Der Duft der Kindheit Erzählung von Feng Li |
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Aus dem Chinesischen übersetzt von Dorothee Schaab-Hanke |
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Reihe Phönixfeder 5 |
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Aus der Perspektive eines kleinen Mädchens beschwört die Ich-Erzählerin eine Kindheit im Nordosten Chinas während der 60er und frühen 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. In 32 „Gesängen“ versetzt sie sich zurück in ihre eigenen Wahrnehmungen und Reflexionen während der Zeit, als sie selbst noch ein Kind war. Der politische Hintergrund, vor dem sich diese Kindheit abspielt – die Zeit der chinesischen Kulturrevolution –, wird in diesen Erinnerungen zwar nicht ausgeblendet, doch geht es der Autorin vor allem um etwas anderes: Sie spürt der Intensität von unmittelbarer Lebensfreude und jähem Kummer, der Aufrichtigkeit und Unverfälschtheit kindlichen Erlebens nach und versucht, die einzigartige, unwiederbringliche und zugleich universell gültige Phase des Kindseins jenseits des politischen Geschehens in ihre Feder zu bannen. Gegenüber der in China 2004 unter dem Titel Buxiang zhangda 不想长大 („Ich möchte nicht erwachsen werden“) publizierten Fassung hat Feng Li für die hier vorgelegte zweisprachige Ausgabe den chinesischen Text leicht überarbeitet. 17 Tuschezeichnungen und Kalligraphien, die Zhai Yaofei 翟躍飛 eigens für diese Ausgabe angefertigt hat, illustrieren den Text. Feng Li 冯丽 (geb. 1963), die in China unter dem Pseudonym Pipi 皮皮 (inspiriert von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf) veröffentlicht, lebt in Shenyang, wo sie eine Professur für Literaturwissenschaft innehat, sowie in Berlin. Seit den 1980er Jahren schriftstellerisch tätig, hat Feng Li bereits mehrere Romane geschrieben, die in China Bestseller wurden. Ihr erster in deutscher Sprache vorliegender Roman – Suowei xiansheng („Ein vermeintlicher Herr“) –, übersetzt von Ulrich Kautz, ist ebenfalls beim OSTASIEN Verlag erschienen. |
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Vorbemerkung der Übersetzerin | |
Buxiang zhangda, „Ich möchte nicht erwachsen werden“, lautet der Titel, den die Autorin Feng Li alias Pipi (in Anlehnung an Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf) ihrer Erzählung gegeben hat, die streng genommen eigentlich keine Erzählung ist. Die aus 32 „Gesängen“ bestehende Folge bindet kurze Episoden zusammen, in denen eine Ich-Erzählerin den Leser teilhaben lässt an den Wahrnehmungen, Gefühlen und Reflexionen des kleinen Mädchens, das sie selbst einmal war. Dieses kleine Mädchen ist in den ersten dieser Geschichten drei oder vier Jahre, in den späteren sechs oder sieben Jahre alt. Eine besondere Rolle kommt in den Erinnerungen des kleinen Mädchens bestimmten Gerüchen zu. Jede Jahreszeit hatte ihre eigenen, ganz besonderen Gerüche, etwa den nach feuchter Erde beim Gummitwist-Spielen im Frühling, den nach zerquetschten reifen Tomaten auf den Tischen der Verkaufsstände im Sommer, den nach schweißigen Kinderfüßen bei den Wettspielen im Herbst oder auch den nach Heu und alten Landarbeitern, den in frostiger Kälte vorbeifahrende Karren im Winter hinterließen. Alle diese an Düfte gebundenen Erinnerungen lassen die Ich-Erzählerin zurückkehren zu Orten, Menschen und Begebenheiten ihrer Kindheit, einer Kindheit in den 60er und frühen 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Nordosten Chinas. In China herrschte damals, von 1966 bis 1976, die „Große Kulturrevolution“. Für die noch junge Volksrepublik und die Chinesen waren das keine einfachen Jahre; für die große Mehrzahl waren es Jahre des Mangels, für viele war das auch eine Zeit persönlicher Verfolgung. Doch würde man den Sinn dieser Erzählung verfehlen, wenn man glaubte, ihr nun viele Informationen über die Kulturrevolution selbst entnehmen zu können. Zwar spielt die Handlung erkennbar in der Stadt Shenyang, was man etwa daraus entnehmen kann, dass die drei großen paramilitärischen Verbände, die es dort während jener Jahre gab, an einer Stelle erwähnt werden. Insgesamt enthalten die Geschichten jedoch nur wenige Hinweise auf politische Ereignisse, und das ist ja auch kein Wunder: Ein Kind in diesem Alter versteht nun mal wenig von Politik. Was dem Kind hingegen als bedeutungsvoll erschien, das wird in diesen Episoden mit viel Liebe zum Detail geschildert. Oft sind es Kleinigkeiten, oder genauer gesagt: Es sind die kleinen Freuden und Besonderheiten, die einen ansonsten eher bescheidenen Lebensalltag verschönen und versüßen: Das waren beispielsweise die saftigen Hefeklößchen in einem nahegelegenen Restaurant, in deren Genuss man erst nach langem Anstehen kam; das war aber auch der Besitz von Bleistiften mit integriertem Radiergummi, die einen besonders süßen Duft verströmten; zum Glücklichsein bedurfte es nicht teurer Geschenke, sondern es genügte schon, wenn man nach einem starken Regenguss im neuerlichen Sonnenschein in die Pfützen trat, die sich in den Rinnsteinen neben den Straßen gebildet hatten, so dass einem das Wasser an den Beinen hochspritzte Auch der nur behelfsmäßige Charakter von Grundschulen jener Zeit ist Gegenstand einer dieser Episoden, die der Erzählerin als besonderes Erlebnis in Erinnerung geblieben ist: Da es keine normalen Tische oder Stühle gab, mussten damals alle Kinder jeweils zwei Hocker – einen höheren und einen niedrigeren – mit sich tragen, die dann als Tisch und Stuhl im Unterrichtsraum aufgestellt wurden. Doch obwohl das eine arge Plackerei war, nahmen die Schüler die regulären Tische und Stühle, die sie später dann in einer normalen Schule vorfanden, gar nicht als Erleichterung wahr. Der materiellen Verbesserung wurde nicht mehr Bedeutung beigemessen als einem „Aschefleck auf der Hose“; denn, so die Botschaft am Ende des 30. Gesangs: Für Bequemlichkeit hatten wir keinerlei Empfinden; damals, als wir keine Ansprüche hatten, hatten wir es sehr bequem. Auch die Entscheidung der Autorin, den 32 Episoden dieses Buches die Bezeichnung „Gesänge“ zu geben, geschah gewiss mit Bedacht. Auch wenn es in den Gesängen weder Verse noch Reime gibt, hat jede der Geschichten etwas Lyrisches, vergleichbar den Strophen eines Kinderlieds. Und irgendwo gegen Ende dieses vielstrophigen Lieds fragt sich die Erzählerin, ob ihre Kindheit etwa irgendwann ihr letzter Trost sein werde. *** Ich möchte mich an dieser Stelle gern bei drei Frauen bedanken, die an der Entstehung dieser Ausgabe maßgeblichen Anteil haben. Als erstes danke ich Frau Dr. Wu Xiujie, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle an der Saale, die den ersten Kontakt zu Feng Li vermittelt und später mein Interesse an dem Manuskript von Buxiang zhangda geweckt hat. Sodann danke ich Frau Dr. Guo Lanfen, Lektorin am sinologischen Institut der Universität Freiburg. Nach einem anstrengenden Semester war sie bereit dazu, die Rohübersetzung dieses Buchs auf ihre Reise in die Mongolei mitzunehmen und mir von dort aus verschiedenen Hotels oder Internet-Cafés ihre Korrekturen zuzuschicken. Und schließlich danke ich der Autorin selbst, Feng Li, dafür, dass sie sich die Zeit genommen hat, mit mir über ihr Buch zu sprechen. Von den langen Telefonaten mit ihr profitierte nicht nur meine Übersetzung; ich durfte dabei auch einiges über sie selbst erfahren. So kann ich nunmehr mit Bestimmtheit sagen, dass diese kleinen Geschichten – auch wenn die Ich-Erzählerin im Buch entschieden jedwede Verbindung zwischen sich und dem kleinen Mädchen abstreitet – doch ganz unverkennbar autobiographische Züge tragen. Dorothee Schaab-Hanke |
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Leseprobe (S. 198–203) | |
第十二支歌︰邻居刘大爷 刘大爷是邻居。个子高高的,有很多儿女,六个还是七个,我记不清了,他可能也记不清了。我妈妈说他很傻,快四十岁才生第一个孩子,居然生了这么多。 |
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12 Nachbar Onkel Liu Onkel Liu war ein Nachbar. Er war recht hoch gewachsen. Er hatte sehr viele Kinder, sechs oder sieben. Ich wusste es nicht so genau. Vielleicht erinnerte er sich auch schon nicht mehr so genau. Meine Mama meinte, er sei ein großer Dummkopf: Mit fast vierzig Jahren erst wurde ihm das erste Kind geboren, und dann wurden es noch so viele. Die Miene, die Onkel Liu machte, wenn er mit seinen Kindern sprach, war allen gegenüber gleich, nämlich ärgerlich. Selbst wenn es keinen Grund gab, war er ärgerlich. Kein Mensch verstand, warum er so viele Kinder haben wollte und dabei noch ständig ärgerlich war. Auch Onkel Lius Art, mit seinen Kindern zu sprechen, war immer ungefähr die gleiche, und zwar blaffte er sie immer sofort an. Zu seinem Ältesten sagte er gern: „Was ist denn nun wieder los? Bist du ein Dummkopf?“ Zum Zweitältesten sagte er gern: „Hast du dich schon wieder geprügelt? Früher oder später wirst du dabei noch ums Leben kommen!“ Zu Nummer drei, Nummer vier und Nummer fünf, alles Mädchen, sagte er gern: „Bei euch Weibern zahle ich immer nur drauf!“ An Nummer sechs oder gar Nummer sie-ben kann ich mich gar nicht erinnern. Das kleinste Kind allerdings war ein Sohn, und der war Onkel Lius Liebling. Als dieser kleine Kerl gerade sprechen konnte, war Onkel Lius Haar bereits weiß und spärlich. Zu seinem Jüngsten sagte er gern: „Na du kleiner Wicht; bis du erst mal groß bist, werde ich schon tot sein – dich verwöhne ich ganz vergeblich!“ Niemand weiß, warum Onkel Liu immer so ein ernstes Gesicht hatte. Nachts hielt er Wache in einer Lagerhalle, am Tage kehrte er nach Hause zurück, um Schnaps zu trinken. Sein Gesicht war immer ganz rot, doch er lachte nie. Einmal lachte er doch, und weil das so selten war, erinnern wir uns alle noch daran. Er brachte einen Brief zu dem grünen Kasten am Straßenrand. Doch er erhielt darauf niemals einen Antwortbrief. Er wartete voller Ungeduld auf diesen Antwortbrief. Da fragte er seine Tochter, die zur Schule ging: „Was ist da wohl passiert?“ Seine Tochter sagte zu ihm: „Die grüne Tonne da ist kein Briefkasten, sondern eine Mülltonne. Da musste Onkel Liu lachen; er lachte sehr schallend. Dann meinte er: „Das war wirklich verdammt witzig!“ |
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