OSTASIEN Verlag
  Kontakt
  Reihen
  Zeitschriften
  Gesamtverzeichnis
  Impressum
   
 
Revolutionäre Jugend
 
   
Lao Li
 
   
Erinnerungen an Xiaoyan
 
   
(Teil 1)
 
   

(D1)

Xiaoyan ging wieder zur Arbeit, aber unsere Streiterei hörte nicht auf.

Ende Februar sollte Jiu in den Nordosten zurück. Wir gingen alle zusammen essen. Xiaoyan saß mir gegenüber; wahrscheinlich weil wir uns gerade tags zuvor gestritten hatten, war ich trüber Stimmung und trank viel.

Jiu sollte mit einem Zug am Nachmittag fahren. Damals konnte man mit einer Fahrkarte höchstens zwei Bahnsteigkarten kaufen, es wollten ihn aber viele zum Zug begleiten. Deshalb sagte ich am Vormittag, ich wollte zum Hauptbahnhof, um irgendeinen Weg zu finden. Ganz unerwartet wollte Xiaoyan mit mir zusammen zum Bahnhof gehen; davor hatten wir uns schon längere Zeit nicht mehr angesehen.

Am Bahnhof konnten wir uns mehrere Bahnsteigkarten beschaffen.

Zurück wollte Xiaoyan mich in der U-Bahn mitnehmen. Damals war die U-Bahn noch nicht lang in Betrieb. Fahrkarten konnte man nur mit einem Arbeitsnachweis kaufen, und ich hatte nicht einmal eine Zuzugsgenehmigung, natürlich war ich noch nicht U-Bahn gefahren. Vom Hauptbahnhof fuhren wir bis zur Endstation in der einen Richtung und dann zurück bis zum Xuanwumen. Unterwegs stiegen wir noch mehrmals aus und sahen uns die Warteräume an.

Während wir auf einen Zug warteten, stand Xiaoyan immer an der Bahnsteigkante.

Als wir Jiu an den Zug gebracht hatten, vertrugen wir uns wieder. Xiaoyan sagte mir, eben habe sie sich überlegt, vor den einfahrenden Zug zu springen.
„Aber ich hatte Angst. “

(D2)

Nach einigen Tagen stritten wir uns wieder, ich ging eine Woche lang nicht zu ihr; ich dachte, wenn wir uns weiter immer streiten, ist das nicht auszuhalten; wenn sie sich nicht ändert, soll’s halt gehen, wie sie’s will.

Zuhause hatte ich nichts zu tun, ich stellte eine Maltafel auf und malte eine Fotografie von ihr nach.

Eines Mittags kam sie und sah ihre Fotografie; sie sagte, sie habe gedacht, ich hätte die schon verbrannt.

Sie schien sich nicht wohl zu fühlen. Ich sagte, sie solle sich etwas ausruhen, sie zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche.
„Du rauchst? “, fragte ich.

Sie nickte: „Hast Du nicht gesagt: ‘Tabak ist brav, besser als ein Freund’? “

Verflixt. Das war ein Satz aus Remarques „Zeit zu leben und Zeit zu sterben “. Sie hatte mich mal ermahnt, mit dem Rauchen aufzuhören, da hatte ich das zitiert. Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich noch daran erinnerte.

Sie kam auf den Tod zu sprechen. Ich wollte, dass sie lebte, dass sie für die Menschen, die sie liebten und für die Menschen, die sie hassten, weiterlebte.

Sie sagte, jetzt gebe es noch Menschen, die sie liebten, und Menschen, die sie hassten; zu sterben, wenn keiner mehr an sie denke, sei zu spät.

Der Gedanke an den Tod war immer um sie; sie redete und redete. Zuletzt sagte ich, wenn gestorben werden soll, lass uns zusammen sterben.

Für den Vormittag des nächsten Tags hatten wir uns bei Manzi verabredet. Als sie mich sah, zog sie mich nach draußen und fragte: „Möchtest du noch sterben? “

Draußen war herrliches Wetter.

Ich sagte: „Ich möchte nicht sterben. “

Sie sagte: „Ich möchte auch nicht sterben. “

Von da an, bis sie mich schließlich verließ, hat sie den Tod nicht mehr erwähnt.

(D3)

Wer nicht stirbt, muss leben.

Xiaoyan tadelte mich, ich „denke nicht an die Zukunft “.

Das habe ich selbst gesagt und eine halbgare Theorie dazugegeben.

Xiaoyan sagte, nicht an die Zukunft denken heiße, es gebe keine Zukunft. Man müsse daran denken und müsse auch handeln.

Sie ermahnte mich, zurück nach Shanxi zu gehen. Wenn ich nicht herversetzt werden könne, dann könne sie dorthin nachkommen.

Von allem, was sie sagte, habe ich nicht einen Satz akzeptiert.

Diesen Prozess über „nicht an die Zukunft denken “ haben wir bald einen Monat lang geführt; zuletzt haben wir uns Ende März eines Abends im Jiexin-Park hinter dem Denkmal getroffen; sie wollte mich immer noch überzeugen, dass es nicht gehe, nicht an die Zukunft zu denken.

Ich blieb stur bei meiner Meinung.

Sie schwieg lange; drückte mir einen Brief in die Hand; den solle ich erst zu Hause öffnen.

Sie wollte, ich solle sie nach Hause begleiten.

Das tat ich nicht.

Sie ging. Ich öffnete ihren Brief.

Er war nicht lang; sie sagte, sie könne nicht mehr mit mir zusammen sein.

Die ältere Tante sage, sie solle nicht mit einem „arbeitslosen Jugendlichen “ zusammensein, die dritte Tante tadele sie, weil sie nicht gut arbeite, und ich „dächte nicht an die Zukunft “; was solle sie tun?

Also müssten wir uns trennen.
„Ich wünsche Dir Glück. “

(D4)

Nachdem Xiaoyan gegangen war, fühlte ich mich sehr schlecht.

Ich schrieb ihr, wollte sie wiedersehen; sie antwortete nicht und kam auch nicht.

Ich konnte einige Tage nicht still sitzen, und ich wusste auch nicht, wohin gehen..

Als ich begriff, dass sie nicht zurückkommen würde, wurde ich wild; ich nahm die Fotos, die sie mir gegeben hatte, ihre Briefe und sogar jenes blassrosa Taschentuch und die schwarzen Blüten und verbrannte das alles.

(D5)

Etwa drei Monate danach saß ich daheim mit Freunden zusammen, wir redeten und lachten, als Gong Xiaoji dazukam.

Er setzte sich und saß lange und schwieg. Schließlich zog er mich zur Seite und sagte mir leise, was er von H. gehört hatte:

Xiaoyan war geisteskrank geworden.
„Ein Messer wurde mir ins Herz gestoßen, aber es kam kein Blut. “

 
—> (Teil II, A)