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Lao Li |
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Erinnerungen an Xiaoyan |
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(28.10.2009 [„Lamm “]) „…Sie war gerade von der Sägeblattfabrik in eine Werkstatt für Kunsthandwerk versetzt worden. Das hatte sie ursprünglich selbst gewollt, und die Stadtkommission hatte ihr als besondere Gunst gegen die Regel gestattet, während der Lehrzeit die Stelle zu wechseln. “ Das war nun wirklich eine Vorzugsbehandlung. Wie schwer hatten es in jenen Jahren Kinder gewöhnlicher Leute, als Arbeiter in der Stadt zu bleiben. Li selber war „arbeits- und wohnungslos “. Wie konnte Xiaoyan da noch wählerisch sein? Werkstatt für Kunsthandwerk – beneidenswert! Offensichtlich kümmerte sich damals die Stadtregierung noch um ein Kind von Wu Han. (28.10.2009) Wer hatte denn damals eine Wahl? Nur eine Katze [chin.: Mao] brüllte, sie werde grausam das Ameisenvolk fressen… zunächst das Dreifamiliendorf [Serie von Essays, die Wu Han mitverfasst hatte] herauspicken, um einen guten Menschen wegzuräumen! Xuye, meine Mitschülerin vom Xiangshan Ciyuan, hatte das Glück, von der Großen Nördlichen Einöde [in die viele verschickt wurden, in Heilongjiang] zurückzukönnen an eine Werkstatt für Kunsthandwerk … ich wusste, ich hatte nicht die geringste Begabung für Kunsthandwerk, ich ertrug mein kaltes Loch und neidete ihr nicht ihr Glück… (29.10.2009) In der Arbeitskorrekturbrigade[2] wurde Wu Han derart geschlagen, dass es zu inneren Verletzungen kam und er Blut spuckte. Alte Wunden waren regelmäßig noch nicht verheilt, da gab es neue. An einem Sonnabendabend schleppte er sich mit blauen Flecken und Schwellungen am ganzen Körper mühsam nach Hause. Xiaoyan strich dem Vater weinend Salbe auf den Körper. Wu Han zog vor Schmerzen die Brauen zusammen, zwang sich aber zum Lächeln und tröstete sie: „Yan, macht doch nichts, wenn sie den Vater schlagen, dann denkt er an dich, und es tut nicht mehr weh… “ [Wu Hans Frau] Yuan Zhen war seit langem krank. An heißen Tagen musste sie noch ein langes Baumwollkleid tragen. In der Arbeitskorrekturbrigade stand sie feuchte Hitze durch und strengen Winter, beide Beine waren gelähmt. Es gab keinen Arzt, der sie behandelte, die damals vierzehnjährige Xiaoyan fuhr täglich mit dem Fahrrad aus dem Süden der Stadt über 15 km, um die Mutter zu versorgen, und musste noch die Arbeit leisten, die der Mutter zugeteilt worden war. Schließlich sah die Verwaltung der Brigade, dass es wirklich nicht mehr ging, wie sie sich dahinschleppte, und erlaubte, dass sie zu Hause versorgt wurde. Am 17.3.1969 holten Xiaoyan und Wu Zhang sie glücklich nach Hause, sie glaubten, nun wären Mutter und Kinder wieder vereint. Als Wan Li, der im gleichen Haus wohnte, hörte, dass Yuan Zhen heimgekehrt war, ließ er ihr von seinen Angehörigen[3] einen Topf Rote Bohnensuppe bringen, so kamen Yuan Zhen und die Kinder zu einem seltenen Festessen. Wer hätte gedacht, dass dies Yuans letztes Abendessen war! In der gleichen Nacht weckte ihr Keuchen die Kinder auf, die sie schleunigst ins Krankenhaus brachten. Der Arzt dort wusste, dass sie Wu Hans Frau war, hatte Angst davor, sich von ihr nicht deutlich genug politisch abzugrenzen und wagte deshalb nicht, ernstlich etwas zu ihrer Rettung zu tun. Ihr Zustand verschlimmerte sich durch die Verzögerung. Früh am nächsten Morgen erwachte sie aus ihrem Dämmerschlaf. Xiaoyan fragte sie „Möchtest Du etwas essen? Wir haben einen Apfel. “ Yuan Zhen sagte: „Yan, ich hätte gern ein bisschen Reisbrei. “ Wu Zhang ging zum Arzt, um bei ihm über den Zustand der Mutter zu klagen, der Arzt wies ihn kalt ab. Yuan Zhen ging es so schlecht, dass sie weinte, bald darauf starb sie. Die Kinder gingen in den Leichenraum, um ihr die Kleider zu wechseln, sie sahen, dass die Augen der Mutter noch halb offen waren, an den Wangen hingen ihr noch Tränen. Sie lagen auf der Leiche und weinten, ihre Tränen strömten der Mutter auf Gesicht und Körper. In beißendem Wind und bitterem Regen kehrten die mutterlosen Geschwister in die „Familie “ zurück, die nur noch aus ihnen beiden bestand. (29.10.2009) Am 11.10.1969 klopfte man an Wu Hans Wohnungstür. Die beiden Kinder sollten mitkommen, um ihren Vater zu sehen. Als die Kinder sahen, dass ein Krankenhausauto sie holte, hatten sie eine böse Vorahnung. Auf der Intensivstation erklärte ihnen jemand von der Fallgruppe [= der Gruppe, die Wu Hans Fall untersuchte] mit unbewegtem Gesicht: „Euer Vater ist heute morgen gestorben. “ Das kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel, die Kinder erstarrten, dann brachen sie in lautes Weinen aus. Durch ihr Weinen aber fragte die verständige Xiaoyan: „Wieso wollte unser Vater uns nicht sehen? “ Der von der Fallgruppe erklärte ihnen eisig: „Gestern abend wollte er euch sehen, aber wir wussten nicht, wo ihr wohnt. “ Die Kinder schluchzten, auch Ärzte im Raum weinten, als sie das sahen. Die beiden verlangten mehrmals, den toten Vater zu sehen. Jemand, der anscheinend der Leiter der Fallgruppe war, schrie die Geschwister an: „Euer Vater war ein sehr schlechter Mensch, wenn ihr euch nicht von ihm lossagt, bringt euch das nichts Gutes…! Ihr dürft über diese Sache nichts laut werden lassen, mit niemandem reden, sonst habt ihr die Folgen zu tragen! “ Die beiden Kinder, verängstigt, konnten nicht einmal einen Blick auf den toten Vater werfen und bekamen nur eine blutbefleckte Hose mit, das war die letzte Hinterlassenschaft des Vaters. An diesem kalten Herbsttag kehrten die beiden Waisen, das blutige Kleidungsstück vor sich her tragend, mit Tränenspuren im Gesicht nach Hause zurück, heimlich trugen sie auf dem Ärmel am Unterhemd schwarze Trauerbänder [die sie schon für die Mutter angelegt hatten], voller Trauer und Empörung über die unendliche Ungerechtigkeit; aber bei wem hätten sie damals Klage führen sollen? Xiaoyan und der kleine Zhang hatten ihre Eltern verloren, sahen keine Freunde um sich, waren bettelarm, hatten nur einander. Xiaoyan war ein von klein auf von den Eltern zärtlich geliebtes Kind; als aber Wu Han „bekämpft “ wurde, Yuan Zhen krank im Bett lag, musste sie für die Familie die Kleider waschen, das Essen zubereiten und für Mutter und Bruder sorgen; nacheinander starben die Eltern, und sie war erst 15, mit einem erbärmlich kleinen Unterhalt musste sie sich um Essen und Kleidung für sich und den elfjährigen Bruder kümmern; lebhaft und vergnügt war sie gewesen und wurde nun trübsinnig. Schwester und Bruder mussten Hohn und Beschimpfungen ertragen, wurden geschlagen und getreten und litten unter Hunger und Kälte. Die seelische Qual und das harte Leben waren für die beiden Waisen schwer zu ertragen. Sie konnten sich nur an die verstorbenen Eltern halten. Xiaoyan stellte die Urne mit der Asche der Mutter an den Kopf des Bettes, zu beiden Seiten hängte sie von den Geschwistern geflochtene kleine Blumenkränze und dazwischen eine Skizze von der Mutter, die sie gezeichnet hatte. Sie sah im Traum fast jede Nacht die halb geöffneten Augen und die Tränen auf dem Gesicht der toten Mutter. Umso mehr hasste sie die Menschen, die sie und den Bruder zuletzt nicht mehr hatten den Vater sehen lassen. Dann fand sie ein 1965 aufgenommenes Bild der ganzen Familie, und an einem klaren Morgen ließ sie sich von zwei Kameraden helfen, Yuan Zhens Reste im Badachu-Park zu begraben. Jedesmal an Qingming (dem Totengedenktag) gingen die Geschwister dann und fegten das Grab, und Xiaoyan verbrannte davor Briefe, die sie den Eltern geschrieben hatte und ihnen nie mehr schicken konnte. Der Bergwind verwehte die Asche und schien den Eltern, die solches Unrecht erlitten hatten, nun das Gedenken der Kinder zuzutragen. (29.10.2009) Im Juni 1973 führten übermäßige Reize und langes Grübeln dazu, dass sich Xiaoyans Geist verwirrte; sie sagte zu Leuten, mit denen sie zu tun hatte: „Der Vater ist nicht gestorben; ich habe ihn da noch in der Zeitung gesehen. “ Sie fragte jemanden, den sie sah: „Kann jemand noch weinen, wenn er gestorben ist? “ Dann ging sie immer wieder zum Pekinger Revolutionskomitee und verlangte ein abschließendes Urteil über Wu Han, verlangte seine Überreste und seine beschlagnahmten Bücher und fragte: „Was für ein Verbrechen hat mein Vater eigentlich begangen? “ Die Viererbande-Leute bekamen es mit der Angst, nahmen sie fest unter der Beschuldigung, dass sie die Sicherheit führender Leute gefährde, und sperrten sie ins Gefängnis. Am Tag ihrer Festnahme bekam sie eine Blinddarmentzündung, sie wollte gerade ins Krankenhaus zur Operation und trug den entsprechenden Nachweis des Krankenhauses bei sich. Die Helfershelfer der Viererbande aber behaupteten, sie simuliere. In der Haft wurden ihr Fußfesseln angelegt, und für die Blinddarmentzündung bekam sie nur Schmerzmittel; sie weinte und bekam darauf [das Neuroleptikum] Chlorpromazin gespritzt. Sie wurde allein in eine Zelle für ein Dutzend Menschen gesperrt und häufig geschlagen, Schneidezähne wurden ihr ausgeschlagen, an der Stirn wurde ihr eine offene Wunde geschlagen. Am Mittherbstfest wollte Xiaoyan im Schmerz vor Trauer und Zorn nicht mehr leben. [Gemeint ist wohl das Mittherbstfest 1973, am 11.9.] Die Qualen im Gefängnis hatten sie an Körper und Geist versehrt, ihre Bewusstseinsspaltung verschlimmerte sich, und sie wurde noch in die Psychiatrie gebracht. In den dunkelsten Stunden vor dem Morgengrauen hat die gerade zweiundzwanzigjährige Xiaoyan am 23.9.1976 nochmals als letzten Protest den Tod gewählt. Von Wu Hans vierköpfiger Familie ist in diesen zehn Katastrophenjahren allein Wu Zhang übriggeblieben.
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