt“:
Als sich das Tor öffnete, erhob sich seine Frau rasch und trat aus dem Haus. Sie nahm das leere Bündel entgegen, in welchem das Mittagessen verpackt gewesen war, und fragte aufgeregt: „Ist in der Schule nichts vorgefallen?“
Aus dem dunklen Zimmer, in dem noch kein Licht brannte, drangen Stimmen aus dem Radio. Er warf einen flüchtigen Blick in das kleine Zimmer mit dem erhöhten Fußboden und der niedrigen Decke.
„Was meinst du?“
„Da sind welche gekommen, um dich mitzunehmen.“
„Was? Wer denn?“
„Drei Soldaten.“
Mehr brauchte Kyuho nicht zu hören. Plötzlich wurden ihm die Knie weich, und er fühlte sich kraftlos. Durch seine Kordhose ließ er laut einen fahren. Normalerweise hätte sie jetzt mit den Fäusten die Schultern ihres Gatten bearbeitet, laut gelacht und sich die Nase zugehalten, heute Abend jedoch verhielt sie sich anders und meinte stattdessen: „Du musst sofort fliehen.“
Unentschlossen ließ sich Kyuho erst einmal auf die schmale Holzveranda hinter dem Haus sinken. Von unten drang aus der Ferne Straßenlärm herauf, jenseits der Straße lag, im Nebel dieses Maiabends versunken, das weite Meer. Die Lichter der Kaistraße schienen im Nebel anzuschwellen, ein jedes sah aus, als schwebte es in der Luft, und heute Abend – so kam es ihm vor – stiegen aus der Hafensilhouette ununterbrochen eigenartig schwere und dumpfe Laute herauf. Es hörte sich an, als schleudere jemand aus einem Korb, hoch und weit wie der Himmel, in regelmäßigen Abständen Steine zur Erde. Wie diese Geräusche zustande kamen, wusste er nicht. Oder lag es vielleicht am Nebel? Es musste dieser Lärm sein, den er heute Abend so intensiv wahrnahm und der ihn die Revolution besonders konzentriert spüren ließ – wie kleine Spieße, die ihn von allen Seiten her bedrängten.
„Du sollst schnell verschwinden, sagte ich. Was sitzt du denn hier noch so stumpfsinnig rum?“
Barfuß stand seine Frau vor ihm, sie nahm das Kind vom Rücken in die Arme und legte es an die Brust. Kyuho kramte in seinen Jackentaschen und zündete sich einen Zigarettenstummel an.
„Wann ungefähr waren sie denn hier?“
„Kurz bevor du kamst. Vielleicht vor einer halben Stunde“, meinte sie und versuchte, mit der Hand den Zigarettenrauch zu vertreiben.
„Hör doch auf zu rauchen! Womöglich halten die sich hier in der Nähe versteckt.“ Wie ein Wasserfall sprudelten die Worte aus ihr heraus, während ihr behänder Blick unablässig die Umgebung des Hauses absuchte.
„Was? Hier in der Nähe?“, entfuhr es Kyuho, schnell drückte er die Zigarette aus und war mit einem Satz von der Veranda aufgesprungen.
„Ein bisschen Geld ist doch noch da, oder?“, fragte er, und sein Magen gab ein lautes Knurren von sich.
Die Frau verschwand im dunklen Zimmer, ein lautes Knarren verriet das Öffnen einer Schublade, und dann trat sie mit einer Handvoll Geldscheine wieder heraus. Mit fahrigen Bewegungen verteilte Kyuho die Scheine auf seine beiden Jackentaschen und trat auf das Tor zu.
„Willst du dich irgendwo verstecken?“
„Muss ich wohl. Aber ich weiß noch nicht wo. Muss noch mal drüber nachdenken.“
„Ich hab’ denen gesagt, du bist nach Cholla, in die Provinz, gefahren, um dort in der Landwirtschaft zu helfen.“
Kyuho schwieg.
„Jedenfalls musst du mich anrufen! Da vorn im Laden, die haben ein Telefon. Die Nummer weißt du doch, oder?“
„Ja.“
„Gibt’s sonst noch was zu besprechen? Du musst mich aber unbedingt anrufen!“, nervte sie in seinem Rücken.
Kyuho hastete die Böschung hinab und drehte sich an der Ecke noch einmal nach seiner Frau um. Undeutlich sah er sie im Dunkel verblassen und hinter ihr sein niedriges Haus. Vor dem kleinen Kramladen erhellte eine Lampe die Umgebung. Als wollte er ihren Lichtschein überspringen, eilte er davon. Er begann zu rennen.
Gestern hatten sie den Geografielehrer mitgenommen. Der war im Grunde ein ungeselliger Mensch, doch sobald er trank, lockerte sich seine Zunge mit jedem Schluck, und er schimpfte, dieser und jener verdammte Mistkerl verdiente es, erschlagen zu werden, bald gab es – abgesehen von seinen Trinkkumpanen – niemanden mehr, der nicht erschlagen werden sollte. Mit finsterer Miene kippte er ein Glas nach dem anderen in sich hinein, und war er dann schließlich völlig betrunken, ergriff er mit beiden Händen einen Teller und begann unter merkwürdigen Verrenkungen zu tanzen. Er hasste die Roten wie die Pest, doch kam die Sprache auf die Rechte und Interessen der Lehrer, führte er Statistiken aus aller Herren Länder an und verteidigte die Ansprüche der Pädagogen bis aufs Messer. Als er gestern im Lehrerzimmer die Aufforderung erhielt, bei der Behörde zu erscheinen, ging er hinaus und sagte kein Wort zum Abschied, sondern biss sich vor Zorn nur auf die Lippen. Er machte ein Gesicht, als habe sich an seiner Überzeugung nichts geändert.
Kyuho war auf ihn zugegangen und hatte geflüstert: „Herr Pak, passen Sie gut auf sich auf!“ Da hatte dieser ihn flüchtig angeblickt, sich brüsk abgewandt und erwidert: „Passen Sie lieber auf sich auf, Herr Kang!“
Vorgestern Abend wurden dann der Biologielehrer und der Mathelehrer der Oberstufe festgenommen. Als der Biologielehrer die Vorladung bekam, lächelte er, und als erfüllte es ihn mit großem Stolz, nun auch an der Reihe zu sein, sagte er zu den Kollegen: „Na ja, nun scheinen sie mich wohl auch als Menschen zu behandeln. Wir sollten ein Glas auf den Abschied trinken. Tut mir leid, tut mir leid. Verzeihen Sie mir bitte!“
Er winkte den Kollegen sogar zu und machte insgesamt doch einen recht durchtriebenen Eindruck.
Mathelehrer Kwon bedachte den Biologielehrer mit einem Blick, als erwecke dieser Mann Ekel in ihm, und räumte dabei seinen Schreibtisch und die Schubladen fein säuberlich auf.
Kyuho trat auf ihn zu und fragte: „Ach, Herr Kwon, Sie auch?“, woraufhin der Angesprochene leicht aufgebracht höhnisch entgegnete: „Warum denn nicht? Ich bin ja nicht mal Kriegsinvalide wie Sie, Kollege Kang.“
Spottete er etwa über Kyuhos Anerkennung als Kriegsinvalide? In gewissem Sinne konnte man bei Kwon schon von einer linken Orientierung ausgehen, und er sah auch leicht verdächtig aus. Anders als der Geografielehrer, der manchmal seinem gerechten Zorn freien Lauf ließ, schien Kwon irgendetwas zu verbergen. Er hatte etwas Hinterhältiges an sich.
Und heute Abend nun war Kyuho an der Reihe. Dass sie nicht in die Schule, sondern zu ihm nach Hause gekommen waren, musste einen Grund haben. Vermutlich hatten sie im Hinblick auf die Heiligkeit der Institution Schule eine technisch ausgeklügeltere Methode angewandt.
Aufs Geratewohl hetzte er die Böschung hinunter. Es war finster und der Weg zudem sehr uneben, weshalb es ihm schwerfiel, schnell zu laufen, dennoch konnte er einen Sturz vermeiden. Unter seinen Schritten bebte der trockene Boden, als hastete ein großer Bär darüber.
Im Lauf trat ihm der Schweiß aus allen Poren, und das Gefühl, verfolgt zu werden, ließ ihn immer nervöser und seine Schritte immer schneller werden. Innerlich fauchte er: Schweinehunde, verdammte Schweinehunde, ohne dass seine Beschimpfungen einer konkreten Person gegolten hätten.
Er hastete an einigen kleinen Läden vorbei, am Büro des Immobilienmaklers, und als er den Hügel ganz hinuntergelaufen war, da erst verlangsamte sich sein Schritt, und er wischte sich den Schweiß von der Stirn.
In der Nähe tönte es gerade laut aus einem Radio: „Wir betrachten den Antikommunismus als oberstes Prinzip unserer Politik …“ Ein Schreck durchzuckte ihn, und schon hastete er wieder los. Recht haben sie, ja, das ist doch richtig, murmelte er im Laufen vor sich hin, als wollte er es sich aufs Neue bestätigen. Dann verfiel er abermals in einen gemäßigteren Schritt und wischte sich den Schweiß diesmal mit einem Taschentuch von der Stirn, flüchtig sah er sich um. Abwechselnd mal im Schritttempo, mal rennend gelangte er ans Ende der dunklen Gasse. Seine Gedanken konzentrierten sich auf etwas Bestimmtes.
Er trat auf die Hauptstraße hinaus und verharrte einen Moment. Auf den abendlichen Straßen wimmelte es von Menschen. In den schweißdurchnässten Jackentaschen befingerten seine Hände die Geldscheine, wahllos zog er den einen oder anderen heraus, und mit einem Mal war er wieder bei klarem Verstand, und ein bitteres Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Normalerweise veranstaltete seine Frau immer großes Geschrei, wenn er sie um Geld anging, und für einen Moment versank er in müßigen Erinnerungen, dann kaufte er eine Schachtel Zigaretten und zündete sich eine an. Waren sie wirklich zu ihm nach Hause gekommen? Oder hatte sich seine Frau schon im Voraus zu sehr geängstigt und irgendwas falsch verstanden? Die Lage direkt nach der Revolution war zugegebenermaßen sehr kritisch, aber warum wollten sie ausgerechnet ihn, den Oberleutnant des Heeres a. D., festnehmen, grübelte er. Trotzdem, seine Frau wird sich schon nicht geirrt haben; denn was ihn anging, den Oberleutnant a. D., hatte sie niemals gezweifelt. Ihm kam der Gedanke, es könnte womöglich ein Fehler gewesen sein, das Haus zu verlassen, ohne sich zuvor über die genauen Umstände informiert zu haben.
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