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Revolutionäre Jugend
 
   
Zhang Liaoliao
 
   
Der Verrückte[1]
 
   
   

Sie haben ihn schließlich ins Irrenhaus gebracht.

Wir hatten zusammengewohnt, und wir hatten eine stillschweigende Vereinbarung: ich hielt ihn nicht für verrückt, und er wusste das.

Er war ein Einzelkind, hieß Guobao. Er war in eine landwirtschaftliche Produktionsbrigade des Militärs im Nordosten, in der Amurprovinz, verschickt worden. Um ihn da rauszuholen, hatte seine Familie ihn 1975 den Verrückten spielen lassen, ger war als Kranker ausgeschieden und zurückgekommen. Er hatte den Verrückten nur gespielt, aber zur Nachuntersuchung in Peking haben sie ihn mehrere Monate im Irrenhaus behalten, und da hat er tatsächlich die ganze Zeit herumgekichert und wen er auch sah immer nur angegrinst.

Als er herauskam, haben die Eltern ihn mit den besten Absichten, halb im guten Glauben und halb aus Unsicherheit, täglich Tranquilizer nehmen lassen; das Zeug war zehnmal so stark wie Diazepam. Wir wohnten im gleichen Wohnheim, und sein Vater hat mir immer wieder eingeschärft, ich solle aufpassen, dass er abends seine Pillen nimmt.

Ich hab Guobao gefragt, wie er sich dabei fühle, er hat gelacht: Nähm ich das nicht, wär ich nicht so dösig im Kopf.

Darauf hab ich dann was gemacht, ich hab sein Pillenfläschchen in den Abfall geworfen.

Da ist er tatsächlich aufgewacht, bekam Glanz in den Augen.

Wir haben damals in der Bibliothek der Hochschule gearbeitet und auf eine Kunstgewerbeausstellung aufgepasst, einiges war da viel Geld wert, dreifarbige Tang-Vasen, Reisschalen aus der Ming-Zeit, solche Sachen…

Später kam ein Neuer dazu, namens Wen, Wen Cheng hieß er.

Eines Nachmittags hat der eine Porzellanschale aus der Song-Zeit zerbrochen und dazu für die Prüfer auch einen Bericht über sein Versehen geschrieben.

Beim Fegen hat er aber einen Porzellansplitter übersehen, den hat Guobao entdeckt.

Der ist nicht von dieser Schale, hat er gesagt, der ist von modernem Porzellan aus Jingdezhen. Da stimmt was nicht…

Als sich das herumsprach, wurde Wen wütend, um seine Verlegenheit zu verdecken; er sagte, Guobao ist doch verrückt, der redet irre. Das kam wieder Guobaos Vater zu Ohren; und Wen Chengs Reden stützten sich auf einen wahren Satz, nämlich, dass ich Guobaos Medikamenteneinnahme gestoppt hatte. Guobao wurde nach Haus geholt und gab zu, dass er mit den Pillen aufgehört hatte.

Damit wurden alle Verleumdungen wahr, und alles, was Guobao behauptete, war Gerede eines Schwachsinnigen.

Und ich konnte die Sache nicht für ihn aufklären, weil ich ja als derjenige, der vorweg seinen „Irrsinn“ herbeigeführt hatte, der Initiator des Verbrechens gewesen war. Also konnte ich nur schweigen. (Es heißt, Schweigen ist Gold.) Aber Guobao kam jeden Tag zur Arbeit, döste allmählich wieder vor sich hin, immer mehr machten sich mit ihm ihren Spaß, verhöhnten ihn.

Ich hätte gern den Porzellansplitter gefunden, aber der war längst verschwunden. Der Wen, der Dreckskerl, hing immer mit den Vorgesetzten herum, die deckten sich.

Gut war nur, dass ich immer noch mit Guobao zusammen zur Arbeit ging, da war er nicht so einsam. Aber diese mittelalterlichen Tanten bei uns, wenn die in unseren Ausstellungsraum kamen, da taten sie so fürsorglich, das machte ihn immer nervöser. Ich vermute, er hat sich vielleicht auch schon selbst für geisteskrank gehalten. Immer kamen sie mit: „Hast du schon dein Medikament genommen? Wie fühlst du dich jetzt so? Hast du geschlafen?“ Und auf dem Weg hielten sie immer mindestens fünf Meter Abstand von ihm, als ob er sie sogleich umbringen könnte und dafür strafrechtlich nicht einmal verantwortlich wäre.

Das war ihre ständige Rede: „Wenn der jemand umbringt, kostet’s ihn nicht das Leben, er ist ja verrückt.“

So verging die Zeit. Bis eines Tages Guobao lächelnd zu mir sagte: „Ich hab mit den Medikamenten aufgehört, der Arzt hat’s mir erlaubt.“ Ich hab mich sehr gefreut, aber ich hab ihn gewarnt: sag das erst mal niemand, dass nicht … aber er hat sich nicht drum gekümmert, er hielt immer alle Menschen für gut. Wenn ihn jemand gefragt hat: „Hast du heute schon deine Medikamente genommen?“, dann hat er geantwortet: „Ich bin geheilt, der Arzt hat gesagt, ich kann damit aufhören, ich nehm nichts mehr.“

Da war’s auf einmal, als wär der Feind ins Land eingefallen, alle fürchteten sich. Als ob sie dem Guobao seine beiden Hände zum Morden losgebunden hätten. Das war so ein ständiges Getuschel hinter seinem Rücken, alle warteten auf die Katastrophe, die mit Sicherheit eintreten würde.

Und es ging ihnen denn auch nach Wunsch.

Eines schönen Morgens kam Guobao in den Redaktionsraum. Er wollte nach irgendwelchem historischen Material fragen. Im Zimmer befand sich zu diesem Zeitpunkt nur Yuan Yuan, die zu den wenigen gehörte, die nie mitgemacht hatten, wenn die anderen Guobao verspotteten.

Sie war gerade schwanger geworden. Darauf hatte sie lange vergeblich gehofft, und wahrscheinlich deshalb war sie nun sehr vergnügt. Sie sagte zu Guobao: „Nun werd aber nicht verrückt bei mir hier!“

Guobao lachte gezwungen und schubste sie etwas. „Fängst du jetzt auch damit an?“, sagte er. Sie stand hinter dem Tisch, auf dem sich eine Menge Papiere türmten, und stützte sich auf einen Stuhl, der aber nur mit den beiden hinteren Beinen den Boden berührte. Guobao wußte das nicht. Sie stürzte hin, Guobao rannte, um ihr aufzuhelfen, sie ließ ihn nicht und weinte.

In diesem Moment kam plötzlich der für die Redaktion zuständige Bürochef Wang ins Zimmer. Der war von der Sorte, der du aus dem Weg gehst, wenn du ihr auf der Straße begegnest. Nicht dass er besonders massiv aussah, aber er hatte so ein grobes Gesicht.

Ein Blick genügte ihm; er sagte kein Wort, packte Guobao wie ein Hühnchen und warf ihn gegen die Wand. Guobao wurde wütend, packte sich eine Thermosflasche, die auf dem Boden stand, und ging damit auf Wang los, aber der wich ihm aus und schlug seinerseits zu.

Ich war im Nebenzimmer und hörte ein hong! – das war die Thermosflasche, die zerbrach. Ich stürzte in den Redaktionsraum und sah Guobao mitten im Zimmer stehn und Yuan Yuan auf dem Boden sitzen, die Augen voller Tränen. Bürochef Wang lag lang ausgestreckt auf dem Boden und regte sich nicht.

„Was ist denn los?“, schrie ich. Keiner beachtete mich. Plötzlich stürzte Guobao aus dem Zimmer.

Er rannte zum Sanitätsraum und kam so nach drei Minuten mit dem Arzt zurück, Dr. Niu, der den Bürochef abhörte und seinen Blutdruck maß. „Er hat nichts,“ sagte er, „was ist denn passiert?“ „Er ist ausgeglitten,“ sagte Guobao leise und erregt, „er wollte mich packen, aber er ist über den Stuhl gestolpert und gegen den Tisch geschlagen.“

Nur ich hab ihm geglaubt, aber was nützte das schon, sonst hat ihm keiner geglaubt.

Beim Mittagessen redeten alle, Guobao sei übergeschnappt. Eine gerade schwanger gewordene Frau habe er so zu Boden getreten, dass sie eine Fehlgeburt erlitten habe; der Bürochef habe ihr beistehen wollen, da habe Guobao dem eine Thermosflasche so auf den Kopf gehauen, dass der das Bewußtsein verloren habe.

Am Nachmittag kam er nicht zur Arbeit. Aber die Bibliothek gab bekannt: Sein Lohn wird nicht weitergezahlt, aber er behält die Stelle. Das gilt, bis er geheilt ist. Ferner trägt er die Behandlungs- und Pflege- und sonstigen Kosten der Geschädigten.

Yuan Yuan nahm drei Tage Urlaub, dann kam sie wieder zur Arbeit. Es war hart für sie, drei Jahre verheiratet und endlich schwanger. Aber wie sie diesen Beschluss erfuhr, lief sie sofort zur Leitung und gab die Eier zurück und den Malzextrakt und was Guobao ihr sonst geschickt hatte, um sie wieder auf die Beine zu bringen. Sie sagte: „Ich hab mir mit Guobao nur einen dummen Witz erlaubt, die Schuld liegt bei mir, nicht bei ihm. Von seinem Zusammenstoß mit dem Bürochef hab ich nichts mitbekommen.“

Aber wer sollte schon auf sie hören? Der Bürochef lag im Krankenhaus wegen Gehirnverletzung und erklärte: „Solange Guobao nicht rausgeworfen wird, kann ich nicht aus dem Krankernhaus. Ich bin am Gehirn verletzt und geschockt…“

Guobao kam wirklich nicht zur Arbeit, ganze zwei Monate lang, statt seiner wurde ein Zeitarbeiter angestellt.

Eines Nachmittags gab es eine Versammlung der ganzen Belegschaft, über Gehaltserhöhungen. Als es gerade besonders lebhaft herging, war plötzlich alles still. Ich schrak aus meinem Dösen auf und sah hoch.

Guobao stand in der Tür. In der Hand hielt er eine funkelnagelneue Thermoskanne. Die hatte er als Schadenersatz angebracht.

Bürochef Zhu, der die Versammlung leitete, blickte in allen vier Himmelsrichtungen um sich und brüllte dann plötzlich los wie ein wackerer Recke im finsteren Wald: „Was willst du denn hier?“

Guobao lächelte und sagte gar nichts. Nur in seinen Mundwinkeln zuckte es; ich wußte, er hatte wieder sein Medikament genommen.

„Raus!“ Der Bürochef wußte nicht, wohin mit seiner Wut. „Raus! Du darfst nicht wiederkommen! Du bist geisteskrank! Ist das klar?“

Guobao wurde bleich. Plötzlich ging er geradenwegs zu mir, gab mir die Thermoskanne, drehte sich dann um und ging; ich sah auf seinen Rücken, mir schien, er zitterte.

An der Tür blieb er noch einmal stehen, wandte den Kopf und fragte mit klarer Stimme: „Wird mein Gehalt erhöht?“

„Raus!“

Er ging.

Das Ergebnis war, dass die Leitung entschied, ihn in die Psychiatrie zu schicken, und zwar am Morgen des Tages, an dem ich das erfuhr.

Ich lief zu Bürochef Zhu, ich sagte ihm, mit der Entscheidung sei Guobao nicht zu retten, ich sagte, ich wolle mit Guobao zusammen arbeiten und zusammen leben, ich wolle die Verantwortung für ihn übernehmen.

Zhu sah mich an und sagte dann: „Das ist ein Beschluss von höherer Seite.“

Ich sagte: „Ich widerspreche diesem Beschluss.“

Zhu schrie: „Diese Verantwortung kannst du nicht übernehmen! Wenn er jemanden umbringt, wenn er ein Feuer legt, willst du dafür verantwortlich sein? Milde ihm gegenüber ist Grausamkeit gegen das Volk! Er ist wahnsinnig!“

Ich regte mich auch auf, ich sagte: „Dann sperrt mich doch auch ins Irrenhaus, wenn er wahnsinnig ist, dann bin ich’s auch!“

Schließlich hab ich natürlich klein beigegeben. Die Sache war abgetan, da konnte ich nichts mehr klären.

Ursprünglich hatte die Leitung bestimmt, dass er von acht Leuten aus der Belegschaft in die Klinik gebracht werden sollte, aber aus unserer Abteilung wollte außer mir niemand mitkommen, alle fanden sie irgendeine Ausrede. Die Hälfte hatte Angst, die anderen möglicherweise Mitleid…

Ich kam mit. Denn ich wollte nicht, dass die fünf Kerle aus anderen Abteilungen ihn wie Vieh behandelten.

Sie hatten tatsächlich grobe Stricke mitgebracht. Mit denen hätten sie einen Ochsen fesseln können. Dazu hatten sie zwei Knüppel, ursprünglich Griffe von Spitzhacken.

Sie hatten bei Guobao zu Hause ausrichten lassen, er müsse auf eine Versammlung kommen; ich sollte zusehen, dass er sich nicht beunruhigte, und ihn in den Kleinbus einsteigen heißen; wenn er nicht wolle, bleibe nur Gewalt, um „Grausamkeit gegen das Volk“ zu vermeiden.

An diesem Tag war herrliches Frühlingswetter, überall in der Luft schwebten die Flocken der Weidensamen, die Sonnenstrahlen wärmten, aber es war noch nicht heiß. Pünktlich um zehn vor neun kam Guobao zur „Versammlung“. Ich sah ihn, wie er über den Sportplatz kam, er wirkte so schwach und klein. Er sah gar nicht, wie sie alle hinter den Bäumen und an den Fenstern standen und glotzten, was passieren würde. So mager und schwächlich, aber erhobenen Hauptes, ohne nach rechts oder links zu schauen, kam er geradenwegs auf mich zu.

Als er bei mir angelangt war, schien er ein wenig zu lächeln, er sagte: „Ist die Maßnahme gegen mich aufgehoben?“

Ich nickte. „Steig ein, dann können wir reden.“

Er fragte: „Wohin geht’s denn?“

Ich antwortete nicht. Aber er stieg ohne zu zögern ein; er saß am Fenster, ich saß neben ihm. Die anderen stiegen ebenfalls ein und setzten sich hinter uns. Der Wagen fuhr los und rasch aus dem Gelände der Einheit hinaus.

Unterwegs fragte mich Guobao: „Haben sie dir das Gehalt erhöht?“

„Um eine Stufe.“

„Werden sie’s mir auch erhöhen?“

„Mit Sicherheit.“

„Was ist denn das für eine Versammlung?“, fragte er.

„Wenn wir da sind, wirst du’s sehn“, antwortete ich.

An der Abbiegung zur Klinik sah Guobao den Wegweiser. „Nach Norden? Zur Psychiatrischen Klinik.“ Er drehte mir jäh das Gesicht zu: „Dahin?“ Er war blass geworden.

Ich nickte.

Er saß einen Moment wie betäubt. Dann zog er sich die Uhr vom Arm. „Bring die meinen Leuten“, sagte er. „Und noch die Schlüssel…“ Ich spürte, wie die hinter uns nervös wurden. Die Atmosphäre schien zu erstarren.

Wir waren da. Als wir ausstiegen, fragte er mich leise: „Sie werden mich doch nicht elektroschocken? Ich bin nicht krank.“

Ich nickte wieder.

Die Genossen aus unserer Einheit erklärten in der Ambulanz, die Diagnose sei „Geisteskrankheit in Gestalt akuten Irreseins +++“. Darauf erhielt er eine Spritze „hochaktives Chlorpromazin“[2] und wurde dann allmählich ganz konfus; ich half ihm zum Waschraum und in die Krankenkleidung aus weißem groben Tuch.

„Ich werd dich abholen können“, sagte ich. „Ich werd dich bald wieder abholen.“

Zuletzt stützen ihn zwei Krankenwärter zu einer eisernen Türe; als sie aufschlossen, sah Guobao noch einmal zurück. Für einen Augenblick schien er wieder ganz wach.

„Hol mich wieder ab“, sagte er. „Halt dein Wort.“

Die Eisentür schloss sich. Von innen wurde abgeschlossen.

Zurück in der Einheit bekam ich Lob von Bürochef Zhu und anderen aus der Leitung; sie sagten, ich hätte „ein Unglück vermieden, bei dem Menschen zu Schaden kommen konnten“. Zuletzt sagte Zhu: „Wir können ihn nicht zurückkommen lassen, wir können nicht zulassen, dass er wieder etwas anrichtet. Wen willst du an seiner Stelle haben?“

Ich sah ihn an und brachte keinen Ton heraus, ich dachte, bin ich auch verrückt geworden?

„Na, hast du dir das schon überlegt? Wen willst du haben? Du kannst haben, wen du willst.“

„Ich warte auf Guobao“, sagte ich. Dann ging ich. ich wusste, was ich gesagt hatte, würde mich teuer zu stehen kommen; es war mir gleich, ich wollte wirklich auf seine Rückkehr warten, jemanden anders wollte ich nicht.

Jawohl, es war mir gleich. Diese Menschen hatten einen, der sich nicht wehren konnte, in den Brunnen gestoßen und Steine hinterher geworfen, und ich hatte nicht nur das nicht verhindern können, ich hatte bei dieser Schandtat fast noch geholfen. Ich konnte die Eisentür nicht vergessen, wie sie wieder abgeschlossen wurde, und damit der schwache anständige Mensch Vergangenheit war, und vor der Tür waren Menschen, die sich nicht nur selbst, sondern die auch andere betrogen hatten.

Er kam wieder.

Er ging auf mich zu und drückte mir die Hand. Wir brachten beide kein Wort hervor, aber einer von uns weinte.

Das war nicht er, der weinte. Denn das war mein Traum.

[1]    Originaltitel: „Fengzi“ 疯子. Den Originaltext Zhang Langlang auf seiner Website unter //blog.sina.com.cn/s/blog_54ea5d9e0100hkv2. html publiziert.
[2]    Neuroleptikum, verabreicht gegen Wahnvorstellungen.

 
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