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Revolutionäre Jugend |
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Jiang Wanzhu |
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„Guo Shiyings letzte Zeit an der Hochschule für Landwirtschaft“ |
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„Meine Wunden lecke ich selber, ich will nicht, dass die Leute um mich jammern.“ Wenn ich Erinnerungen an Guo Shiying lese, fällt mir dieser Satz ein, er hat das zu mir gesagt, und ich habe es mir seit vielen Jahren oft wiederholt; außer in meiner Familie habe ich auch kaum jemandem etwas über unsere kurze Beziehung erzählt, weil ich über diesen Schmerz nie hinwegkommen werde. Ich erinnere mich aber an noch einen Satz von ihm: „Sind die Ratten zufrieden, geschieht der Katze gewiss Unrecht.“ Das hat er im Sichuan-Dialekt gesagt, und mir ist es mit dem Eindruck seiner Stimme, seines Tonfalls geblieben, obwohl ich diese Redensart schon als Kind gekannt habe. Vielleicht hat er das im Scherz so dahergesagt, vielleicht kam darin ein Gefühl zum Ausdruck. Guo Shiying ist böses Unrecht geschehen, als er ging; und bis heute gibt es zu seinem Tod unterschiedliche Erklärungen und Vermutungen. Mir, die ich manches von den Vorgängen damals weiß, mit ihm befreundet war und mich gut mit ihm verstand, obliegt es, einige Dinge zu berichten, an die ich mich bruchstückhaft, möglicherweise falsch erinnere, die aber für diejenigen, die ihn bis heute im Herzen behalten haben, vielleicht doch von Wert sind; so kann ich auch etwas tun, um Guo Shiyings Seele zu trösten, der solches Unrecht zugefügt worden ist. Jetzt ist die Zeit dafür gekommen, ich stoße das Fenster des Schweigens auf und bringe alles vor, was ich sagen möchte. Guo Shiying hat an der Pekinger Hochschule für Landwirtschaft seine letzten Jahre verbracht, vom Herbst 1965, bis er umkam, im April 1968. Er war nur zweieinhalb Jahre an der Hochschule, und in dieser Zeit hatte ich das Glück, seine Bekanntschaft zu machen, wir wurden Freunde und konnten über so vieles sprechen. Ich weiß nicht mehr, wann genau ich ihn kennengelernt habe, es war aber sicher 1966 und nicht lange vor der Kulturrevolution, vielleicht im Mai. Damals war ich neu an der Hochschule, im ersten Jahr. Ich aß mit Kommilitonen zusammen an einem Tisch, wir waren alle aus Sichuan, Landsleute, und unterhielten uns in unserem Dialekt; auf einmal sprach uns jemand an, auch im Dialekt; ich hob den Kopf, es war auch ein Student, mit hohen Backenknochen, freundlichem Blick, älter als wir. „Bist du auch aus Sichuan?“, fragten wir. „Geraten!“, sagte er. Wir aßen mit ihm zusammen weiter und unterhielten uns mit ihm, aber niemand fragte ihn, wie er hieß. Wir haben dann noch mehrmals mit ihm gegessen, saßen alle an einem Tisch und haben herumgeschwatzt, ich erfuhr, er hieß Guo Shiying, aber keiner von uns wusste, dass Guo Moruo sein Vater war. Eines Tages bin ich ihm auf dem Campus begegnet, er lachte und begrüßte mich in reinstem Peking-Chinesisch. Ich fragte ihn verwundert: „Du bist doch aus Sichuan, wieso kannst du so gut Hochchinesisch?“ Er sagte: „Ich bin von klein auf in Peking zur Schule gegangen.“ Jetzt wollte ich der Sache auf den Grund gehen: „Woher in Sichuan bist du denn?“ „Aus Leshan.“ Ich war interessiert an Literatur, ich wußte, Guo Moruo war auch aus Leshan, und sagte nur so zum Spaß: „Na, da musst du zur gleichen Familie gehören wie Guo Moruo.“ Er schien auf einmal etwas befangen, er sagte: „Bei uns da unten heißen viele Guo, wahrscheinlich.“ Das war alles, wir haben uns noch ein bißchen unterhalten und sind dann unserer Wege gegangen. Ich bin ihm immer wieder mal über den Weg gelaufen, wie anderen auch; er aber hat mich beeindruckt, er ging auf andere ein, war so aufrichtig, aber es schien, dass ihn etwas bedrückte, was er nicht aussprach. Mit Nie Yuanzis Wandzeitung [am 25.5.1966, in der Peking-Universität] begann die Kulturrevolution, und auch in unserer Hochschule war bald alles mit Wandzeitungen vollgeklebt. Eines Tages entdeckte ich auf einer davon Guo Shiyings Namen, ganz groß geschrieben – und alle drei Zeichen rot durchgestrichen. Ich bekam einen großen Schreck und las. Da erst erfuhr ich, dass er Guo Moruos Sohn war, und ich erfuhr, dass er Mitglied der konterrevolutionären X-Gruppe war. Mir drehte sich alles vor den Augen. Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch, ich habe keine Vorahnungen, ich bin wie die große Mehrheit, was der Vorsitzende Mao sagte, habe ich gemacht, ich hatte auch weiter keine Meinung zur Kulturrevolution, ich bin mit den anderen mitgelaufen, hierhin und dorthin. Also hielt ich Guo Shiying auch für einen konterrevolutionären Studenten und wollte nun auf keinen Fall mehr etwas mit ihm zu tun haben. (Ich hatte ja tatsächlich auch nur ein paar Worte mit ihm gewechselt, in der Mensa und dann auf dem Campus.) Ich sah ihn aber noch öfters, in der Mensa wie auf dem Campus. Er schien sich seiner Lage sehr bewusst, setzte sich nicht mehr zu uns an den Tisch, saß allein in einer Ecke, aß schweigend aus einem großen Essgeschirr und begrüßte sich mit niemandem. Wenn wir uns auf dem Weg begegneten, war das unangenehm, er nickte mir zu, ich tat, als säh’ ich ihn nicht, ging dicht an ihm vorbei und zeigte damit, dass ich mich klar von ihm abgrenzte. Als der große Erfahrungsaustausch[1] begann, bin ich mit einigen Landsleuten für eine Weile nach Sichuan gefahren (ich bin in Yibin zuhause) und auf dem Rückweg nach Peking in Zhengzhou ausgestiegen; ich wollte dort umsteigen und Verwandte besuchen. Auf dem Bahnhof in Zhengzhou herrschte völliges Chaos, und mir wurde das Portemonnaie gestohlen. Das regte mich aber nicht so auf, Rote Garden auf Erfahrungsaustausch brauchten damals für Essen und Unterkunft nicht zu zahlen und auch keine Fahrkarte für die Bahn. Aber um Essen und Unterkunft zu bekommen, musste ich die Empfangsstelle der roten Garden finden, das würde seine Zeit dauern, und ich wusste auch aus Erfahrung, dann würde ich noch lange anstehen müssen. Mir knurrte der Magen, und das Essen in den Restaurants in der Nähe war wohl kaum umsonst. Meine Verwandten lebten in Xuchang, da kam ich nicht so rasch hin, außerdem war ein solches Gedränge, ich würde es nicht mal in den Zug schaffen. Ich wusste mir nicht zu helfen, saß auf dem Platz vor dem Bahnhof am Straßenrand und starrte vor mich. Ich bin jemand ohne Initiative, schon gar allein in der Fremde. „Ist das nicht … Mei, irgendwas Mei?“, stand plötzlich wer vor mir und fragte mich. Ich hob den Kopf und sah einen Mann in abgerissener Kleidung, der auf mich herabsah. Er schien mir bekannt und doch wieder fremd, ich bekam etwas Angst, stand auf und sah ihm in das dunkle Gesicht, die aufrichtigen, freundlichen Augen – war das ? Tatsächlich, Guo Shiying! Wie sah der denn aus? Wo kam er her? Laut sagte ich: „Was machst du denn hier?“ Er lachte: „Bist du allein?“ Ich nickte. Er fragte nochmals: „Und die anderen?“ Ich sagte, ich sei ganz allein, ich dächte grad nach, wie ich zu meinen Verwandten kommen könnte. „Ach so…“, zögerte er, …“na, dann geh ich.“ Da war mir sein Status als „reaktionärer Student“ auf einmal egal, ich hielt ihn an: „Wie kommst du denn nach Zhengzhou, und was hast du jetzt vor, gehst du essen?“ Er stellte eine Reisetasche neben sich auf den Boden und brach in lautes Lachen aus; da hab ich zum ersten Mal sein Lachen gehört, ein so natürliches Lachen. Er sagte: „Obwohl ich so einer bin, diese Gelegenheit mit dem Erfahrungsaustausch, die wollte ich auch mal nutzen. Ich will nach Huangfan aufs Dorf und meine Freunde besuchen. Der Zug ist nur bis Zhengzhou gefahren, jetzt wollte ich gerade einen Anschlusszug dorthin suchen.“ Er sagte mir noch, seit Anfang der Kulturrevolution ließen ihn die in seiner Klasse nicht in Frieden, aber er gelte noch als jemand, der sich frei bewegen dürfe. Jetzt, wo alles auf Erfahrungsaustausch gehe, achte man nicht so auf ihn, da habe er die Gelegenheit genutzt und sei fort. Nun war ich auch nicht mehr schüchtern, ich fragte ihn, ob er mir ein paar Getreidemarken und etwas Geld leihen könne. Als er hörte, dass mir mein Geld gestohlen worden war und ich nichts zu essen hatte, sagte er: „Ich hab auch noch nichts gegessen, also los, füllen wir uns erst mal den Magen, und dann sehn wir weiter!“ Ich zögerte etwas, folgte ihm aber in ein schmutziges Restaurant, und wir aßen jeder eine Schale Nudeln. Dann zog er einige Getreidemarken hervor und einige Zehn-Yuan-Scheine und stopfte sie mir in die Hand: „Pass auf dich auf, allein in der Fremde! Ich darf dich nicht in Schwierigkeiten bringen, du sollst meinetwegen keinen Ärger bekommen!“ Damit stand er auf und wollte raus. Ich fühlte auf einmal, wie winzig ich vor ihm war, was für ein Nichts; ich stand auch auf, folgte ihm und fragte ihn, ohne mich noch um irgendwelche Konsequenzen zu scheren: „Wo willst du denn hin? Kümmerst dich gar nicht um mich?“ Die Saite für das Lied vom Klassenkampf war mir gesprungen. Er blieb stehn und sah mich an: „Ich will zur Bahn, in Richtung Luoyang fahren, ich hab dir doch gesagt, ich fahre Freunde besuchen.“ Ich sagte: „Ich bin gerade aus der Richtung gekommen, da herrscht völliges Chaos, die Züge nach Westen fahren alle nicht, die Abteile sind voller Roter Garden, die Züge hängen auf den Gleisen fest und kommen nicht weg.“ Als er das hörte, schien er entmutigt, er wusste nicht was tun. Er dachte nach: „Lass uns zunächst mal sehn, wo wir bleiben, dann reden wir weiter.“ Was anderes blieb auch nicht übrig; hier, wo ich nichts und niemanden kannte, fühlte ich mich völlig allein und verlassen, ich folgte ihm, um eine Unterkunft zu suchen. In einer „Verbindungsstelle für revolutionäre Lehrer und Schüler“ standen wir lange an, um schließlich irgendwie noch vor Dunkelwerden im Gästehaus einer Fabrik unterzukommen. Als wir nach dem Abendessen aus der Kantine kamen, fragte er mich, ob wir noch ein bisschen herumlaufen sollten. Ich sagte, warum nicht, und so haben wir uns ziellos auf die großen Straßen treiben lassen. Zuerst haben wir wenig geredet, dann, so im Laufen, immer mehr. Er hatte wohl lange mit kaum jemandem reden können, und ich schien ihm ziemlich offen und unkompliziert, da legte er seinen Worten keine Zügel mehr an. Seitdem sind nun vierzig Jahre vergangen, aber dies Gespräch in ungewöhnlicher Zeit und ungewöhnlicher Umgebung, mit diesem ungewöhnlichen Menschen (an der Hochschule für Landwirtschaft gab es kaum Kinder hoher Kader, und ich war bis dahin nie mit jemandem wie ihm in Berührung gekommen), seine geradezu (um einen modernen Ausdruck zu benutzen) charismatische Art, sich auszudrücken, werde ich mein Leben lang wohl kaum vergessen. Ich habe etwas Ordnung in die Erinnerung an das gebracht, was wir damals gesprochen haben; seitdem ist so viel Zeit verflossen, dass ich es sicher nicht mehr wörtlich wiedergeben kann, aber gewiss den Sinn, nur verwende ich keine Anführungsstriche, damit man es nicht für den genauen Wortlaut hält. Er fragte mich, ob ich die Wandzeitung gelesen hätte, in der er kritisiert worden war, und was ich davon hielte. Ich antwortete ihm ganz ehrlich: ich hätte sie gelesen, es sei mir aber nicht klar, worum es eigentlich gehe. Das ist alles dieses X, sagte er. Das weiß ich, das hat die Wandzeitung ja aufgedeckt, sagte ich, X bedeutet Chrustschow, ihr habt von den Sowjetrevisionisten gelernt und für den Revisionismus geworben. „Ganz und gar nicht!“, erklärte er sehr entschieden, er erregte sich, wurde wütend. Jetzt meine ich zwar, sagte er, dass alles falsch war, was wir paar Schüler damals getan und geglaubt haben, aber mit Chrustschow hatte das nicht im Entferntesten zu tun. Was sollte das X denn dann heißen? Hast du Algebra gehabt? X steht für eine Unbekannte. Wir paar Schüler diskutierten das Unbekannte. Auf der Welt ist so viel noch unbekannt; dies X zu erforschen, ist das nicht falsch? Wir waren zu naiv, manche Sachen kann man nicht erforschen. Wieso, meinst du, war das falsch? Er antwortete auf eine Frage, die ich nicht gestellt hatte, er sagte, die Wandzeitungen gegen mich, das waren einige aus unserer Klasse, sie sagen, ich bin von der konterrevolutionären Gruppe X, wo gibt’s denn so was? In Wirklichkeit waren wir ein paar Gymnasiasten, haben ein paar Aufsätze, Gedichte, Essays geschrieben, sie ausgetauscht und gelesen, so einfach war das. Was für eine Gruppe, auch noch Konterrevolution? Natürlich, was wir da alles geschrieben haben, das war der Erwähnung nicht wert, gehörte alles verbrannt. Denn ich meine, was damals in unseren Aufsätzen zum Ausdruck kam, das war unvereinbar mit dem Grundmotiv der Zeit. Konkret gesagt? Also ich hatte da so eine Vorstellung, ich habe den Wert der Existenz von Individualität betont, die unabhängige Persönlichkeit. Ich habe mal zu jemandem gesagt: „Man muss leben, um ein großer Mensch zu sein.“ Ich hab eine Novelle geschrieben mit einem Helden, der meine Vorstellungen verkörperte, der sich in der Finsternis abmühte und kämpfte, um die Seelen der vom Bösen verschlungenen Menschen zu retten, lächerlich, oder? Wer, meinst du, sollte das denn sein? Der Erlöser der Welt? Als ich dann später in Henan aufs Dorf gekommen bin, mit dem Felde und den Früchten darauf zusammenkam, da haben sich meine Vorstellungen von Grund auf gewandelt. Das menschliche Denken muss sich mit dem Boden verbinden, der uns gebiert und ernährt, es kann nicht am Himmel schweben wie Sternenglanz, zu dem man aufschauen, aber den man nicht erreichen kann. Ich sagte, ich hätte gehört, er habe zunächst an der Peking-Universität Philosophie studiert, wie er denn an die Landwirtschaftshochschule geraten sei. Das war zuletzt meine eigene Wahl, ich wollte vom Himmel zurück auf die Erde, nicht nur mit dem Denken, auch mit dem Leib. Er fragte zurück, wieso studierst du Tiermedizin, das ist doch nichts für Mädchen. Ich seufzte, da ist nichts zu machen, wieso hab ich Idiotin als Wunsch ausgefüllt, ich wollte an die Pekinger Hochschule für Landwirtschaft? Aber gut, so bin ich immerhin nach Peking gekommen. In dem halben Semester, das ich studiert habe, da hab ich schon entdeckt, an der Fakultät haben sich manche berühmte Namen versteckt, wir haben bedeutende Professoren. Genetik fasziniert mich, später will ich unbedingt auf diesem Gebiet arbeiten, da gibt es zu viele X! Er sagte sofort, bloß kein X! Mal was anders, kennst du Mendel? Kenne ich, das ist doch dieser österreichische Pater, der die idealistische Genetik begründet hat? Das ist doch ganz was anderes als Mitschurin. Er lachte und sagte, na, offensichtlich hast du wirklich etwas Ahnung. Aber man soll nichts verabsolutieren, wir können die beiden Lehrmeinungen ja mal diskutieren, das Interesse haben wir gemeinsam. Ich studiere Pflanzen, du studierst Tiere, im Kern ist’s dasselbe. Mendel hat nicht unbedingt unrecht, Mitschurin nicht notwendig recht. Ich staunte und sagte, sowjetischer Revisionismus, aber ich glaube, Mitschurins Lehre ist doch richtig. Er sagte, ich lehne das auch nicht völlig ab, aber Mendels Lehre vertraue ich mehr, gut, er war Geistlicher, aber seine Vererbungslehre kann man deshalb noch nicht idealistisch nennen. – Dann begann er einen Vergleich von Mendel und Mitschurin, und wie er das so langsam darlegte, schien mir, es hatte Hand und Fuß, was er da sagte. Ich sagte, ich würde gern was über Mendels Lehre lesen, aber so was ist wohl schwer zu finden. Wenn wir wieder in Peking sind, kann ich dir ein paar Bücher leihen. Bei euch an der Fakultät gibt es ja auch Autoritäten für Genetik, die kannst du auch fragen. Die haben sie ja längst so in Grund und Boden kritisiert, dass sie stinken. Er seufzte und sagte nichts mehr. Dann kamen wir wieder auf das X. Ich fragte, in der Wandzeitung hieß es auch, ihr wolltet heimlich über die Grenze, was ist denn da dran? Er schwieg eine Weile, dann sagte er, das sei auch nicht so gewesen, wie es in der Wandzeitung gestanden habe. Die sogenannte X – sagte er –, das waren vier Leute,[2] alle aus einer Klasse im Gymnasium. Auf der Universität sind wir dann getrennte Wege gegangen, haben uns aber noch oft gesehen. Ich habe nie daran gedacht, ins Ausland zu gehen, aber andere schon, die haben aber nichts dazu unternommen, sie wollten nur mehr vom Ausland wissen und das gern mit eigenen Augen sehen. Sie haben daraus auch weiter kein Geheimnis gemacht, schließlich hat das jemand angezeigt, so sind wir zu Verbrechern geworden. Was haben sie dann mit euch gemacht? Das war unterschiedlich. Die eine Mitschülerin haben sie bald freigelassen, die zwei Mitschüler zu Zwangsarbeit verurteilt.[3] Ich bin zur Umerziehung auf das Xihua-Staatsgut gekommen, in Henan, Bezirk Huangfan, jetzt beim Erfahrungsaustausch will ich da mal wieder hin. Dann kamen wir auf die Kulturrevolution. Mein Gesamteindruck war, dass er diese vom Vorsitzenden Mao angestoßene Revolution sehr unterstützte. Er verglich sie mit der Großen Französischen Revolution, er sagte: In der Großen französischen Revolution war in der Frühzeit der Kapitalistenklasse der revolutionäre Kampf am heftigsten, sie war die weitest reichende Revolution der Kapitalistenklasse, sie hat nicht nur die über tausendjährige Feudalherrschaft in Frankreich beendet, sondern dem Feudalismus in ganz Europa einen schweren Schlag zugefügt und späteren Revolutionen weltweit als Vorbild gedient, daher war sie von globaler Bedeutung. Und unsere Große Kulturrevolution ist die heftigste, weitestreichende revolutionäre Bewegung seit der Gründung unseres Staates, sie hat die letzten geistigen Grundlagen der über zweitausendjährigen Feudalgesellschaft unseres Landes herausgerissen und eine neue Epoche eines vom Proletariat wahrhaft geeinten Reiches begonnen, sie hat absolut Weltbedeutung. – Dass der Feudalismus mit den Wurzeln herausgerissen werde, das betonte er ganz besonders, es hat mir einen tiefen Eindruck hinterlassen. Es heißt, sagte ich, der Konfuzius-Tempel in Shandong ist in Schutt und Asche gelegt worden, ist das denn richtig, so alles Alte zu zertrümmern? Er sagte, zertrümmert nur, ist zwar schad drum, aber geht das Alte nicht, kommt nichts Neues. Dann sprachen wir über den berühmten Spruch: „Der Alte ein Held: der Sohn ein guter Mann; reaktionär der Alte: der Sohn ein Schuft“.[4] Mir war der Slogan zuwider; was er davon halte? Er sagte, ist doch völliger Quatsch, was soll man da noch drüber reden? Wie kann die Herkunft ein ganzes Leben bestimmen? Wenn man so redet, wie soll es dann in der Geschichte irgendeinen Fortschritt geben? Blödsinn! – Von diesem Spruch kam er auf die Liandong, [eine Rotgardistengruppe, Kinder hoher Kader, deren Slogan das war]. Er sagte, die seien wie „Kinder der Acht Banner“, Nachkommen der Mandschutruppen der Kaiserzeit, die sich ihrer Abstammung wegen für was Besseres hielten, solchen Leuten stecke der Feudalismus in den Knochen. Das sei „rote Fahnen aufziehen gegen die rote Fahne“, mit denen werde es nicht gut enden. Damit war ich sehr einverstanden. (Damals hatten wir Yu Luokes „Abstammungslehre“ noch nicht zu Gesicht bekommen, aber Guo Shiyings Ansichten stimmten mit denen von Yu Luoke weitgehend überein.) So liefen wir und redeten, redeten, was uns nur in den Sinn kam, meine anfängliche Befangenheit war wie weggeblasen, ich fand, man konnte sich mit ihm nicht nur gut unterhalten, er hatte Durchblick; ich hielt ihn nicht mehr für den reaktionären Studenten, als den ihn die Wandzeitung bezeichnet hatte, sondern ganz im Gegenteil für einen, der selber dachte und Ideale hatte, einen, der mehr taugte als die in meiner Klasse. Er wurde mir immer vertrauter, ich hörte ihm sehr gerne zu, wie er so redete, auch wenn die Themen durchaus nicht vergnüglich waren. Abends gingen wir zurück ins Gästehaus, und jeder legte sich schlafen, am nächsten Tag zum Bahnhof, ich hatte Glück, mit Guos Hilfe kam ich in einen Zug nach Süden. Er wollte in Richtung Luoyang; als ich im Abteil war, winkte er mir noch vom Bahnsteig aus zu, dann drehte er sich um und verschwand in der Menge. Das nächste Mal sahen wir uns einige Monate später, nach dem Frühlingsfest 1967, auf dem Campus der Hochschule. Ich ging in Gedanken versunken einen Weg entlang, da rief plötzlich jemand von hinten meinen Namen. Ich drehte den Kopf, da stand Guo Shiying und lächelte mir listig zu. Ich freute mich sehr und fragte ihn, wie es ihm nach Zhengzhou ergangen war. Er berichtete: Ich bin auf das Staatsgut und hab Freunde besucht, dann bin ich mit dem Fahrrad nach Süden, nach Wuhan und anderswohin. Das Fahrrad ist kaputtgegangen, dann bin ich zu Fuß weiter Erfahrungen austauschen und dann wieder zurück auf das Staatsgut, da bin ich ein paar Tage geblieben. Er fragte, wann ich aus Henan nach Peking zurückgekommen sei. Ich erzählte ihm, dass ich aus Xuchang auch nicht nach Peking zurückgefahren war, sondern ebenfalls nach Süden, ich hatte eine Reise nach Shaoshan, Kanton, Guilin und anderen Orten gemacht und war im großen Bogen nach Peking zurückgefahren. Im Gespräch kamen wir zum Studentenwohnheim, er bat mich, einen Augenblick zu warten, lief hinein, kam mit einigen Büchern in der Hand wieder heraus und gab sie mir. Das sind ein paar Bücher über Genetik, sagte er, lies die mal. Ich sah sie mir an, es waren „Die Evolution des Lebens“ und „Allgemeine Genetik“ von Fang Zongxi und eine von Wu Zhongxian übersetzte „Biometrische Genetik“. Da fiel mir wieder ein, wie wir in Zhengzhou über Mendel und Mitschurin gesprochen hatten, und er gesagt hatte, zurück in Peking werde er mir ein paar Bücher darüber heraussuchen. Ich hatte geglaubt, das hätte er nur so dahergesagt, aber er hatte daran gedacht. Ich nahm die Bücher, ganz beschämt und sehr dankbar, brachte aber nicht fertig, das zum Ausdruck zu bringen. Diese kleine Geschichte zeigt, wie gewissenhaft er war, und wie herzlich er anderen begegnete.
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