Die 16 Kurzgeschichten, die Luo Lingyuan in diesem Band vereint, offenbaren den unbeugsamen Willen der Menschen, zu überleben und vorwärtszukommen,
und bringen dabei die Abgründe der menschlichen Psyche ans Licht. Verzweifelte Bauern; ein frustrierter Student; Frauen, die sich verkaufen müssen; Polizisten bei einer Razzia;
ein Pilger … Ganz unterschiedliche Menschen, teils aus China, teils aus Deutschland, begegnen uns hier. Sie suchen nach Halt und nach Glück und werden an die Grenzen
ihrer Leidensfähigkeit getrieben. Mit nur wenigen Worten gelingt es der Autorin, den Leser unmittelbar in das Leben der Menschen hineinzuziehen.
Luo Lingyuan, deutsch-chinesische Schriftstellerin, geb. 1963 in Jiangxi, V.R. China, studierte in Shanghai Computerwissenschaft an der Jiaotong-Universität
und Journalistik an der Fudan-Universität. Das erste Fach schloss sie mit dem Bachelor, das zweite mit dem Master ab. 1990 folgte sie ihrem Mann nach Berlin,
wo sie zunächst unterschiedliche Jobs angenommen hat. 1995–1996 studierte sie an der Humboldt Universität Berlin Übersetzungswissenschaft Deutsch-Chinesisch
sowie klassische chinesische Literatur.
Zwischen 1992 und 2004 schrieb sie für verschiedene chinesische Literaturzeitschriften Kurzgeschichten, von denen ein Teil in zwei Erzählbände einging.
Der erste Band, »Niuyue de lianrenmen« 纽约的恋人们 (Die Liebenden von New York), ist 1995 beim Huaqiao-Verlag China in Peking erschienen,
der zweite Band, »Huaren nüzuojia haiwai xiaoshuoxuan« 华人女作家海外小说选
(Übersee-Erzählungen von chinesischen Autorinnen), 1996 beim Zhuhai-Verlag in Zhuhai, China.
1996 veröffentlichte sie erstmals bei einer deutschen Literaturzeitschrift eine Erzählung mit dem Titel »Ein zarter Bambusspross«.
Danach erschienen auf Deutsch vier Romane, darunter »Die chinesische Delegation« (dtv, 2007), und zwei Sammlungen von Erzählungen und Kurzgeschichten.
Für ihren Erzählband »Du fliegst jetzt für meinen Sohn aus dem fünften Stock!« (dtv, 2005) erhielt sie den Chamisso-Förderpreis 2007.
2017 erhielt sie den Erfurter Stadtschreiber-Literaturpreis. |
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Nachwort
Bücher haben mich von klein auf fasziniert. Gedichte, Essays, Märchen, Erzählungen, dicke Romane … Ich verschlang alles, was ich zwischen die Finger bekam. Beim Mittag- oder Abendessen zog ich mich regelmäßig mit meiner Schale Reis in der einen und einem Buch in der anderen Hand ins Nebenzimmer zurück, um beim Essen ungestört lesen zu können. Hätte meine Mutter mich (als das älteste von fünf Geschwistern) nicht täglich mehrmals an meine Pflicht erinnert, das Geschirr abzuwaschen, die Wohnung sauber zu halten, die Hühner zu füttern und auf meine Geschwister aufzupassen, hätte ich mich auch nach dem Essen nicht von meiner Lektüre getrennt. Jedes Buch entführte mich in eine andere Welt, und ich ließ es nur zu gern geschehen. Dass ausgerechnet meine Leseleidenschaft meiner jüngsten Schwester „Fliegender Sonnenschein“ ein Leid zugefügt hat, das tut mir noch heute weh.
Zur Leselust gesellte sich bald auch die Schreiblust. In der Realschule vertraute ich meinem Tagebuch Gedichte und Aufzeichnungen an. Als ich zum Informatik-Studium nach Shanghai kam, schrieb ich in meiner Freizeit Erzählungen. Zuerst nur für mich selbst, doch dann spürte ich den Drang nach außen und nahm an einem Campus-Literaturwettbewerb teil. Es muss im Sommer 1981 gewesen sein, als ich den dritten Preis für eine Erzählung entgegennahm. Ich erinnere mich noch heute an die sengende Hitze auf meiner Haut. Damals wusste ich, dass ich niemals aufhören würde zu schreiben. Als man mir die Mitarbeit an der Campus-Literaturzeitschrift anbot, ging ich mit Begeisterung darauf ein. Ich lieferte nicht nur eigene Beiträge, sondern trieb auch meine Kommilitonen an, Literarisches zu versuchen. Damit hatte ich relativ wenig Erfolg, doch ich selbst schrieb kontinuierlich weiter, als wäre ich eine aufgezogene Uhr. Dennoch fühlte ich mich jung und unreif und schickte keinen einzigen Text zur Veröffentlichung außerhalb unseres Blattes.
Das Studium habe ich mit Erfolg abgeschlossen, aber gleichzeitig wurde mir klar, dass ich nicht für die Informatik geschaffen war. Elektronische Geräte und Computer haben die VR China zu einer führenden Wirtschaftsnation gemacht und vielen meiner Kommilitonen zu einem gewissen Wohlstand verholfen. Aber meine Leidenschaft lag bei der Literatur. Ich wollte schreiben.
Aber Erzählungen und Romane – das ist in China nicht anders als hier in Deutschland – machen niemanden reich. Im Gegenteil: Ihre Schöpfer sind traditionell arm geblieben, auch wenn ihre Werke die Menschen seit Jahrhunderten in ihren Bann schlagen. Mein geliebter und verehrter Meister Luo Guanzhong (1320–1400), dessen historischer Roman „Die Drei Reiche“ zu den fünf populärsten chinesischen Klassikern zählt und bis heute von allen Chinesen gern gelesen wird, hätte sein Meisterwerk wahrscheinlich nicht schreiben können, wenn sein Vater kein erfolgreicher Kaufmann gewesen wäre.
Da meine Eltern Lehrer und durchaus nicht reich waren, brauchte ich einen Brotberuf, um weiter schreiben zu können. Also machte ich 1986 eine weitere staatliche Aufnahmeprüfung, die mir einen Studienplatz verschaffen sollte. Und wieder hatte ich Glück: Ich wurde zum Journalistikstudium an der Fudan-Universität in Shanghai zugelassen. Da ich zuvor zwei Jahre lang an der Jiangxi-Universität als Assistentin gearbeitet hatte, kam ich in den Genuss des staatlichen Förderprogramms für Aspiranten und Doktoranden, und mein bescheidenes Gehalt von 68 Yuan monatlich wurde weiterbezahlt. Zwar konnte ich mir damit in Shanghai nichts leisten, aber die stark subventionierte Mensa bot täglich drei Mahlzeiten an, so dass ich nicht hungern musste. Mein Zimmer im Studentinnenwohnheim musste ich mir jetzt nicht mehr mit sieben, sondern nur noch mit drei anderen Mädchen teilen. Studiengebühren mussten wir damals nicht zahlen, und ich malte mir eine goldene Zukunft aus: Für Berichte und Reportagen würde ich durchs Land reisen, Menschen kennen lernen und Geschichten für meine Erzählungen sammeln. Eine aufregende, vielversprechende Zeit stand bevor.
Aber das Schicksal hielt eine Überraschung für mich bereit. Ich lernte im Lesesaal der Bibliothek zufällig einen deutschen Studenten kennen, wir verliebten uns ineinander und übersetzten nebenbei Canetti ins Chinesische. Nach dem Examen heirateten wir, und ich zog Anfang 1990 mit ihm nach Berlin. Wir bezogen eine Einzimmerwohnung in Kreuzberg, die uns ein Freund meines Mannes besorgt hatte.
Dann kam ein furchtbarer Schock! Von einem auf den anderen Tag hatte ich meine Sprache verloren. Es gab (außer meinem Mann und ein paar Studienfreunden von ihm) niemanden, mit dem ich hätte reden können. Und mit meinem wenigen Deutsch konnte ich keinen einzigen Satz auf der Straße verstehen. Zwar stammelte ich jeden Tag irgendein Kauderwelsch vor mich hin, aber ich hätte auch stumm wie ein Fisch bleiben können. Ich nahm einen Job als Zimmermädchen an und ging jeden Tag nach der Arbeit zur Volkshochschule, um Deutsch zu lernen. Aber es dauert lange, bis man Herr einer Fremdsprache wird. Vor allem wenn sie so ganz anders ist als die Muttersprache.
Die Sprachlosigkeit und die Isolation zwangen mich weiter zum Schreiben. Ich verfasste Erzählungen und Essays in chinesischer Sprache und schickte sie an Literaturzeitschriften in China. Es kam zu einigen Veröffentlichungen, so dass ich meinen Schock allmählich überwand.
Deutsche Literatur wie den „Faust“, „Die Räuber“, „Die Dreigroschenoper“, „Berlin Alexanderplatz“ oder die „Kinder vom Bahnhof Zoo“ hatte ich bis dahin nur in chinesischer Übersetzung gelesen, aber sobald mein Deutsch Fortschritte machte, begann ich Erzählungen, Romane, Biografien und Märchen auf Deutsch zu lesen. Bis auf den heutigen Tag gehe ich einmal wöchentlich in die Amerika-Gedenkbibliothek und packe meine Tasche mit Büchern und Hörbüchern voll.
Ein frühes Leseerlebnis ist mir in Erinnerung geblieben: der Erzählungsband von Raymond Carver „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“. Die prägnante Sprache, die scharfsinnigen Beobachtungen über die amerikanische Unterschicht … Ich war beeindruckt von der Leistung des Autors und las die Storys immer wieder. Aber auch Märchen und deutsche Autoren waren eine Entdeckung. Zum Beispiel Wolfgang Borchert mit seiner Kurzgeschichte „Das Brot“. Wie er mit wenigen Worten den hungernden Ehemann darstellt, habe ich nie vergessen. Für mein eigenes Schreiben wurden diese Kurzgeschichten zu Vorbildern.
2005 veröffentlichte der Deutsche Taschenbuchverlag meinen ersten auf Deutsch geschriebenen Erzählband „Du fliegst für meinen Sohn aus dem fünften Stock!“ Es war, als wäre ein Damm gebrochen. Ich stürzte mich in die Arbeit, und als ich 2007 den Chamisso-Förderpreis der Robert-Bosch-Stiftung erhielt, wurde mein Schreibeifer noch größer. In rascher Folge entstanden vier Romane, die teils in China und teils in Deutschland spielen. Für meine Leserinnen und Leser war es wohl interessant, etwas über die Menschen in dem großen, aber wenig bekannten Land in Asien zu erfahren, das jedes Jahr wichtiger für die Deutschen wurde und immer engere Beziehungen zu uns entwickelte. Für mich selbst war Deutschland genauso exotisch und spannend. Ich lernte jeden Tag neue Menschen kennen, von Lebenskünstlern und prekären Existenzen in Kreuzberg, die wilde Träume hatten und dabei am Rande des Nichts lebten, bis zu Wissenschaftlern und Politikern in hohen und höchsten Ämtern.
Ich liebe es, Romane mit vielen Figuren und spannender Handlung zu konstruieren, aber auch kurze, kleine Geschichten sind eine Versuchung für mich, der ich nicht widerstehen kann. Nicht nur die kurze Form, sondern vor allem die Herausforderung, ein ganzes Schicksal in wenigen Zeilen knapp zu umreißen, ziehen mich magisch an. Eine Freundin, die einfach verschwindet, ein kleiner Bericht in der Zeitung – fast jeden Tag gibt es ein Ereignis, auf das ich reagieren und das ich verarbeiten muss.
Die Erzählungen „Alles was wir tun, führt nur zur Groteske“, „Die Geburt des Teufels“ oder „Gelbe Seide“ stehen in der Tradition meines ersten Erzählbandes, aber auch mein Leben in Berlin und mein Aufenthalt als Stadtschreiberin in Erfurt haben ihre Spur im vorliegenden Band hinterlassen. Von der jungen Frau aus „Nachts um drei klingelt es“ habe ich bis heute nichts wieder gehört.
Da ich seit Jahren als Journalistin unterwegs bin, habe ich auch einige Reportagen hier aufgenommen. „Ich gehe nicht ins Dorf zurück“ oder „Der Mann vom Wind“ erzählen von realen Erlebnissen. Natürlich kann die Erzählerin in mir nicht alles wiedergeben, was sie als Journalistin erfährt, aber ich denke, man spürt, wieviel Tragik die Oberfläche des Lebens verbirgt.
Die Fabel vom Bär und vom Affen habe ich für meine Tochter geschrieben. Heute ist sie eine fleißige Studentin, aber als Kind war sie unersättlich bei Tiergeschichten und ich wollte ihr mit diesem Märchen ganz einfach zeigen, dass Ost und West zusammengehören.
„König Yama“ ist eine Kindheitserinnerung. Sie spielt in den 70er Jahren während der „Großen Kulturrevolution“, die alle Traditionen des alten China zerstören sollte und großes Leid über Millionen Chinesen gebracht hat. Wie sich das Spannungsfeld zwischen vermeintlichem Fortschritt, Aberglauben und Verbrechen im Kopf eines Kindes spiegelt und Menschen in Angst versetzt, ist Gegenstand dieser Geschichte, die mir sehr am Herzen liegt.
Ich danke Olivia Kraef-Leicht, die mir seit Jahren eine gute Freundin ist und auch den Kontakt zum Ostasienverlag hergestellt hat, und ich danke auch meiner Verlegerin Dorothee Schaab-Hanke, die mir gleich nach dem Lesen der ersten Geschichte eine positive Meldung geschickt und mir Mut gemacht hat. Ohne sie wäre das Buch nicht entstanden.
Berlin, im Juli 2018 |
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