OSTASIEN Verlag
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Revolutionäre Jugend
 
   
Zhang Langlang
 
   
1   Ruhiger Horizont
 
   
(5)
 
   

Ich war an die hundert Tage in der Todeszelle, habe auf der rasiermesserscharfen Schneide zwischen Leben und Tod hundert Tage durchgestanden. In einer Nacht Anfang Mai träumte ich wieder. Immer noch war ich in dem absaufenden U-Bahn-Tunnel. Zentimeter um Zentimeter stieg das tödliche Eiswasser, verschlang mich, ich konnte kaum noch atmen, war dem Tode nah. Und in diesem Augenblick fegte plötzlich durch den Tunnel ein Sturm, das Wasser sank rasch, ich riss den Mund weit auf und sog tief die frische Luft ein. Vom Grund her stieg ein Dröhnen auf, mit dem die riesigen Stahlträger, Brocken, Pfosten sämtlich in den brausenden Wassern weggerissen wurden. Ich wusste, dies war der Sturm des Lebens. In überschäumender Freude erwachte ich, seit drei Monaten war ich nicht mehr so aufgewacht, ich konnte das alles nicht fassen, dachte: vielleicht ist Sun Xiuzhen noch nicht fortgegangen? Können wir uns wieder einmal sehen? Nur eine Hoffnung…

Eines Tags wurde ich plötzlich rausgeholt, wieder ins Verhörgebäude.

Als ich in die Todeszelle gesperrt wurde, hatte es Tag für Tag mal gestürmt, mal geschneit. Jetzt blühten draußen die Pfirsiche, die Weiden zeigten das erste Grün. Ich kniff die Augen zusammen und sah in den Glanz der so lang entbehrten, mir fremd gewordenen Welt.

Ich schob meine Fußkette in den Verhörraum und stand vor einem Dutzend Beamter. Ich dachte, na endlich! na endlich! Aber was soll jetzt dieser Aufzug?

In der Mitte saß ein älterer Offizier. Er schien etwas Besonderes zu sein.[1] Er sah mich freundlich an und fragte:

„Zhang Langlang, was macht dein Studium die letzte Zeit? “

Wer vor dem Tod steht, hat wohl kaum Lust zu studieren. Aber vielleicht fragte er so, weil sich die Dinge gewendet hatten? Vielleicht konnten wir jetzt normal miteinander sprechen? Wenn er mich nur nicht bedrängte, andere zu verpfeifen, war mir jedes Thema recht.

„Jedenfalls studier’ ich Maos Werke, wenn sonst nichts Besonderes ist. “ Auch sie wussten, wir hatten nur dies eine Buch.

„Was hast du denn da studiert? Nun erzähl mal. “ Der Ton macht die Musik, wie hätte ich das nicht verstanden, so lange wie ich hier eingesperrt war. Er wollte mir eine Brücke bauen. Ich konnte schlecht davor stehen bleiben oder zurückweichen.

Ich sagte langsam: „In letzter Zeit habe ich den ‘Brief an Du Biming und andere, um sie zur Kapitulation zu drängen’ gelesen, und ‘Die Revolution zu Ende führen!’ und dann noch ‘Farewell, John Leighton Stuart!’[2], ferner…

„Was hast du denn bei deiner Lektüre gelernt? “

„Ich habe eines verstanden: Die kommunistische Partei hat Tschiang Kaischeks Acht-Millionen-Mann-Armee vernichtet. Was kann ein Schüler mit leeren Händen wie ich da schon ausrichten? “

„Wie es aussieht, hast du bei deinem Studium doch gewisse Fortschritte gemacht. “ So hätte bis dahin kein Untersuchungsbeamter reagiert. Aber wenn sie wollten, dass du recht hattest, dann hattest du eben recht, was du auch gesagt hast. Wenn sie wollten, dass du Unrecht hattest, konntest du mit deiner Weisheit den Himmel einstürzen lassen, es brachte nichts.

„Du hast in der letzten Zeit auf den Kampf- und Kritikversammlungen ja eine anständige Haltung gezeigt. Du hast brav studiert und dabei auch was gelernt. Deshalb wird heute beschlossen: Du kommst aus der Todeszelle in ein normales Gefängnis zurück. “

Himmel! Ging die Sonne jetzt im Westen auf? Ich dankte ihm eilends, dankte ihm von ganzem Herzen und von ganzer Seele.

„Danke, danke, vielen Dank, ich bin Ihnen so dankbar, so außerordentlich dankbar! “

„Mir musst du nicht dankbar sein, du musst dem Vorsitzenden Mao dankbar sein, du musst der Partei dankbar sein. Ich persönlich kann solche Entscheidungen nicht treffen. “

Ich beeilte mich, nochmals denen zu danken, denen ich dankbar sein musste.

Der ältere Offizier sagte: „Bisher war der Weg in die Todeszelle eine Einbahnstraße. Von da kam niemand zurück. Alles, was die Todesstrafe betrifft, ist Staatsgeheimnis. Wir nehmen dir heute Handschellen und Fußkette ab und schicken dich in ein normales Gefängnis. Aber Handschellen und Fußkette bleiben parat. Wenn du dich nicht wirklich besserst, können wir sie dir jederzeit wieder anlegen und dich zurückholen. Hast du das verstanden? “

„Hab ich, hab ich verstanden! “ Er hätte an diesem Tag sagen können, was er wollte, nichts hätte meine wilde Freude getrübt. Die Sonne dieses Tages leuchtete so wunderbar!

An diesem Tag kämpfte ich mich vom Grund wieder an die Wasseroberfläche, flog hoch über sie hinaus, sah die Sonne, die Ufer des Meeres der Bitternis – den ruhigen Horizont meines Lebens.

Als die Haft hinter uns lag, hörte ich von Sieben: Die zuständige Stelle hatte zweimal beschlossen, uns zu erschießen, aber zuletzt hatte Zhou Enlai* dazu vermerkt: „Zeugen am Leben lassen “ (留下活口) und uns mit diesen vier Zeichen gerettet. Je zwei Zeichen für ein Leben. Und der Mann, der uns aus der Todeszelle geholt hatte, war Li Zhen* gewesen, damals Polizeiminister. Leider waren, als ich aus der Haft kam, die beiden Herren, Zhou und Li, schon von uns gegangen, und ich, der ich mich weiter durchs Leben schlage, weiß nicht, wem ich danken soll.

[1]    Da Uniformen damals keine Rangabzeichen hatten, konnte man seine Bedeutung zumindest vom Äußeren her nicht sogleich erkennen.
[2]    Diese Aufsätze stammen aus den Jahren 1948–1949, der Zeit des Endkampfs und Siegs der KPCh über die Guomindang. Stuart, in China aufgewachsen, war bis 1945 Rektor der Yenching-Universität, dann bis 1949 Gesandter der USA in China, setzte sich bis zuletzt für einen Ausgleich zwischen Mao und den USA ein. Mao verhöhnt ihn als gescheiterten US-Agenten.

 
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