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Revolutionäre Jugend
 
   
Lao Li
 
   
Erinnerungen an Xiaoyan
 
   
(Teil 4)
 
   

(1)

Es folgt ein Abschnitt aus den Erinnerungen eines jungen Mädchens an vergangene Geschichten.

Am Abend des 23.9.1976 radelte ich nach dem Abendessen sehr vergnügt zu Xiaoyan…

Ich hatte sie einige Monate zuvor bei N. kennengelernt. Ihre Unbefangenheit und Sorgfalt, und wie herzlich sie andere behandelte und ganz auf sie einging, nahmen mich bald sehr für sie ein. Vielleicht aus einer Art nicht weiter begründbaren Gemeinsamkeit der weiblichen Psyche heraus wollte ich gern rasch ihre Freundin werden und vielleicht auch ihr etwas helfen, so gut ich es vermochte. Aber ich weiß nicht wie, sie waren alle so vorsichtig, so dass ich lang keine Gelegenheit fand, sie zu besuchen, obwohl ihre Wohnung von meiner nur durch einen Wasserlauf getrennt war. Erst vor einer Woche war ein Freund auf meinen beharrlichen Wunsch hin mit mir zu ihr gegangen. Ich erinnere mich, wie sie da auf dem Bett saß und unbefangen erzählte, wie sie sich am linken Arm geschnitten hatte, und Blut aus der Wunde geflossen war; anscheinend hatte sie da irgendein interessantes Experiment gemacht. Als ein anderer andeutete, sie solle der Realität ins Auge sehen, hatte sie ernst gesagt: „Ich glaube, dass ich eine Zukunft habe. “ All das zog mich an ihr an, auch wenn ich sie erst zweimal gesehen hatte.

Am Rand der Kurve des Wegs, der zu ihrem Haus führte, sah ich Grüppchen, die irgendetwas diskutierten; ich schenkte dem keine Beachtung. Als ich zu ihrem Haus einbog, sah ich von fern vor ihrem Treppenaufgang einen Rettungswagen stehen und drum herum viele Leute. Ich dachte plötzlich, das könnte etwas mit Xiaoyan zu tun haben. ich stieg ab und fragte zwei Mädchen, was geschehen sei. Sie sahen mich aufmerksam an, eine sagte leise: „Es heißt, es ist Wu Xiaoyan; weiß nicht, was mit ihr ist. “

Ich spürte, wie mir das Blut zu Kopf stieg, ich dachte, das sieht nicht gut aus, ihr ist was zugestoßen. Gut möglich, dass Polizei oben ist, schwer zu sagen, ob mir was passiert, wenn ich hoch geh’, aber wenn jemand gebraucht wird, kann auch sein, dass ich irgendwas tun kann. Also stellte ich, während die Leute mich anstarrten, das Rad ab und stieg die Treppe hoch. Auf der Treppe war niemand. Die Wohnungstür stand weit offen, auf dem Flur war eine Trage mit einer Decke abgestellt, in Xiaoyans Zimmer waren mehrere Leute. Ich drängte mich hinein.

Xiaoyan lag auf dem Bett, auf dem sie das letzte Mal gesessen hatte, sie lag mit dem Gesicht zur Decke, sie war barfuß, trug eine graue Hose, am Oberkörper ein mattblaues kurzärmeliges Unterhemd, die Arme lagen ausgestreckt am Körper… daneben stand ein Arzt der Pekinger Rettungsstation.

……………

Wu Zhang stand ans Fenster gelehnt und starrte mit völlig ausdruckslosem Blick auf seine Schwester.

Die Leute im Zimmer drängten sich alle möglichst nach hinten; ihre Gesichter zeigten ihren Schmerz. Es schienen alles Nachbarn zu sein. Eine etwa fünfzigjährige Frau sagte ununterbrochen: „Doktor, nehmt sie mit und tut was für sie! “ Aller Augen waren auf den Arzt gerichtet. Er trug weiße Hosen, um den Hals hing ihm ein Stethoskop, er blieb unbewegt. Er wollte den Leuten nur noch begreiflich machen, dass Xiaoyan tot war. „Es gibt keine Hoffnung mehr, “ sagte er und zog Xiaoyans Lider nach oben, „Sie sehen, ihre Pupillen sind schon weit, ihr Herz hat aufgehört zu schlagen… unter diesen Umständen hilft es auch nichts, wenn wir sie mitnehmen. “

Die Leute fanden sich damit nicht ab und flehten ihn weiter an. Es ist ja auch wirklich schwer, Menschen davon zu überzeugen, dass jemand, der am Vormittag noch völlig lebendig war, auf einmal kein Leben mehr hat. Jemand schlug vor, die Verwandten zu holen; die Fünfzigjährige sagte: „Warum nur ist Haiping noch nicht zurück, um diese Zeit muss er sonst schon zu Hause sein. “ – „Er wird gleich kommen. “

Mit diesem Flehen, diesen Diskussionen verging viel Zeit…

Ich fuhr nach Hause, ich dachte, ich sollte sofort Leute unterrichten, die die Angelegenheit verstanden, Ratschläge geben konnten. N. fiel mir zuerst ein. Ich rief die Vermittlung an,[1] aber N. war gerade jetzt nicht zu Hause. Ich wollte laufen und konnte es nicht, wollte sitzen und konnte es nicht, konnte mich nur mit undeutlichen Hoffnungen in diesem Kämmerchen herumdrehen.

Gegen halb 10 hörte ich endlich N.s Stimme am Telefon.

…. (Im vorstehenden Auszug habe ich einige Kleinigkeiten stilistisch geändert.)

(2)

Der N. in vorstehendem Text bin ich.

Ich legte den Hörer auf und ging nach Haus. Einiges von dem, was ich am Telefon erfahren hatte, war noch wirr und undeutlich, doch innerlich war mir in großen Zügen klar, was geschehen war.

Zu Hause fragte mich die Mutter, wegen was für einer dringenden Sache ich denn so spät noch telefoniert hätte. Ich sagte vorsichtig und Worte vermeidend, die jene, die mich angerufen hatte, ebenso behutsam vermieden hatte, dass es mit Xiaoyan wohl nicht gut gegangen sei.

Meine Mutter schüttelte den Kopf und seufzte.

Es war spät in der Nacht, ich konnte nicht einschlafen, ich dachte an Xiaoyan, dachte an Wu Zhang und Haiping und was am nächsten Tag getan werden musste

(3)

Am nächsten Tag nahm ich in der Fabrik Urlaub und suchte zunächst Manzi auf. Er hatte damals noch keine Arbeit und war zu Hause. Die anderen waren alle auf der Arbeit und zunächst nicht zu erreichen.

Wir besprachen uns kurz und beschlossen, dass ich zunächst zu L. gehen sollte. Sie und Xiaoyan wohnten im gleichen Block, sie musste mehr und Genaueres wissen.

Ich rief L. an und verabredete mich mit ihr am Qianmen.

Ich war zuerst da, L. noch nicht, ich wartete; mir fiel ein, dass an einem Abend vor drei Jahren Xiaoyan und ich uns hier getrennt hatten – weil ich „nicht an die Zukunft dachte “.

L kam, sie bestätigte Xiaoyans Tod.

Sie sagte mir, Haiping sei gestern abend nach 7 nach Hause gekommen, Xiaoyan sei da schon tot gewesen. Die Leute hätten gefürchtet, dass er etwas Verrücktes tun würde und ihm nach Kräften zugeredet, nicht ins Zimmer zu ihrer Leiche zu gehen. Er habe sich gefügt. Binnen kurzem sei Polizei gekommen und habe den Raum versiegelt, bis jetzt dürfe niemand hinein. Wie sich Xiaoyan umgebracht habe, ob sie sich überhaupt mit Sicherheit selber umgebracht habe, werde von den Leuten heftig beredet und sei auch ihr nicht völlig klar.

Mittags ging ich zu dem jungen Mädchen, das mich tags zuvor angerufen hatte. Ich rief Jiu und andere Betroffene an und sagte, sie sollten nach der Arbeit gleich zu Manzi kommen. Ich sagte nicht, warum, und sie fragten auch nicht.

Bei Manzi warteten wir auf die anderen. Wir dachten an G., fanden aber, man brauche ihn zunächst nicht zu unterichten —, er war seit bald einem Jahr geisteskrank.

Wir fragten uns, wie die anderen auf diese Nachricht reagieren würden, und ich sagte zu Manzi, ich möchte keine Tränen sehen.

Seit dem Anruf am Vorabend hatte ich keine Träne geweint, ich hatte nicht einmal das Bedürfnis zu weinen.

Gegen Abend kamen nach und nach die anderen. Ich berichtete, was ich wusste.

Es gab keine Tränen, nur kurzes Schweigen.

Wir diskutierten, was alles geschehen könnte, wir machten uns vor allem Sorgen um Wu Zhang und Haiping. Alle meinten, man solle möglichst rasch nach ihnen sehen.

Alle überlegten sich genau, welche Schwierigkeiten es geben könne, keiner ließ irgendwelche Gefühle zum Ausdruck kommen.

Wir hatten noch nicht hundertprozentig erfasst, was geschehen war, aber alle meinten, im Grunde könne es sich nur um Selbstmord handeln. Obgleich dies Ereignis jeden sehr erschütterte, kam es für keinen unerwartet.

Abends ging ich heim und schrieb folgende Worte:
„Xiaoyan ist gestorben. “

(4)

Am nächsten Tag, dem 25.9., morgens gegen 9, kam ich zur Dingjiakeng Nr.2, 4. Eingang.

Ich schloß das Fahrrad ab und stieg die vertraute Treppe hoch.

Diese Treppe war ich hunderte Male hochgegangen, aber diesmal schien sie viel kürzer und auch viel ruhiger.

Ich hatte mir noch nichts zurechtgelegt, da stand ich vor der Tür zur Wohnung 401.

Ich klopfte.

Haiping öffnete.

Als er mich sah, kamen ihm die Tränen.

Ich weinte auch.

Wu Zhang war nicht zu Hause, er war gegangen, jemanden anrufen.

Aus Haipings Mund erfuhr ich alles.

Am 23. morgens waren Wu Zhang und Haiping beide zur Arbeit gegangen.

Mittags gegen drei Uhr hatte sie jemand die Treppe hinuntergehen sehen. Später sagte ein Verkäufer aus dem Laden in der Nähe aus, dass Xiaoyan in ihrem Laden eine Flasche [des Insektizids] Dichlorvos gekauft hatte; sie kannten sie dort.

Gegen sechs Uhr war Wu Zhang von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte die Schwester gefunden, sie lag im Schlafzimmer auf dem Fußboden.

Nach Aussage von Fachleuten fühlen Menschen, die Dichlorvos trinken, ein starkes innerliches Brennen und werfen sich darum oft automatisch auf den kalten Boden …

Bei der Durchsuchung am Abend hatte die Polizei in der Abfallkiste unten im Haus eine leere Dichlorvos-Flasche gefunden.

Haiping sagte mir, dass er Xiaoyans Leiche nicht gesehen habe. Zunächst hatten ihm die Leute in bester Absicht zugeredet, er solle sie nicht ansehen; warum er sich gefügt hatte, verstand er selbst nicht. Später war die Polizei gekommen, hatte den Raum mit der Leiche versiegelt und niemand hineingelassen. Um Mitternacht war ein Auto gekommen und hatte die Leiche fortgebracht.

Und jetzt, sagte Haiping, sei sein größter Wunsch, Xiaoyan noch einmal zu sehen und für ihr Begräbnis zu sorgen. Aber er fürchte, dass andere das Begräbnis besorgen und dabei einen Weg suchen würden, ihn auszuschließen.

Ich hatte das dunkle Gefühl, dass diese Befüchtung berechtigt sein könnte.

Wu Zhang kam zurück. Er sagte zu Haiping, er wolle die dritte Tante aufsuchen. Haiping sagte, er solle sich beeilen und bald wiederkommen.

Als Wu Zhang fort war, kam Yang, ein Freund von Haiping. Als Haiping ihn sah, kamen ihm wieder die Tränen.

Ich wandte mich ab und ging in ein anderes Zimmer; das erste, was ich dort sah, war ein Foto von Xiaoyan und Haiping.

Yang und ich saßen bei Haiping, und er redete lange, lange Zeit, er allein. Tränen standen ihm in den Augen, er erzählte, wie Xiaoyan vor ihrem Tod noch an alles gedacht hatte, was Haiping ihr morgens aufgetragen hatte, bevor er zur Arbeit ging: sie hatte die Blumen ins Zimmer geholt, sie hatte die Fenstervorhänge richtig zugezogen, das Zimmer sauber gemacht … er erzählte sehr viel, einiges mehrmals … keiner unterbrach ihn, es konnte ihn auch keiner unterbrechen.

Er kam auf den versuchten Selbstmord Xiaoyans vor einigen Monaten zu sprechen. Sie hatte das ganze Perphenazin[2] genommen, das im Haus war, und ein Testament hinterlassen: Haiping solle sie bei der Mutter beerdigen.

Damals hatte Haiping sie ohne nachzulassen wieder und wieder mit kaltem Wasser übergossen und so gerettet, aber diesmal …

Diesmal hatte sie kein einziges Schriftzeichen hinterlassen, und das Testament vom letzten Mal hatte die Polizei gestern abend ebenfalls mitgenommen.

Es klopfte an die Türe.

Herein kamen ein Polizist und zwei Arbeiter-Milizionäre.
„Haiping, was bist du noch hier? “ Der Polizist klang scharf.

Haiping sagte, bis Xiaoyans Begräbnis erledigt sei, gehe er keinesfalls.
„Wu Zhang? “ fragte der Polizist.
„Er ist zur dritten Tante gegangen. “
„Wo wohnt seine dritte Tante? “

Haiping gab ihm eine Adresse.

Der Polizist wandte sich zu Yang und mir: „Was macht ihr beide hier? “
„Wir sind Freunde von Haiping und Xiaoyan. “

Der Polizist nahm unsere Ausweise, ging zum Tisch und notierte den Inhalt auf einem Stück Papier. Er gab uns die Ausweise aber nicht zurück, sondern steckte sie sich in die Tasche.

Yang trat zu ihm und verlangte seinen Ausweis zurück, der Polizist gab ihn nicht her, es sah nach einer Rangelei aus; Haiping und ich mahnten Yang, abzulassen.

Der Polizist musterte uns mit bösem Blick, sagte zu Haiping: „Du verläßt sofort dies Haus; wenn du nicht verschwindest, kommen wir heute abend und räumen dich weg “, drehte sich um und ging, zusammen mit den beiden Arbeiter-Milizionären.

Haiping sagte zu uns, die Worte des Polizisten eben bestätigten seine Befürchtung, aber
„Gleich was geschieht, ich muß sie noch einmal sehen. “

(5)

Yang ging, er musste zur Mittagsschicht. Ich blieb und leistete Haiping weiter Gesellschaft.

Haiping war völlig durcheinander, er erzählte ununterbrochen alle möglichen Dinge aus Xiaoyans Leben. Zuletzt verstummte er und starrte mit verweinten Augen zum Fenster hinaus.

Ich sah ihn an und fand keine Worte, um ihn zu trösten.

Die Atmosphäre im Zimmer war erstickend.

Ich stand auf und sagte zu Haiping: „Ich habe schon mehr als einen Tag lang nichts gegessen und nicht geschlafen. Ich mach uns was zu essen. “

Haiping schüttelte kraftlos den Kopf. „Ich mag nicht essen. “

Ich mochte auch nicht essen, ging aber wie sonst in die Küche, wusch Reis und Gemüse und machte ein Mittagessen, das niemand brauchte.

Beim Essenmachen konnte ich mich etwas von diesem schweren Druck befreien.

Als ich fertig war, aß ich ein bißchen und brachte mit Mühe auch Haiping dazu, ein wenig zu essen.

Nicht lange danach kam Wu Zhang zurück, und hinter ihm drängte sich ein Dutzend Leute herein; der Anführer war gut Dreißig, hatte ganz kurz geschnittene Haare und trug einen Kaderanzug – später hörte ich, er hieß Wang und war Kader im Werkschutz der Werkstatt für Kunsthandwerk. Die anderen waren junge Kerle, die meisten trugen dreckige Arbeitskleidung; damals war vor einem halben Monat der Vorsitzende [Mao] gestorben, deshalb trug jedermann noch eine schwarze Armbinde, aber Wang und diese Arbeiter hatten diese Binden abgenommen. Offensichtlich waren sie angewiesen worden, das zu tun; wer das befohlen hatte, wollte ihre Haltung zu Xiaoyans Tod klarstellen.

Wu Zhang sagte zu Haiping: „Sie wollen mich die Schwester sehen lassen und dich nicht. “ Dann weinte er.

Haiping fragte: „Wo kannst du sie sehen? “

Wu Zhang schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. “

Wang trat vor und drängte Wu Zhang, rasch Xiaoyans Kleidung zusammenzusuchen. Wu Zhang ging zur Kommode und hatte noch keine Schublade aufgezogen, als er den Kopf auf die Kommode schlug und in lautes Weinen ausbrach.

Haiping fragte: „Kann ich mit? “

Wang antwortete: „Geht nicht. “
„Warum nicht? “
„Eure Beziehung war illegal. “

Haiping holte die Heiratsurkunde heraus, die Xiaoyan nicht lange zuvor von der Werkstatt für Kunsthandwerk ausgestellt worden war. Wang sah sie nicht einmal an.

Haiping sagte: „Wenn wir nicht als verheiratet gelten und sie doch tot ist, können dann Kameraden und Freunde sie nicht noch einmal sehen? “
„Was nicht geht, geht nicht “, antwortete Wang kalt. „Du kannst nicht hin, das haben wir und ihre Verwandten vereinbart. “

Dies „wir “, das verstand sich, ohne dass es gesagt wurde, waren die Werkstatt, die Behörde und dazu die Polizei, und was hätte Wu Zhangs dritte Tante unter solchem Druck noch sagen können – offensichtlich hatte der Polizist am Vormittag die Adresse der Tante verlangt, um hastig zu „vereinbaren “, wie das Begräbnis ablaufen sollte.

Inzwischen waren einige der Arbeiter, die sich in den Flur gedrängt hatten, ins Zimmer gekommen und hörten still zu, wie Haiping und Wang stritten.

Offensichtlich hatte Wang so viele kräftige Kerle mitgebracht, um mit Haiping leicht fertig werden zu können, aber angesichts des schluchzenden Wu Zhang und Haipings beharrlicher Forderung, Xiaoyan zu sehen, senkten sie schweigend die Köpfe. Auf nicht wenigen Gesichtern spiegelten sich Erbarmen und Mitgefühl.

Wang teilte diese Gefühle entschieden nicht. Ungeduldig drängte er:
„Wu Zhang, was machst du denn? Such die Sachen zusammen! “

Ich rief Haiping zur Seite und sagte: „Wie es aussieht, schaffst du’s nicht, willst du unbedingt hin? “

Haiping sah mich mit einem vagen Blick an. Ich weiß nicht, ob er mich überhaupt gehört hat.

Wir müssen aus dieser Sackgasse raus, dachte ich.

Ich trat zu Wang und sagte zu ihm: „Wenn Wu Zhang sonst keinen Einwand hat, außer dagegen, dass man Haiping nicht Xiaoyan sehen lässt, dann kann ich Haiping überreden, nicht mitzugehn. “

Wang sah mich an, antwortete nicht, drehte sich um und ging.

Nach kurzer Zeit kam er zurück und sagte zu Haiping: „Du willst unbedingt mit? Wird dir erlaubt. “
„Wirklich? “ Haiping konnte es nicht recht glauben.

Wang nickte. „Wir haben Weisung von oben eingeholt. “ Dann wandte er sich zu mir: „Und du? “
„Kann ich auch mit? “, fragte ich.
„Wenn du willst, kannste mit. “
„Ich komm mit. “

Diese plötzliche Wendung verwunderte deutlich nicht nur uns, sondern auch die Arbeiter.

Einige von ihnen halfen Haiping und Wu Zhang, die Sachen zusammenzusuchen. Ich konnte nichts tun, stand dabei und schaute zu.

Haiping fragte mich plötzlich: „Sag mal, kann es nicht sein, dass sie uns jetzt aufs Revier locken und festnehmen? “
„Das kann nicht sein! “ Einige Arbeiter beeilten sich, uns zu beruhigen.

Ich lachte. Ob nun Wang die Wahrheit sagte oder log, uns blieb doch gar nichts übrig, als ihm zu folgen.

Haiping und Wu Zhang begannen, aus der Schublade eins nach dem anderen die Kleidungsstücke hervorzuholen, die Xiaoyan zu Lebzeiten am liebsten gehabt hatte; ein Arbeiter sagte leise zu Haiping: „Gibst du ihr kein Spielzeug mit? “

Haiping hörte es, ging in das andere Zimmer und brachte einen kleinen Bär und einige Muscheln an.

Als die Sachen beisammen waren, nahm Haiping noch die Decke, mit der sich Xiaoyan gewöhnlich zugedeckt hatte.

Wir gingen mit den Arbeitern und Wang zusammen nach unten.

Vor dem Haus hielten ein Jeep und ein Laster, Marke Beijing 130. Wang kroch in den Jeep, die Arbeiter und wir stiegen auf den Laster. Wu Zhang und Haiping hielten jeder einen Teil der Kleidungsstücke und die Decke.

(6)

Die beiden Wagen fuhren hintereinander bis auf den Hof der Chongwen-Polizeiwache und hielten vor dem Eingang eines Gebäudes.

Wang sprang aus dem Jeep, ging hinein und kam einen Augenblick später wieder heraus, zusammen mit dem Polizisten, der am Vormittag unsere Ausweise mitgenommen hatte.
„Li Haiping, und du auch “, zeigte der Polizist auf uns, „absteigen! “

Wir stiegen vom Laster.
„Mitkommen! “

Er brachte uns in einen Anmeldungsraum, wies auf eine Bank an der Mauer, befahl „hinsetzen! “, drehte sich um und ging.

Haiping sagte zu mir: „Ich hab keine Angst, dass sie mich festnehmen, aber dass ich Xiaoyan nicht mehr sehen kann. “
„Denk nicht an sowas “, sagte ich.

Nach einer Weile kam der Polizist zurück. „Li Haiping, mitkommen. “

Haiping folgte ihm, ich blieb im Anmeldungsraum allein zurück und wartete.

Nach einigen Minuten sah ich aus dem Fenster des Anmeldungsraums den Jeep und den Laster losfahren. Auf dem Laster saßen Wu Zhang und diese Arbeiter, Haiping war nicht drauf. Wir waren in die Falle gegangen.

Wir waren in die Falle gegangen, aber ich war eigentlich weder ärgerlich, noch hatte ich Angst; ich hatte wohl längst begriffen, dass wir nur hierher gekommen waren, um in die Falle zu gehn. Im Gegenteil, wäre es keine Falle gewesen, hätten sie uns wirklich mit Wu Zhang mitkommen lassen, dann hätte mich das wohl überrascht.

Ich saß allein auf der Bank, ich war innerlich ungewöhnlich ruhig, alles Gefühl schien wie betäubt.

Im Raum war außer mir nur der Wachhabende, der am Schalter saß und mit einem etwa fünfzigjährigen Mann sprach, der draußen vor dem Schalter stand.

Der Mann war gekommen, um sich nach seinem Sohn zu erkundigen. Der Sohn war vor einigen Tagen von jemandem geschlagen und verletzt worden, der Schläger war festgenommen worden, und der Sohn auch.
„Wenn dein Sohn geschlagen worden ist, warum wird er dann festgenommen? “, fragte der Wachhabende unaufgeregt.

Der Mann vor dem Schalter lachte. „Das … das war doch gerade in der Zeit, als der Vorsitzende verschieden ist, … darum … muß untersucht werden, untersucht … “
„Wenn du das begreifst, was fragst du noch, geh heim, wart auf ’nen Brief! “, rief der Polizist und schloss den Schalter.

Als der Vorsitzende verschied, waren von der Regierung sämtliche Vergnügungen klar verboten worden; jemanden zu verprügeln war natürlich eine Straftat, wenn wer geschlagen wurde, bestand aber auch der Verdacht einer Vergnügung; so was hörte ich jedenfalls heraus.

Mit diesem kleinen Zwischenspiel war die Warterei nicht so öde.

Ich holte eine Zigarette heraus, fand aber in keiner Tasche ein Streichholz und überlegte gerade, ob ich den Wachhabenden um Feuer bitten sollte, als der Polizist hereinkam, der Haiping mitgenommen hatte.

Von der Schärfe, die seine Stimme am Vormittag gezeigt hatte, war nichts mehr zu spüren, er verhielt sich ruhig, gleichgültig.

Er sagte zu mir, ob es sich bei Wu Xiaoyans Tod um Selbstmord oder Fremdverschulden handele, sei noch nicht geklärt; zu einer solchen Zeit solltet ihr euch nicht hineindrängen und Unruhe stiften, das ist hier nicht eure Angelegenheit; und so weiter und so fort.

Ich hörte ihm brav zu, inzwischen war mir klar, alles, was sie nach Xiaoyans Tod getan hatten, zielte darauf ab, Weiterungen zu vermeiden. Eben deshalb auch hatten sie Haiping gehindert, mitzukommen und Xiaoyan zu sehen.

Er fuhr fort: Du bist Arbeiter.

Ich sagte, ja.

Dann musst du brav zur Arbeit gehn und dich nicht um Dinge kümmern, die dich nichts angehn, verstanden?

Ich sagte, verstanden.

Er zog meinen Ausweis aus der Tasche und gab ihn mir zurück, dann stand er auf und brachte mich zur Tür.

Und denk dran, sagte er, dieser Tage solltest du nicht zur Dingjiakeng gehn.

Ich sagte, ich muss aber mein Fahrrad holen, das ist noch dort.

Er sagte, das kannst du holen.

Ich fragte ihn, welchen Bus ich zur Dingjiakeng nehmen sollte, er sagte es mir und zeigte mir die Bushaltestelle.

Und dann sagte er etwas, das mich überraschte.
„Du musst verstehen, was ich meine.. dass man ein paar Tage nicht zur Dingjiakeng gehen soll, heißt keineswegs, dass ich dagegen wäre, dass du wieder zu Wu Zhang gehst, du bist aber älter als er, musst einen guten Einfluss auf ihn ausüben, solltest dich um ihn kümmern, ihm helfen… “ er wandte den Kopf, sah woanders hin. „Ja… vier Menschen waren das in dieser Familie, und jetzt ist nur noch einer übrig… “

(7)

Ich fuhr zur Dingjiakeng, holte mein Fahrrad und fuhr direkt zu Manzi. Ich berichtete, wie der Tag verlaufen war, und sagte, das solle er den anderen weitergeben.

Selber war ich völlig erschöpft und wollte nur noch nach Hause und schlafen.

Zwei Tage lang war ich tatsächlich so müde, dass ich nicht einmal die Kraft hatte, die Frage zu bedenken, die bedacht werden musste:

Xiaoyan war tot.

Jemand, der vier Jahre lang die ganze Zeit unter uns gelebt hatte, war gestorben, nicht mehr da, verschwunden.

Was war das eigentlich?

(8)

Einige Stunden nachdem ich die Chongwen-Polizeiwache verlassen hatte, holte Haipings Mutter ihn nach Hause.

Früh am nächsten Tag setzte sich Haiping aufs Fahrrad und fuhr von zu Hause zum Ostvorstadt-Krematorium, um Xiaoyan noch einmal zu sehen, aber als er ankam, war ihr Leichnam bereits verbrannt.

(9)

Zuletzt möchte ich den letzten Abschnitt der Erinnerungen jenes jungen Mädchens zitieren, das als einzige außer Wu Zhang die tote Xiaoyan zu Gesicht bekommen hat.
„Ein Gesicht ohne den mindesten Ausdruck eines Gefühls, jeder Muskel zurückgefallen in seinen ursprünglichen Zustand. Die Haut totenblass, ein durchsichtiges Weiß, die Lippen dunkelpurpur, fast schwarz. Ihre Augen, dieses gewöhnlich so kindlich arglose Augenpaar, hatte sie ein wenig aufgerissen; ohne Erregung starrte sie zur Zimmerdecke; das war keineswegs mehr Sehnsucht nach dem Leben, sondern es schien, als warte sie auf etwas. Man sah auf diesem Gesicht nicht einen Schatten von Schmerz, Trauer oder Zorn … ihre Lippen waren ein wenig geöffnet, als hätte sie noch etwas sagen wollen …

[1]    Private Telefone waren damals noch selten. Wohnblocks hatten deshalb oft eine Vermittlung, die Angerufene ans Telefon holte, auch Botschaften ausrichtete.
[2]    Neuroleptikum zur Behandlung von Wahnvorstellungen.

 
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