Heimat Roman von Yi Kiyong |
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Aus dem Koreanischen übersetzt von Heike Lee und Lee Tae Hoon |
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Reihe Phönixfeder 11 |
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Korea in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Die Zeit ist aufregend, eine Periode des Umbruchs. Seit 1910 ist Korea japanische Kolonie, die Provinz Chōsen. Die Transformation der gesamten Gesellschaft ist in vollem Gange, als Hijun – Hauptfigur des Romans und in vielerlei Hinsicht Alter Ego des Autors – in seinem Heimatdorf eintrifft und sich begeistert daran macht, die Bauern für die neuen Ideen der Modernisierung zu begeistern. Ernüchterung ist vorprogrammiert, wenn mit jahrhundertealten Traditionen gebrochen werden soll. Den unschätzbaren Wert des Romans macht die plastische und realitätsnahe Schilderung des bäuerlichen Lebens jener Zeit aus. Wenn die Bedeutung der zur Kolonialzeit entstandenen Literatur darin liege, eine Antwort auf die Herausforderungen der damaligen Zeit zu liefern, dann sei, so urteilte ein südkoreanischer Literaturkritiker unlängst, Yi Kiyongs Roman Heimat (Ko-hyang 고향, 故鄉) ein Werk, das jene Periode in aller Schärfe widerspiegle. Yi Kiyong 이기영 (李箕永, 1895-1984) gehört zu den wenigen koreanischen Schriftstellern der Moderne, die sowohl in Nord- als auch in Südkorea hohe Wertschätzung genießen. Während die nordkoreanische Literaturgeschichte Koreas seinen Roman Heimat 1981 als „eines der repräsentativsten Werke fortschrittlicher proletarischer Literatur“ würdigt, sieht die südkoreanische Encyclopædia Britannica in ihm den „besten Schriftsteller des Realismus unseres Landes im 20. Jahrhundert“. In Fortsetzungen wurde Heimat ab November 1933 zunächst in der koreanischen Tageszeitung Chosun Ilbo abgedruckt und erschien 1936 als Buchausgabe. 1955 brachte der Autor eine leicht überarbeitete Fassung in Nordkorea heraus, wohin er 1946 einer Einladung Kim Il Sungs folgend übergesiedelt war. 2005 erschien der Roman in einer auf dem Fortsetzungsroman und der Buchausgabe von 1936 basierenden Neuauflage in Südkorea, der die vorliegende Übersetzung folgt. |
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Vorwort der Übersetzerin | |
Koreanische Provinz in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Nach mehrjährigem Aufenthalt in Japan kehrt ein junger Mann in sein Heimatdorf zurück. Im Gepäck keine schweren Taschen voller Reichtümer, auf dem Leib keine edlen Gewänder, stattdessen aber auf andere Weise beladen: mit neuen Ideen, dass und wie der Fortschritt in seiner Heimat Korea, die ihm nach der Überfahrt aus Japan noch ärmlicher als in seiner Erinnerung vorkommt, Einzug halten müsse. Kim Hijun, der Protagonist im Roman Heimat,[1] ist in vieler Hinsicht das Alter Ego des Autors, der einst selbst zum Studium nach Japan ging und nach eigenen Worten „noch schäbiger“ als sein Held wieder in die Heimat zurückkehrte. Die Zeit ist aufregend, eine Periode des Umbruchs. Seit 1910 ist Korea japanische Kolonie, die Provinz Chōsen. Die Transformation der gesamten Gesellschaft ist in vollem Gange, als Hijun in seinem Dorf eintrifft und sich begeistert daran macht, die Bauern für die neuen Ideen der Modernisierung (munmyŏng kaehwa) zu begeistern. Ernüchterung ist vorprogrammiert, wenn mit jahrhundertealten Traditionen gebrochen werden soll. Den unüberschätzbaren Wert des Romans macht die plastische und realitätsnahe Schilderung des bäuerlichen Lebens jener Zeit aus. Weder begegnet uns eine homogene Masse ideologisch gestählter Bauern, die nichts sehnlicher wünschen, als unter Leitung ihres im Klassenkampf geschulten Führers die Revolution auf dem Land vorzubereiten – wie uns nordkoreanische Literaturtheoretiker bisweilen Glauben machen wollen –, noch entwirft der Autor ein buntes Bild vormoderner Glückseligkeit auf dem Land. Der Leser spürt: Wenn es um ländliches Leben in all seinen Facetten geht, weiß der Autor, wovon er schreibt. Mehrere Jahre verbrachte er auf dem Land; zunächst als Kind und später als Erwachsener versuchte er sich und seine Familie eine Zeitlang von der eigenen landwirtschaftlichen Tätigkeit zu ernähren. Wer war dieser Mann – Yi Kiyŏng,[2] dessen Werk Heimat die nordkoreanische Literaturgeschichte Koreas 1981 als „eines der repräsentativsten Werke progressiver proletarischer Literatur“[3] würdigt und den die südkoreanische Encyclopaedia Britannica zugleich als „besten Schriftsteller des Realismus unseres Landes im 20. Jahrhundert“[4] bezeichnet? Im Mai 1895 wird er im Kreis Asan, Provinz Süd-Ch’ungch’ŏng (heute Republik Korea) als Sohn eines verarmten Adligen geboren. Als der Junge zwei Jahre alt ist, zieht die Familie in ein kleines, von Armut gezeichnetes Dorf im Kreis Ch’ŏnan um und bewirtschaftet dort in Pacht einige Felder. Als die Mutter 1905 verstirbt, tröstet sich der Zehnjährige, indem er beginnt, vormoderne Literatur zu lesen. Schulen kann er infolge der prekären wirtschaftlichen Lage der Familie immer nur kurz besuchen. Lesen soll der Junge von der Konkubine des Vaters gelernt haben, und bald liest er so gut, dass die Dörfler mit Lob nicht sparen und er ihnen oft vorliest. Der Vater hatte die Prüfung für Militärbeamte bestanden und soll ein offenherziger Mann gewesen sein, der sich von der Modernisierungsbewegung in seinem Land inspirieren ließ und zusammen mit Freunden eine Schule gründete. Diese besucht Yi Kiyŏng, als er elf Jahre alt ist. Dort beschäftigt er sich mit den „Neuen Wissenschaften“, und die entfesselte Neugier auf dieses Wissen aus der Fremde lässt ihn die alten Romane aus der Hand legen. Ein Traum erwacht: Zum Studium will er nach Japan gehen und nach der Rückkehr für die Unabhängigkeit und Freiheit Koreas kämpfen. 1908 trifft den Jungen ein Schicksalsschlag der besonderen Art: Der Dreizehnjährige wird auf Wunsch seiner Großmutter mit einem vier Jahre älteren Mädchen verheiratet. Nichts Besonderes im Korea um die letzte Jahrhundertwende herum, doch das Ereignis scheint den Jungen beinahe zu traumatisieren. Es muss ihn lange beschäftigt haben. In zahlreichen seiner Werke, auch im Roman Heimat, rechnet er mit diesem überkommenen Brauch ab und stellt ihm sein Ideal selbstbestimmter Liebe und einer glücklichen Familie gegenüber. Als 1918 eine evangelische Kirche in seinem Dorf öffnet, wird er auf der Stelle eifriger Christ, arbeitet kurz in einer von der Kirche unterhaltenen Schule, bestattet seine Großmutter und den Vater, die kurz hintereinander sterben, nach christlichem – nicht konfuzianischem – Ritual, und wendet sich dann doch enttäuscht von der christlichen Kirche wieder ab. Auch diese Motive finden sich im vorliegenden Roman. Mitte der 1920er Jahre beginnt Yi seine schriftstellerische Tätigkeit, zunächst mit Zeitschriftenartikeln, es folgen Erzählungen. Mit der Kurzgeschichte Der geheime Brief des Bruders gewinnt er 1924 den dritten Preis beim Wettbewerb einer Literaturzeitschrift. Ein Jahr später gründet er mit anderen Literaten die KAPF.[5] Den Roman Heimat verfasst Yi im Jahr 1933 während eines vierzigtägigen Aufenthalts im Songbul-Tempel in der Nähe von Ch’ŏnan. Ab November 1933 erscheint das Werk als Fortsetzungsroman in der Tageszeitung Chosun Ilbo,[6] 1936 als zweibändige Buchausgabe.[7] Damit das Buch herauskommen kann, muss der Chef der japanischen Zensurbehörde seine Zustimmung geben. Um diese zu bekommen – so verrät eine Anekdote – sollen die im Hotel arbeitenden Animierdamen den Japaner betrunken gemacht haben, sodass er schließlich unterschrieb. Dennoch streicht die Zensur mehrere Stellen, einschließlich zweier kompletter Fortsetzungen in der Zeitung. Diese Auslassungen sind im Text markiert. 1937 wird der Roman ins Japanische übersetzt und erscheint in einer japanischen Literaturzeitschrift. Gegen Ende der japanischen Kolonialzeit zieht sich Yi in die Provinz Kangwŏn zurück, widmet sich noch einmal der Landwirtschaft und geht von dort aus direkt nach Pyongyang, wohin er auch seine zweite Frau und die gemeinsamen Kinder mitnimmt. Die erste Frau und der Sohn aus erster Ehe bleiben in Asan, im Süden Koreas. Im April 1946 soll Yi eine Unterredung mit dem nordkoreanischen Präsidenten Kim Il Sung haben, bei welcher dieser ihn einlädt, nach Nordkorea zu kommen. Er nimmt die Einladung an und avanciert im Norden zu einem der bekanntesten Schriftsteller des sozialistischen Realismus. Der erste Teil seines Romans Erde [Ttang] erscheint 1948 in überarbeiteter Ausgabe als erster Roman im Sinne der nordkoreanischen Literaturtheorie. Er schildert das Leben in einem entlegenen Dorf, dessen Bewohner zur Zeit der japanischen Kolonialherrschaft ein hartes, entbehrungsreiches Leben führten, das sich nach der Befreiung infolge der Bodenreform und anderer Maßnahmen der Volksregierung verbessert. Held dieses Romans ist ein armer, ungebildeter Bauer, der sich mit ganzer Kraft dafür einsetzt, die Ideen Kim Il Sungs auf dem Land zu verwirklichen, und dafür auch belohnt wird: Er wird Mitglied der Obersten Volksversammlung. Erwähnenswert ist des Weiteren der dreibändige Roman Tumen [Tumangang], der in den 1950/60er Jahren herauskommt und in dem der Autor gesellschaftliche Umbruchsprozesse gegen Ende des 19. und Beginn des 20. Jh. in einem Bergdorf seiner Heimatprovinz Ch’ungch’ŏng beschreibt. Seit Ende der 1950er Jahre ist Yi Kiyŏng Abgeordneter und später stellvertretender Vorsitzender der Obersten Volksversammlung, des nordkoreanischen Parlaments. In seiner Funktion als Vorsitzender der Koreanisch-Sowjetischen Freundschaftsgesellschaft weilt er im April 1955 in Berlin (Ost), um am 5. Kongress der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft teilzunehmen. 1984 verstirbt Yi Kiyŏng 89jährig in der Demokratischen Volksrepublik Korea, wo er auf dem Friedhof der Patrioten in Sinmiri beigesetzt wird. Sowohl Yi Kiyŏng als Autor als auch der nun erstmalig in deutscher Übersetzung vorliegende Roman Heimat finden in der koreanischen, aber auch ausländischen, vor allem russischen Literaturkritik, ein vergleichsweise breites Echo. Als Yi den Roman 1933 niederschrieb, befand sich Korea bereits seit dreiundzwanzig Jahren unter japanischer Kolonialherrschaft. Nach einer Phase strenger militärischer Reglementierung änderte das japanische Generalgouvernement nach den Ereignissen der „Ersten-März-Bewegung“ 1919 seine Vorgehensweise in Korea. Im kulturellen Bereich wurden einige Beschränkungen zurückgenommen, sodass trotz weiterbestehender Zensur das geistig-kulturelle Leben in der Kolonie einen Aufschwung verzeichnen konnte. Koreanischsprachige Zeitungen und Zeitschriften durften wieder publiziert werden, neue politische, religiöse und wissenschaftliche Vereinigungen trugen zur Verbreitung koreanischer Bildungsinhalte bei. Junge Intellektuelle sowohl in den Städten als auch auf dem Land nahmen sich des Bildungsauftrags an und gaben ihr Wissen unter anderem in Abendschulen an die Jugend weiter. Auch Yis Protagonist Kim Hijun ist zeitweilig als Lehrer an solch einer Einrichtung tätig. Auch wenn Yis Roman in dieser Zeit des geistigen und kulturellen Aufschwungs entstand, sollte nicht vergessen werden, dass sich der Autor sehr wohl einer Art Selbstzensur zu unterwerfen hatte, wollte er verhindern, dass die Zensurbehörde sein Werk komplett ablehnte. Die ersten beiden Abschnitte von Kapitel 34, welche der Zensur zum Opfer fielen, sind vermutlich nicht erhalten geblieben, denn in der nordkoreanischen Ausgabe von 1955[8] fehlen sie ebenfalls. Inhaltlich ging es in diesen Kapiteln vermutlich um die Organisation und Durchführung des Streiks in der Seidenfabrik. Bedingt durch diesen Ausfall sind die folgenden Kapitel stellenweise schwer verständlich. Wenn daher eine Kritikerin darauf verweist, dass die „Idee der Gewerkschaft“ im Roman „ziemlich ungenau“[9] sei, lag dies vermutlich nicht unbedingt in der Absicht des Autors und sollte diesem auch nicht per se als Schwäche angelastet werden. Wie Yi Kiyŏng in einem Interview[10] erklärte, habe er den Roman Heimat nur wenige Monate, nachdem er die japanische Übersetzung von Scholochows Der stille Don gelesen hatte, verfasst. Sein Ziel sei es gewesen, das zeitgenössische koreanische Landleben aus der gleichen Perspektive darzustellen, wie Scholochow dies für die Don-Region getan hatte. Dies sei der Grund für die Ähnlichkeit der Charaktere in beiden Romanen. Bisweilen sieht sich Yis Roman dem Vorwurf ausgesetzt „traditionalistisch und antimodernistisch“[11] zu sein. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang unter anderem auf die Ture, die gegen Ende der Yi-Dynastie aufkommenden Bauernvereine, die eine „Rückkehr zum verlorenen Paradies der Bauern“[12] bedeuteten. Tatsächlich versuchte die japanische Kolonialregierung diese Tradition wiederzubeleben, um einerseits den Zusammenhalt der Dorfgemeinde zu festigen und zum anderen die landwirtschaftliche Produktivität zu steigern. Nicht jede Rückbesinnung auf Tradition bedeutet zwangsläufig Abkehr von der Moderne. Selbst Präsident Pak Chŏng Hŭi (Park Chung Hee, 1917–1979) berief sich im Rahmen der von ihm in den 1970er Jahren initiierten Bewegung neuer Dörfer [saemaŭl undong] auf diese Tradition der Ture. In den 1920er Jahren kam es infolge einer veränderten Wirtschaftspolitik des japanischen Generalgouvernements zu vermehrten Investitionen, vor allem japanischen, aber auch koreanischen Kapitals, im Industriesektor. Auch in der Nähe von Wŏnto, Kim Hijuns Heimatdorf und Hauptschauplatz des Romans, wird eine moderne Seidenfabrik errichtet. Hier schildert der Autor sehr plastisch, wie diese Neuerung das Leben der Landbevölkerung beeinflusst. Er stellt die moderne Industrie eben nicht als „evil forces“[13] dar, sondern sowohl als Perspektive für jene jungen Frauen auf dem Land, die der Tradition zu entfliehen suchen, als auch als ein Ort, an dem sich bei den Beschäftigten ein Bewusstsein für die Probleme der neuen Zeit herausbilden kann. An keiner Stelle kontrastiert er das harte Leben der Fabrikarbeiterinnen mit einer vermeintlich idyllischen Vergangenheit auf dem Land. Sehr wohl aber verweist er auf Gemeinsamkeiten: Nicht anders als die Bauern im Dorf arbeiten auch die Arbeiterinnen in der Fabrik sehr hart, ohne je die Früchte ihrer Arbeit genießen zu können. Die südkoreanische Literaturwissenschaft bezeichnet Heimat als Bauernroman [nongmin sosŏl], und genau das ist er auch. Weder trifft auf dieses Werk die Bezeichnung „proletarischer Roman“[14] zu, noch ist sein Held, Kim Hijun, Revolutionär oder gar Kommunist. Als junger koreanischer Intellektueller kam er – wie vermutlich auch Yi Kiyŏng selbst – in Japan mit marxistischen Ideen in Berührung, und es sind diese Ideen, die ihm geeignet scheinen, die schlimme Not seiner Landsleute zu lindern. Dabei ist es interessant zu beobachten, dass diese Ideologie vor allem über Japan – verhasste Kolonialmacht, doch zugleich Ideal gelungener Modernisierung für viele Intellektuelle – nach Korea kam und auf welche Weise sie dort modifiziert wurde. Kim Hijun ist nicht der Held par excellence. Unklar bleibt zunächst, inwieweit dies vom Autor intendiert ist. Den westlichen Leser wird es vermutlich befremden, wie Kim Hijun mit seiner Frau umgeht, zumal dieses Benehmen auch in krassem Widerspruch zu dem steht, was er ansonsten über die neue gesellschaftliche Rolle der Frau sagt. Unzweifelhaft beschreibt Yi Kiyŏng hier persönliche Erfahrungen, das Trauma seiner Zwangsverheiratung im Kindesalter. Vielleicht ist dieser Aspekt, der Umgang mit und die Wertschätzung von Frauen, aber auch anschauliches Beispiel dafür, welchen Modifizierungen der Marxismus im Verlauf seiner Rezeption in den noch stark traditionell geprägten Gesellschaften Ostasiens unterworfen war. Gestattet seien am Ende noch einige kurze Bemerkungen zur Übersetzung. Diese gestaltete sich an vielen Stellen schwierig, bedingt nicht nur durch grundlegende sprachliche und kulturelle Unterschiede zwischen Korea und Deutschland, sondern insbesondere durch Yi Kiyŏngs persönlichen Stil. Die Übersetzer bemühten sich, die sprachlichen Besonderheiten des Originaltextes so weit wie möglich ins Deutsche zu übertragen. Allerdings gelangten sie hier oft sehr schnell an die Grenzen des Zumutbaren, d.h. der Lesbarkeit. Yi Kiyŏngs Metaphorik beispielsweise erwies sich bisweilen als nicht ins Deutsche übertragbar. Hier war für die Übersetzer in erster Linie ausschlaggebend, wie die betreffenden Stellen vom (heutigen) muttersprachlichen Leser empfunden werden. Das Ziel der Übersetzer bestand also weder in einer durchgängigen Glättung des Textes, um ihn deutschen Lesegewohnheiten um jeden Preis anzupassen, noch in einer extremen Verfremdung, die zwar die Nähe zum Original gewahrt, das Lesen aber über Gebühr erschwert hätte. Dennoch hoffen sie, viele sprachliche Besonderheiten des Romans in die Übersetzung hinüber „gerettet“ zu haben. Auf wenige logische Widersprüche hinsichtlich der Handlung wird in Fußnoten hingewiesen. Sprachliche Ungenauigkeiten in der südkoreanischen Neuauflage von 2007,[15] die auf der Buchausgabe von 1936/37 und der Ausgabe als Fortsetzungsroman in der Zeitung Chosun Ilbo basiert und die der vorliegenden Übersetzung zugrunde lag, wurden teilweise durch Korrekturen des Autors selbst, wie sie sich in der von ihm offensichtlich durchgesehenen nordkoreanischen Ausgabe von 1955 finden, berichtigt. Ganz herzlich danke ich Dr. Wilfried Herrmann für die Zeit und Mühe, die er in die Durchsicht des Manuskripts investierte, und seine vielen hilfreichen Hinweise. Zum anderen gilt mein Dank dem OSTASIEN Verlag für die Bereitschaft, dieses umfangreiche Werk schnell und unkompliziert herauszugeben, und somit dazu beizutragen, dem deutschen Leser einen kleinen Einblick in das umfangreiche und vielgestaltige Schaffen koreanischer Autoren in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts zu ermöglichen.
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Leseprobe (S. 30–32) | |
Gemeinsam mit seinem Vater hatte Indong auf einem kleinen Saatbeet die Erde für die Reisaussaat aufgelockert und geharkt, nun richtete er sich auf und warf einen Blick auf die sich in der Ferne erhebenden Berge. Nebel hing in der Luft und lud nachgerade zu einem Nickerchen ein. Auf dem kleinen Reisfeld am Fuße des Berges, das von einem kühlen Gebirgsbächlein bewässert wurde, hatten sie auch heute den ganzen Tag lang die Erde bearbeitet. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte Indong vor Kälte die Hände gegeneinander gerieben und war auf einem Holzbrett über den zugefrorenen Fluss geschlittert, der von hier nur einen Katzensprung entfernt lag und auf den er jetzt hinabschaute. Und nun war es schon Frühling geworden. Der Frühling war gekommen mit seinen zahllosen Sorgen und Nöten! Aber wann war das Eis eigentlich geschmolzen? Wann hatten die Bäume zu treiben begonnen? Habe ich das alles verschlafen? Kaum gingen ihm diese Gedanken durch den Kopf, da musste er plötzlich auch daran denken, wie er Kapsong, dem Sohn des Gutsverwalters, die Schlittschuhe weggenommen und sie sich an die eigenen Füße geschnallt hatte. Und wie sein erster Versuch, Schlittschuh zu fahren, damit endete, dass er ausrutschte und mit dem Hinterkopf mächtig auf dem Eis aufschlug. Die Erinnerung daran ließ ihn auflachen. Wonchil sprach kein Wort, im Mundwinkel hing seine Pfeife, und mit der Harke in der Hand drückte er die Erde des Saatbeets fest. Seine dunkelrote Nase war auffallend hoch, die schmalen Augenschlitze zogen sich schräg nach oben und das Kinn zierte ein Bärtchen, das an eine Tapezierbürste erinnerte. Die Dörfler hatten ihm den Spitznamen Guan Yu verpasst. Mit diesem Gesicht und seiner großen Gestalt glich er jenem Helden Guan Yu aus der chinesischen Geschichte der Drei Reiche. Er trat die Erde des Saatbeets fest und sah zum Flussdeich hinunter. Im Frühling vor drei Jahren war er fertiggestellt worden und sicherte das Flussufer auf drei Seiten – der Fluss teilte sich an dieser Stelle – auf einer Länge von mehr als zwei Kilometern. Auch er selbst war damals abwechselnd mit Indong zur Pflichtarbeit abkommandiert worden, aber auch von den Leuten, die in den Dörfern der Gemeinde wohnten, musste einer je Hof zum Arbeitseinsatz. Die Bauern wussten nur schlecht mit den Grubenwagen für den Abraum umzugehen, und es kam zu einigen Unfällen mit Verletzten. Unvermittelt musste Wonchil an Herrn Pak aus dem Oberdorf denken, der an der Stromschnelle ertrunken war, und plötzlich schauderte ihn, und er drehte den Kopf zur Seite. Auch Herr Pak war damals zu den Bauarbeiten am Deich zwangsverpflichtet worden. Wonchil hatte ihn gut gekannt, und umso mehr betrübte ihn der Gedanke daran, wie es seiner Familie nun wohl gehen mochte. ‚Tja! Jetzt ist es auch schon wieder über ein Jahr her, dass er gestorben ist.’ Aus dem Schornstein der Seidenfabrik stieg unablässig dicker Qualm empor, sodass die Sonne dahinter schon gar nicht mehr zu erkennen war. Eine ganze Weile starrte Wonchil auf diesen schwarzen Rauch ausspeienden Schornstein. „Arbeiten die in der Fabrik auch nachts?“, fragte er seinen Sohn, und es war das erste Mal, dass er seinen Mund, den er bis dahin wie ein schweres Eisentor fest verschlossen gehalten hatte, wieder öffnete. „Ja, die sollen sich wohl abwechseln, die einen tagsüber, die andern in der Nacht.“ Indong ärgerte sich über seinen Vater, der nicht daran dachte, die Arbeit für heute zu beenden und nach Hause zu gehen, obwohl die Sonne schon zu verblassen begann. Bis zum Mittag hatte Indong mit seiner Kiepe verwitterte Lehmreste von alten Hauswänden und Dung aufs Feld geschafft, wovon ihm noch immer der Rücken schmerzte. Für den Abend hatte er sich mit Maktong verabredet und wollte mit ihm in die Stadt. Vielleicht war Maktong ja schon ohne ihn losgezogen, dachte er, und dieser Gedanke steigerte seine Ungeduld. „In welcher Schicht arbeitet Insun eigentlich?“ „Weiß nicht, Vater.“ „Warst du da mal drin?“ „Da darf man nicht einfach rein.“ Wonchil spuckte auf den Boden. Als die Fabrik gebaut wurde, hatte er sich auf der Baustelle als Tagelöhner verdingt, daher kannte er das Innere der Werkhallen wie seine Westentasche. Am Dach des Gebäudes war eine Art Aufzug angebracht gewesen, und wenn er daran dachte, wie er, die mit Dachziegeln voll beladene Kiepe auf dem Rücken, zum Dachfirst hinaufgezogen worden war, bekam er noch heute weiche Knie angesichts der gefährlichen Situation. Und sein eisernes Tor schloss sich wieder. Vom Acker her war nur das leise Glucksen des Wassers zu hören, wenn die beiden Männer über das Feld wateten. Der beißende Gestank des Dungs entwich durch das schlammige Wasser nach oben. Um den Wassergraben zu säubern, beugten sie sich abermals nach vorn und bewegten sich wie die Flusskrebse langsam rückwärts. „Was machen Sie denn noch hier, wo es schon dämmert?“ „Ach, du bist’s, Hijun? Was treibt dich her?“ „Guten Abend. Wohin des Wegs?“, grüßte Indong. Die beiden Männer richteten sich auf und sahen Hijun an. „Ich will jemanden besuchen, der hier in der Nähe wohnt. Gehst du nicht zur Abendschule?“, wandte er sich an Indong. „Mal sehen. Vielleicht.“ „Na, dann machen Sie Ihre Arbeit mal noch zu Ende!“, verabschiedete sich Hijun. „Hm, wir wollten sowieso gerade Schluss machen“, erwiderte Wonchil. Sobald Hijun gegangen war, wusch Wonchil zunächst den Stiel der Harke im Schlammwasser ab und machte sich dann daran, seine Beine abzuspülen. ‚Wo treibt der sich bloß jeden Tag herum? Es gibt doch keinen Winkel, wo er noch nicht gewesen ist!’, ging es ihm durch den Kopf, nachdem er sich die Beine gewaschen hatte, und er warf einen letzten Blick auf den sich entfernenden Hijun. Der eilte, im Laufen weit mit den Armen ausholend, ins Dorf hinein. Plötzlich setzte dort das laute Gebell einer Hundemeute ein und zerriss die Dunkelheit. |
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Pressespiegel | |
"Korea, frühsozialistisch: Yi Kiyongs Roman «Heimat»", Rezension von Katharina Borchardt in Neue Zürcher Zeitung 14.07.2012 (Nr. 162), Seite 56 |
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Rezension in Hamburger China-Notizen, Neue Folge 792 (15.05.2013) | |