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Revolutionäre Jugend
 
   
Zhang Langlang
 
   
1   Unsere geistigen Quellen[1]
 
   
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1960 hat Zhang Jiuxing mich beredet, vom Gymnasium Nr.101 auf das Gymnasium an der Fremdsprachenhochschule in Peking zu wechseln. Jiuxing lernte Französisch, spielte Gitarre, sang, schrieb Gedichte, malte; war hartnäckig und eifrig, hatte große Augen unter buschigen Brauen; geschlossen, zogen seine Lippen einen geraden Strich. Klein, aber stahlhart trainiert, gab er sich nie geschlagen; bei allem wollte er stets das Beste geben. Sie nannten ihn den „kleinen Napoleon “ Seine Gedichte waren wie ihr Verfasser – kraftvoll gleich der Brandung. Wäre ich auf der 101 geblieben, so hätte es vielleicht keine „Sonnentruppe “ gegeben. Aber auf der neuen Schule ging es nicht mehr so streng zu, zumal nun während der Hungersnot. Mit leerem Bauch weitet sich der Geist; und die Obrigkeit hatte damals andere Sorgen.

Es begann damit, dass er und ich insgeheim Gedichte schrieben. Unmittelbarer Anlass dazu war, dass er sich in Chen Naiyun verliebt hatte. […]

Über die Hälfte von uns kamen damals aus Kader- oder Künstlerfamilien; von den Grausamkeiten und Härten der Gesellschaft wussten wir wenig; zumindest glaubten wir, das hätte mit uns nichts zu tun. Auch in der Schule ging es uns nicht um Macht und Gewinn; wenn sich andere nur nicht in unsere kulturellen Spiele mischten, waren wir’s schon zufrieden. Unser „Salon “ hat sich in einer Notzeit herausgebildet; dazu sind vor allem zwei Menschen zu erwähnen.

Erstens meine Mutter, Chen Buwen. Sie kannte jedes Mitglied unseres Salons; einige davon besuchten sie regelmäßig zu langen Gesprächen. Selbst hatte sie in ihrer Jugend [in den 30er Jahren] Beiträge für die Zeitschriften Lunyu [Gespräche] und Yuzhoufeng [Weltraumwind] und auch Artikel für die Nankinger Zeitung Fulun ribao geschrieben. Nach der Befreiung veröffentlichte sie Novellen in der Renmin wenxue [Volksliteratur], Essays und Berichte im Xin guancha [Neuen Beobachter], konnte aber niemals völlig frei und ungehindert sagen, was sie sagen wollte; sie setzte ihre Hoffnung nun in unsere Generation. Sie unterrichtete damals Literatur an der Zentralen Kunsthochschule und hatte sich mit vielen literarisch interessierten jungen Leuten angefreundet. Jedes Wochenende drängten sich gewöhnlich ihre Studenten in unserer Wohnung. […]

Sie hat eigenhändig mir ebenso wie Zhang Jiuxing und Yang Xiaomin geholfen, unsere Gedichte und Aufsätze zu korrigieren, sie hat uns auch ständig wertvolle Hinweise für unsere Lektüre gegeben. Sie hat sich damals an fast allen Aktivitäten unseres Salons beteiligt. Neben bekannten Werken der Literatur hatten wir im Haus auch manches Buch, das sie selbst ausgewählt hatte, wie Lotis Pêcheur d’Islande und Mérimées Vénus d’Ille, die damals nicht zu bekommen waren – es waren alles alte Ausgaben aus der Zeit vor der Befreiung, die sie aufbewahrt hatte.

Außerdem hatte sie erstaunlicherweise noch fast vollständige Sätze von Monatszeitschriften der 30er Jahre bewahrt, von Lunyu, Yuzhoufeng, Taibai, der Xiaoshuo ribao [Novellenzeitung]. All das war für unseren Durst eine unschätzbare Quelle.

Zweitens der Autor Haimo*. Als „Rechtsopportunist “ gebrandmarkt, war ihm körperliche Arbeit auf dem Land zugewiesen worden, aber die Schufterei, verbunden mit der schlechten Ernährung damals in der Hungersnot, hatten schließlich zu seiner halbseitigen Lähmung geführt, und man erlaubte ihm, zur Erholung in die Stadt zurückzukommen. Er nahm an fast all den poetischen Abendunterhaltungen bei uns teil. Um Ärger zu vermeiden, nannten wir ihn „Dritter Onkel “; er hieß ja Zhang mit Familiennamen, da fiel das nicht auf. Er konnte sich immer noch sehr begeistern, sprach druckreif und hatte viel Humor – wo sonst gab es so jemanden im Peking dieser Jahre? Daher stand er bei uns bald im Zentrum. Zhang Jiuxing hat ihn später auch zu Hause besucht und seine Gedichte mit ihm diskutiert, auch Jiang Ding’ao ist oft bei ihm gewesen und hat mit ihm Gespräche über die Literatur und das Leben geführt. Aber die allermeisten haben erst sehr viel später erfahren, wer er gewesen war.

Im Kreis der „Sonnentruppe “ haben mich viele ganz im Ernst als ihren „geistigen Führer “ bezeichnet; diese beiden Menschen sind dagegen wirklich unsere geistigen Führer gewesen.

Unsere „geistigen Quellen “ waren Bücher, Bilder und Filme.

Bücher – Übersetzungen – an erster Stelle: außer auf die oben schon genannten, die wir im Hause hatten, stürzten wir uns auch auf die in Haimos Besitz. Remarques Arc de Triomphe und Liebe Deinen Nächsten waren darunter, Balzacs Gambara: Le curé de village und anderes, kaum zu Findendes, in Ausgaben aus der Zeit vor der Befreiung. Etwa Den Grafen von Monte Christo hätte man damals im ganzen Land nicht auftreiben können.

Außerdem hatte mein Vater einen Leserausweis auch für den „internen “ Teil der Pekinger Bibliothek, mit dem er zahlreiche damals in China verbotene Bücher ausleihen konnte, wie den Decamerone oder Gides Nourritures terrestres. Gleichzeitig kaufte er viele Bücher aus den gelb oder grau gebundenen „internen “ Serien; so kamen wir an The Catcher in the Rye, an On the Road, an The Room at the Top, an Look Back in Anger – das ich in die Schule mitnahm und begeistert weiter empfahl; ich habe es von Anfang bis Ende meinen Freunden vorgelesen. Jewtuschenkos Babi Yar und andere Gedichte; Aksyonovs Roman Fahrkarte zu den Sternen mochten wir zwar auch – überhaupt haben wir die ganze „Interne Bibliothek “ durchgelesen – aber am meisten geliebt haben wir, am meisten bewegt haben uns The Catcher in the Rye und On the Road.

Wir waren damals derart verrückt nach diesen Werken, dass einige den Catcher in voller Länge abgeschrieben haben, ich immerhin zur Hälfte, als Schreibvorlage, an der ich mich üben wollte. Dong Shabei konnte große Teile von On the Road auswendig. Wir hatten damals einfach das Gefühl, dass ihre geistige Welt uns am nächsten stand.

Wir lasen und lasen, und das Gelesene war unser hauptsächliches Gesprächsthema. Bücher zu finden war deshalb auch sehr wichtig. Unser – der Fremdsprachenhochschule angegliedertes – Gymnasium lag nicht weit von der Liulichang. Nach dem Unterricht trieben wir uns dort in den Antiquariaten herum. Dort habe ich mir eine Auswahl moderner amerikanischer Dichtung gekauft und bin auch zum ersten Mal an Freuds Einführung in die Psychoanalyse geraten. Sartre kam später; ihn habe ich in interner Ausgabe erst gelesen, als ich schon auf der Universität war.

An zweiter Stelle kamen die Bilder, in Bildbänden aus dem Ausland, vor allem in den russischen in Chen Naiyuns Familie; wir hatten aus Frankreich mitgebrachte; wir sahen uns auch oft in der Bibliothek die Bände aus aller Herren Länder an, die man dort durchblättern durfte. Natürlich gingen wir auch in die wenigen Ausstellungen. Sich an chinesischer Malerei zu erfreuen gab es häufiger Gelegenheit; wir wohnten damals ja neben der Liulichang.

An dritter Stelle standen die Filme. Die Filme, die damals aus dem Ausland eingeführt worden sind, hatten auch von heute her gesehen schon ein gewisses Niveau; und wir fanden diese westliche Art von Humor aufregend – „Goldrausch “, „Monsieur Verdoux “ und „Lichter der Großstadt “ von Chaplin: aus Deutschland „Wir Wunderkinder “, „Rosen für den Staatsanwalt “ und das „Spukschloß im Spessart “; aus Spanien den „Schattentrupp “ (El Batallón de las sombras, 1957); aus Frankreich „Rot und Schwarz “, die „Nächte der Cabiria “; die österreichische „Traumrevue “ – all das haben wir alle viele Male gesehen; Zhang Runfeng konnte fast alle Texte dieser Filme auswendig.

Ja, den Körper haben wir uns damals dürr gehungert, aber den Geist genährt und gestärkt!

Ein starker Schaffensdrang trieb uns, wir wollten uns ausdrücken. Der Wettstreit nur in unserem kleinen Kreise befriedigte uns ganz und gar nicht. Weit wollten wir unsre Flügel breiten!

Chen Naiyun aber war realistischer. Einmal, nach einer poetischen Soirée bei uns zu Hause, sagte sie mir offen: „Man sollte sich etwas in Acht nehmen. Sonst könnte es Ärger geben. “ Das ging mir damals zu einem Ohr rein und zum anderen raus.

Eigentlich war mir damals bewusst, dass es gefährlich war, Gedichte zu schreiben, sich mit Literatur zu befassen. Woher dann solcher Wagemut?

Wir alle hatten von klein auf die Woche im Schulinternat verbracht und von der Gesellschaft draußen keine Ahnung. Die Gesellschaft, wie sie sich in unserem Kopf darstellte, und auch die große Welt, das waren alles Vorstellungen aus Spielen, die in der Literatur aufgeführt wurden. Ein neugebornes Kalb hat auch noch keinen echten Tiger gesehn und keine Angst vor ihm.

Meine Mutter und Haimo machten in ihren Gesprächen keinen Hehl aus ihrer Geringschätzung der Bürokraten und ihrer Verachtung der Parteiknechte in der Kultur; diese Einstellung war mir von klein auf vertraut. „Zhou Yang “, sagten sie z.B., „ist eine Totenfratze “. Zhou Yang* stand damals ganz hoch oben. In Yan’an hatte er die Versammlung geleitet, in der mein Vater Zhang Ding als Spion angeklagt wurde. Meine Mutter hatte keine Angst, davon zu reden. Nicht nur einmal hat sie uns erzählt, wie damals […] der Sänger Du Shijia auf die Tribüne sprang und rief: „Genosse Zhou Yang, wenn Zhang Ding Spion ist, haut mir den Kopf ab! “, wie Zhou Yang langsam und gelassen entgegnete: „Genosse Du Shijia, wieviel ist dein Kopf wert? “, und Du Shijia am nächsten Tag festgenommen und zum Spion erklärt wurde, durchdrehte und auf dem Rückzug eine Unaufsamkeit der Wärter ausnutzte und in einen Brunnen am Wegrand sprang – ohne zu ahnen, dass der Brunnen trocken war; er holte sich nur eine blutige Nase und Beulen am Kopf. […] Solche Geschichten hab ich viele gehört. Im Schwange der Jugend hat mir das nicht nur keine Angst gemacht – im Gegenteil, ich fühlte: Wer Künstler sein will, der braucht den Geist dieser Helden! Und ich hatte ja auch noch Haimos Vorbild vor Augen. […]

[1]    Auszug aus Zhang Langlang: „‘Taiyang zongdui’ chuanshuo ji qita “ “太阳纵队” 传说及其它 (Die Geschichten der „Sonnentruppe “ und anderes), in Chenlun de shengdian: Zhonggou ershi shiji qishi niandai dixia shige yizhao 沉沦的圣殿—中国20世纪70年代地下诗歌遗照 (Versunkne heilge Hallen: Hinterlassene Photographien von Chinas Untergrunddichtung in den 1970er Jahren), hg.von Liao Yiwu 廖亦武. Urumchi: Xinjiang qingshaonian, 1999 (im Netz unter: //www.tianya.cn/ publicforum/ Content/books/1/61865.shtml). – Bei den in diesem Text genannten ausländischen Werken handelt es sich wohl durchweg um chinesische Übersetzungen.

 
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