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Revolutionäre Jugend |
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Zhang Langlang |
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1 Ruhiger Horizont[1] |
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Wie ich gehört habe, träumten in den 1970er Jahren viele von Literatur und Kunst. Überall im Lande, unter Strohdächern, im Licht von Öllampen, den Bauch voller Ideale, zerfurchten sie sich die Stirnen, schrieben, malten, sangen – lauter Idealisten, jeder Form und Farbe, aus allen Schichten, mit den unterschiedlichsten Schicksalen. Fast alle, die mit Worten spielten, waren Menschen dieser Art. Sie überdachten Altes, sie schufen Neues, sie versuchten, irgendein Muster herauszuholen, einen Sinn zu finden. Vielleicht haben sie damals in ihrer verqueren Weise das Richtige getroffen und unbewusst eine große Arbeit für Chinas Literatur und Kunst auf sich genommen. So bildeten sich in jenen Jahren unter einer Oberfläche, die eine weite kulturelle Wüste schien, Rinnsale, die allmählich unterirdisch zu einem großen geistigen Strom zusammenflossen, der dann in den Achtzigern mit einem Male machtvoll hervorbrach und eine neue kulturelle Epoche eingeleitet hat. Vielleicht weil ich gern schrieb, hatte ich eine Art literarischen Salon organisiert, in dem wir bei einem Glas Bier oder einer Tasse Tee ungescheut daherredeten, und so war ich damals ins Gefängnis geraten. Mag sein, dass man das in jenen Jahren auch als einen indirekten Beitrag zur literarischen Tradition ansehen konnte. Es war wohl so, wie es Altmeister Lu Xun ausgedrückt hat: Kennen wir Samen auch unsere Blätter nicht, leisten wir nicht dennoch unseren Beitrag zum Schlamm, auf dem die großen Talente wachsen? Das war ich in jenen Jahren, Schlamm der untersten Dreckschicht. Silvester 1969 habe ich, wie viele andere junge Leute, im Schein einer Öllampe auf das neue Jahr gewartet. Nur waren die meisten auf dem Land, auf Bauernhöfen. Ich war im Gefängnis. War es für gewöhnlich in der Zelle auch noch so kalt, in dieser Nacht musste der Ofen vor Hitze glühen. Das mochte bedeuten, dass sich im kommenden Jahr unser Los unverhofft zum Besseren wenden würde. So etwas wie unseren Ofen dort hat der verehrte Leser gewiss noch nicht gesehen. Er war ganz aus Lehm, „Bodenfegerwind “ nannte man das Ding. Ein Bodenfegerwind hatte weder einen besonderen Feuerraum noch einen Ofenrost, er hatte überhaupt keine metallischen Teile, wie sie andere Öfen haben. Er war ganz aus Lehmklumpen zusammengefügt. Die Leute dort wussten aus langjähriger Erfahrung, wie man den durch die besondere Konstruktion des Ofens gebildeten inneren Hohlraum nutzen musste. Am Boden hatte er ein ganz eigenartiges Luftloch. Einen Blasebalg brauchte er nicht; wenn er in Betrieb ging, gab es Wind, daher der Name. Der „Bodenfegerwind “ war ein Patent der Armen dieser Gegend. In dieser Nacht strahlte er majestätisch rotglühend nach allen Seiten. Das war im großen Gefängnis von Raoyang, Provinz Hebei. Ich war nie zuvor an diesem Ort gewesen, einer Kreisstadt des Bezirks Hengyang, in altem Partisanengebiet, einem der Gebiete, in denen der Widerstand gegen die Japaner am heftigsten gewesen war. Die alten Bauern dort erinnern sich bis heute an Lü Zhengcao, an Cheng Zihua, heldenhafte Burschen, und ihre Kämpfe mit blankem Schwert. Dass wir Polithäftlinge aus Peking gerade dorthin aufs Land geschickt wurden, das hatte der Befehl Nr. 1 des Stellvertretenden Befehlshabers bestimmt;[2] denn das ganze Land, das ganze Volk bereitete sich damals auf den Kampf vor. Ja, bereitete sich vor, und deshalb wurden wir, diese Pekinger Häftlinge, vorbereitet, um als Häftlinge in Raoyang zu dienen. Haltung und Verhalten unserer Partei in der damaligen Lage entsprachen völlig ihrer Haltung und ihrem Verhalten damals, als Yan’an zu schützen war. In jeder Hinsicht galt: „Seid bereit! “. Unbedingt gehörte dazu, dass man auf Literaten vorbereitet war, in deren Köpfen es Probleme gab. Als man Yan’an schützte, hatte man für Wang Shiwei* eine Axt bereit, das genügte. Jetzt gab es gar zu viele Wang Shiweis, man hatte nicht genug Äxte für alle bereit. Also wurde von den Leuten unsrer Sorte eine Gruppe nach der anderen aus Peking abtransportiert. Zu diesen Gestalten, bei denen es im Kopf nicht richtig roch, gehörten „alte und junge Pocken-Lius “[3] – Ying Ruocheng* und seine Ehefrau Wu Shiliang*; der erste Geiger des Hauptstadtorchesters Yang Bingsun*, die Sänger Liu Bingyi*, Zheng Zuocheng*, Wang Peng* und so fort. Natürlich gehörten dazu auch solche namenlosen Ratten wie mein guter Sieben und ich. Solch unzuverlässige Gestalten, die nicht wussten, was sich für sie ziemte und was nicht, in altes Partisanengebiet zu verschicken, das diente der Verwaltung unter Kriegsbedingungen. Denn dies Gebiet hatte revolutionäre Traditionen und Erfahrungen. Später hörte ich von einem alten Funktionär dort: Im Kampf gegen die Japaner war die abendliche Aufgabe dieser Partisanen meist, „Nester zu säubern “, das heißt, Abweichler zu beseitigen. Gegen Mitternacht drangen einige Jugendliche der Kreistruppe ins Haus der Zielperson ein, verbanden ihr die Augen, verstopften ihr den Mund, zerrten sie aus dem Dorf heraus, verkündeten ihre Verbrechen und erledigten sie dann in Handarbeit, um Patronen zu sparen. Einmal wollten sie ein Dorf von einem des Landesverrats Verdächtigen säubern, fanden ihn aber nicht vor und holten deshalb seine Frau heraus. Um einen Verräter niederzuringen, konnte man seinen Einfluss auch vernichten, indem man seine Frau in einen alten trockenen Brunnen warf! Bevor man sie in den Brunnen stieß, griffen die Jugendlichen aber alle zu und „patschten sie ab “. Auch der kurzsichtige Kamerad Wang drängte sich zum „Abpatschen “ vor. Die Genossen lachten: „Blindes Huhn, sieh doch hin, das ist deine Tante! “ Die Leute aus diesen Dörfern sind vielfach miteinander verwandt. Wang erklärte: „Mir doch egal! Ich patsche die Frau eines Landesverräters ab! “ Aber die anderen hielten ihn zurück: „Wir dürfen das alle, nur du darfst es nicht. Landesverräter hin oder her, die Generationen darfst du nicht durcheinander bringen! “ Als ich das hörte, begriff ich: Die Sorte Menschen, die uns hier gefangen hält, hat Erfahrung. Oben habe ich von einem großen Kreisgefängnis gesprochen, aber das war nur die traditionell übliche Bezeichnung. Da wir Häftlinge noch nicht verurteilt worden waren, wurden wir nicht in einem Gefängnis festgehalten, sondern in einem dem Amt für öffentliche Sicherheit unterstehenden Polizeigewahrsam. Der Chef dieses Kreispolizeigewahrsams hieß Zhang, wie ich. Er hielt sich noch an die Traditionen des alten Partisanengebiets: Er trug keine Uniform. Seine Lieblingskleidung war ein vorn in der Mitte zugeknöpfter langer schwarzer Baumwollrock zur traditionellen Pumphose, in der Hand hielt er eine nachgebaute Mauser-Pistole, so wie man sie eben trug in jenen Jahren, als es gegen Japan ging. Das war vermutlich seine große Zeit gewesen, die er nie vergessen würde. Raoyang ist überall mit salzhaltigem Boden geschlagen und leidet unter großem Wassermangel; die ganze Gegend war „wie wenn du auf einen Gurkenstiel beißt – bitter! “, keiner der Kreise der Gegend hatte je viel zu beißen gehabt. Es gab Kreise dort, in denen, wenn die Ernte eingebracht war, das ganze Dorf „sich unter die Armen mengte “, betteln ging und das eigne Getreide für schlimmere Zeiten aufbewahrte. Im Kreis Raoyang wäre ihnen das peinlich gewesen, sie mochten nicht das Gesicht verlieren. Auch sie „mengten sich unter die Armen “ im ganzen Land, aber sie bettelten nicht, sie betrieben eine besondere Kunst ihrer Dörfer: sie beschnitten Schweine. Sie durchstreiften mit ihren Beschneidungsmessern das ganze Land, aßen ihr Brot in tausend fremden Häusern, ein wenig wie fahrende Ritter alter Zeit. In der Silvesternacht ließen sie in diesen armen abgelegenen Dörfern unzählige Kracher los, als ob das nichts kostete. Denn aus dem salzigen Boden ließ sich Salpeter gewinnen. Deshalb war „Kracher wickeln “ hier zu einem wichtigen Nebenerwerb geworden. Die Kracher, die sie in dieser Nacht losließen, hatten sie alle selbst hergestellt, darum konnten sie so eifrig böllern. Wir waren Ende 1969 aus dem Pekinger Polizeigewahrsam (dem berühmten K-Turm und dem Lumpenturm) hierher verlegt worden und seitdem innerhalb von knapp drei Monaten fast verhungert. Keiner von uns hätte mehr rennen können. Es gab auch gar nichts zu rennen. Wurde einer krank, hatte er nicht einmal mehr die Kraft, Fieber zu bekommen. Wir waren, spottete einer, menschliche Stecken geworden, auch unsere Bazillen waren alle verhungert. Man saß auf dem Kang [einem mit Matten belegten, meist gemauerten Podest, auf dem man auch schläft] und schwatzte. Einer entdeckte, dass jedem von uns (selbst Herrn Li Youxi, der am dicksten gewesen war), auch wenn er die Oberschenkel so eng wie nur möglich zusammenstellte, doch dazwischen noch Raum genug blieb, um eine Faust hindurchzuschieben. Das Fett auf den Schenkeln war gänzlich verbraucht. Im Pekinger Polizeigewahrsam waren pro Kopf und Tag 400 Gramm Korn vorgesehen. Ein Kornknödel wog 100 Gramm, die 400 Gramm waren also gerade vier Knödel, zwei Mahlzeiten am Tag. Schon in Peking waren wir so hungrig gewesen, dass uns der Bauch auf dem Rückgrat zu kleben schien. Dem Vernehmen nach hatte seinerzeit der Pekinger Polizeichef, Herr Feng Jiping, diese Ration festgelegt. In der Kulturrevolution wurde auch er in Gewahrsam genommen, und es hieß, nun bereue er das ohne Ende: Wer hätte denn gedacht, dass man mit vierhundert Gramm Korn nicht hinkommen würde? Außer diesen Kornknödeln gab es täglich noch eine Suppe. Welches Gemüse grad am billigsten war, das war drin. Fanden sich gar noch ein paar Fleischkrümel, so war’s ein Festmahl. Freilich, waren mal die „Umstände hervorragend gewesen “, so konnte man zum Jahreswechsel noch eine kleine Aufbesserung erhoffen. So waren wir nun umerzogen worden – wir dachten täglich nur ein Wort: Essen. Außer wenn wir schliefen, knurrte uns den ganzen Tag der Magen an. In Raoyang waren’s dann täglich drei Mahlzeiten. Die Ration war aber die gleiche: 400 Gramm, morgens und abends je 100 Gramm Reissuppe, mittags zwei Fladen von, angeblich, je 100 Gramm. Selbst Bauern aus der Gegend, die da zu uns gesperrt wurden, erstarrten, wenn sie zum ersten Mal dies Essen sahen, solch einen erbärmlichen Fraß hatten selbst sie sich nicht vorgestellt. Manche brachen auf der Stelle in Tränen aus, andere schlugen den Schädel gegen die Wand. Frisch Eingesperrten brannte der Magen. Unsere Reissuppe hätte man als Spiegel benutzen können, und unsere Leiber hatten wir uns fast durchsichtig gehungert. Aber die Leute aus der Gegend wussten sich besser zu behelfen als wir, sie erfanden die „Hungerbrecher “-Methode: Je hungriger du bist, umso mehr musst du aufsparen. Von den zwei Fladen am Mittag durfte man höchstens einen essen, musste die Zähne zusammenbeißen und den anderen aufbewahren. In der zweiten Nachthälfte, wenn man vor Hunger nicht mehr schlafen konnte, durfte man ihn, Stückchen für Stückchen, langsam genießen. So konntest du den quälenden Magen etwas beruhigen. Um die Häftlinge am Selbstmord zu hindern, mussten die Eingesperrten in jeder Zelle nachts reihum wachen, jeder zwei Stunden. Die Soldaten auf dem Gebäude wurden ebenfalls alle zwei Stunden abgelöst, sie gingen auf dem Dach hin und her und konnten beliebig Häftlinge aufrufen. In dieser Kreisstadt gab es kein einziges gemauertes Gebäude mit Spitzdach, fast durchweg waren es gelbliche Lehmhäuser mit Flachdach. Nur Behörden und Häuser reicher Leute waren gemauert. Unser Gefängnis war wichtig, daher ein Ziegelgebäude, aber ebenfalls mit Flachdach. Das Dach konnte man wie einen Platz nutzen, man konnte darauf Korn trocknen oder Wache schieben. Für die Aufpasser war das bequem, sie liefen da oben immer hin und her und riefen manchmal eine Zellennummer; der wachhabende Häftling musste dann sofort vor der Zellentür stehen und laut rufen: „Nummer zwei, fünf Häftlinge, alles in Ordnung. Soundso hat Wache. “ Du kannst dir denken, hättest du dir da nicht etwas Korn zum Kauen aufgehoben, wie hättest du in der dunklen Nacht deine langen zwei Stunden Wache überstanden? Unser „Bodenfeger “ war eine Nummer größer als in den anderen Zellen, wir bekamen auch doppelt so viele Eierbriketts. Diese Briketts waren nicht mit einem Sieb ausgeformt, sie waren daher nicht rund, sondern man hatte Kohlestaub und gelbe Erde zu einem Brei gemischt, dahinein mit unseren Essgeschirren mondsichelförmige Stücke geschnitten, das Ganze auf den Boden geschlagen – fertig. Anfangs waren wir skeptisch – in diesem Kohleschlamm steckte gewiss mehr Lehm als Kohle, er war durchaus nicht schwarz, sondern hatte so ziemlich die gleiche Farbe wie die Uniformen der Neuen Vierten Armee, aschgrau. Ich dachte, wie soll man Briketts dieser Farbe zum Brennen bringen. Aber siehe da, sie brannten gut, die aschfarbenen Eier glühten nur so. Um zu sparen, bekamen wir jede Woche nur 100 Eierbriketts, konnten also im Schnitt täglich 14 verbrennen, die kleinen anderen Zellen nur sieben. Das reichte nicht für 24 Stunden. Deshalb mussten wir am Abend den Ofen verschließen, bis zum Frühstück am nächsten Tag, dann konnten wir wieder Feuer machen. Wurde der Ofen verschlossen, so wurde zunächst ein halbes Eierbrikett zu feinem Staub zerrieben, mit Wasser zu Kohleschlamm vermischt, damit die Ofenöffnung verklebt, und darin wurde dann mit einem dünnen Stäbchen ein kleines Loch gebohrt. Durch dies Loch sah man rot die Kohlenglut, die dann bis zum nächsten Tag hielt. So fror des Nachts das Wasser, das in unseren Schüsseln übrig war, zu Eis, und um den Mund hatten wir einen Ring von Reif, den der Hauch aus unseren Mündern die Nacht über gebildet hatte. Wer Wache hatte, fror so, dass er sich auf den Ofen setzte. Deshalb hatten die wattierten Jacken der Häftlinge jede auf dem Rücken einen gelb gebrannten Fleck, wie ein Fleck in der Zimmerdecke von einem Leck im Dach; den hatte die Wärme eingebrannt, die von dem bisschen Glut durch das kleine Ofenloch aufgestiegen war. Ich lag damals mit dem Geiger Yang Bingsun in einer Zelle, einem Eckraum an der Außenwand des großen Gebäudes, in dem man gut zehn Mann untergebracht hatte. In den kleinen anderen Zellen waren je fünf oder sechs Mann. Wir hatten nicht einmal einen Kang. Auf dem Boden lag Weizenstroh, das waren unsere Matten. Der Gewahrsamschef sagte zu uns, dies Weizenstroh hier sei was Seltenes, halte besser als Reisstroh Kälte und Feuchtigkeit ab, sei das beste Material für Bodenmatten. Er hatte gut reden; für mich, rheumatisch herzkrank wie ich war, konnten diese Bodenmatten von noch so „hoher Qualität “ sein, ich kam in dem lichtlosen feuchten Loch nicht zur Ruhe. Freilich hatte das hier auch seine guten Seiten. In Peking war’s zwar ein als menschliche Behausung gedachtes Gebäude gewesen, mit elektrischem Licht, trocken und hell und mit genug Kornknödeln. Aber wir standen unter strenger Aufsicht, mussten andere kollektiv „kritisieren und bekämpfen “ oder „uns selbst umerziehen “ und die übrige Zeit „studieren “ und dabei gerade sitzen wie ein Schreibpinsel. Wollte man sich nur mal mit jemand unterhalten, musste man das so vorsichtig anfangen wie ein Agent im Untergrund. Hier war das ganz anders, niemand kümmerte sich weiter um einen. Wer lesen wollte, mochte lesen, wer sich unterhalten wollte, durfte das auch; wenn du nur keinen Ärger machtest; sie verlangten nur, dass du brav bliebst. Wo begegnet man sich nicht im Leben! Yang Bingsun hätte nie gedacht, dass er „weit, weit von Moskau “, in Raoyang, seinen alten Freund Li Youdian wiedersehen würde, den er zuletzt in Moskau getroffen hatte. Wieviele Leute konnten denn in jenen Jahren das Land verlassen? Yang aber hatte in zwei Ländern studiert, Geige, in der Sowjetunion und in Ungarn. Wir beide gehörten zur gleichen Strafsache, beide hatten wir Witze über die „Fahnenträgerin der Kultur “[4] weitererzählt. Li dagegen hatte sein Leben lang keinen politischen Witz gerissen. Er war in Shanghai ein bekannter Koch gewesen, und dann war das Außenministerium zufällig auf ihn verfallen, hatte ihn ins Ausland geschickt, zu den Botschaften in Moskau und Budapest. In der Kulturrevolution hatte ihn jemand im Ausland angezeigt, mit dem Essen, das er gekauft habe, da sei was nicht koscher gewesen, und so hatten die Revolutionäre im Pekinger Ministerium Order gegeben, ihn unter Bewachung nach Hause zu bringen. Als er das erfuhr, war er blass geworden; in jener feuerroten Zeit zurückeskortiert zu werden, bedeutete wohl kaum was Gutes. Also hatte der sanftmütige, gute, folgsame Li sich um Mitternacht aus der Botschaft geschlichen, um „sich verräterisch dem Feinde zu ergeben “, war aber schließlich gefasst worden und zurückgekommen. Yang hatte seinerzeit auf Einladung der Botschaft als Künstler seinen Beitrag zur internationalen Politik geleistet. Li war für das Festessen nach dem Konzert verantwortlich gewesen. Man bedenke die Umstände, wie sie damals aufgetreten sind, was sie gegessen, getrunken haben mögen. In Raoyang hat dann der eine groß die Augen aufgerissen und den anderen angestarrt, und der hat die Augen zusammengekniffen, statt Tee haben sie abgekochtes warmes Wasser getrunken und auf die nächste Mahlzeit Schwarzer Li-Kui-Fladen[5] gewartet. Die Fladen hier waren, wenn sie in den Kessel kamen, rötlich schwarz fast wie Schokolade, abgekühlt dann schwarz wie Eisenklumpen. Das waren ganze Hirsefladen, „ganze “ soll heißen, dass sie alles hineingeworfen haben, was beim Mahlen herausgekommen ist, Kleie und Spreu nicht ausgenommen. Das war schon ein wahrhaft gesegnetes Korn, und darum war’s so schwarz. Yang und einige andere Zellengenossen nahmen alle irgendwelche Hefte und Stifte verschiedenster Art und setzten sich, ordentlich, wie sich’s gehörte, rund um Li, und Li erklärte in seinem dickem Wuhan-Akzent die Rezepte für ein berühmtes Gericht nach dem anderen. Das war eine wichtige kulturelle Aktivität! Schließlich waren sie, je mehr sie schrieben, umso hungriger, und je hungriger sie waren, umso mehr schrieben sie. Man schaue doch nicht auf den guten Li, wie er so hungerte, dass sein großer Schädel auf dem dürren Halse wackelte; aber wie er die Rezepte vortrug, die Rezepte eines großen Kochs jener Jahre, in klaren, einfachen Worten, alles wie es sich gehörte, Satz für Satz, zu hastig nicht und nicht zu langsam! Der Experte ist eben Experte, jedes Rezept war vollendet unvergleichlich. Ob nun chinesische oder westliche Speisen, jede davon hätte einen Platz in einem Menu höchsten Ranges verdient. So also wurde die kulinarische Kultur unseres Landes einmalig erfolgreich überliefert. Ich esse zwar auch gern gut, bin aber durchaus kein Gourmet, hatte also nie viel Interesse an Esskultur. Und jetzt war ich noch entsetzlich hungrig, und da saßen die und führten in aller Form ein geistiges Festmahl auf; das hätte meinem Magen noch übler mitgespielt. Deshalb hab ich mich nicht dazugesetzt. Yang meinte, da läg ich ganz falsch, ideelles Essen lenke ab und mindere den Schmerz im Bauch; und außerdem, sagte er, wenn du diese Künste gut lernst, kannst du dein Können zeigen, wenn du wieder draußen bist, kannst dir selber mal was Gutes tun. In unserer Zelle waren wir damals, glaube ich, so zwölf, dreizehn Mann; sieben, acht davon nahmen an diesen geistigen Festmählern teil. Ich hab dagegen einigen jungen Leuten Geschichten erzählt. Wenn ich mit einer fertig war, haben sie die lebhaft diskutiert. Plötzlich sagte ein Junge, Duan Duo hieß er: „Erzähl nicht immer nur, bring uns mal was bei über Literatur, wie man Gedichte schreibt. “ Duan Duo war damals wohl noch keine 20. Halb verhungert wie er war, wirkte er noch jünger. Er hatte festgestellt, dass ich mir mit meinen Geschichten eine gewisse Position errungen hatte. Das galt dort auch als eine Art Fähigkeit; und um andere Fähigkeiten zu üben, fehlten dort die Voraussetzungen. Aber wenn man sich in Literatur üben wollte, also reden und schreiben üben wollte, hatte man dafür in Raoyang durchaus die Voraussetzungen. Wer sich darin nicht übte, vertat die Zeit. Einige andere junge Männer schlossen sich seiner Bitte an, drängten mich einstimmig und lautstark, ihr Lehrer zu sein. Duan Duo hatte gute Voraussetzungen für dieses Studium. Wegen seiner Klassenherkunft war er nicht zur Universität angenommen worden, nur für eine Fachmittelschule. Literatur hatte er schon immer geliebt, aber weiter keine Gelegenheit gehabt, sich damit viel zu befassen. Ein anderer interessierter Zellengenosse war Wang Tao. Das war ein bekannter Beau aus dem Qinglongqiao-Viertel. Dort wohnten lauter richtige Mandschus der Acht Banner.[6] Wir begannen also damit, dass ich ihnen Gedichte vortrug. Vor Jahresende wurden wir neu verteilt, Yang und Li kamen beide in andere Zellen. Ich blieb mit meinen jungen Pekinger Zuhörern in diesem großen Raum, und wir begannen, Gedichte aufzuschreiben und zu beurteilen. Duan Duo war ein sehr kluger Junge. An der Fachmittelschule hatte er Elektrotechnik gelernt. Ich ließ ihn zunächst einige neue und einige alte Gedichte auswendig lernen und zeigte ihm, was diese Gedichte eigentlich bedeuteten, wo ihre Schönheit lag, wie der Dichter diesen Zeilen seine Gefühle anvertraut hatte. Von Su Dongpos „Nach Osten fließt der Große Strom “[7] bis zu Liu Yongs „Regenglocke “[8], von Puschkins „Wenn dich das Leben enttäuscht hat “[9] bis zu Eluards „Kaum Entstellter “[10], und so weiter und so fort, hab ich alles hervorgeholt, was mir noch einfiel, und er hat das alles memoriert. Während die anderen schwatzten, lernte er auswendig. Um alles richtig zu behalten, hat er dann die ganze Last, die er sich gerade aufgeladen hatte, wieder über Wang Tao ausgekippt. In wenigen Monaten hatten er und Wang Tao und dazu noch der junge Qi aus der Jingshan-Ost-Straße eine Unmenge von all dem memoriert, was ich ihnen da hingeworfen hatte. Dann haben die Jungs sich, angeführt von Duan, jeder ein Heft gemacht, in das sie die Gedichte geschrieben haben. Und dann, nachdem ich aus Kopf und Bauch jeden Fetzen Gedicht hervorgekramt hatte, an den ich mich noch erinnern konnte, haben sie sich selbst ein Thema gesucht, um dazu eigene Gedichte zu schreiben, jeder schrieb. Jeder hatte seine Stärken, alle machten sagenhafte Fortschritte. Wang Tao etwa, der einfach so ein Herumtreiber gewesen war, schrieb auf einmal mit uns zusammen Gedichte. Qi liebte Gedichte in alter Form, wenn er eins fertig hatte, diskutierte er’s mit uns. Duan probierte alles aus, spielte zwar mehr herum, war aber doch sehr poetisch, für einen Jungen, der Elektrotechniker gelernt hatte, war das schon erstaunlich. Am Silvesterabend schliefen wir alle nicht. Außer den Fladen vom Mittag hatten wir noch Rübenstückchen aus der Reissuppe vom Abend für das Mahl dieser Neujahrsnacht aufgespart. Die Rübenstückchen haben wir um die Öffnung des „Bodenfegers “ gelegt und sie ganz durchsichtig gebraten. Wenn man sich beim Kauen ein wenig Mühe gab, schmeckten sie unvergleichlich süß. Später habe ich in einer Erzählung Mo Yans von durchsichtigen Rübenstücken gelesen, das war wohl so was in der Art. An jenem Abend beschlossen wir, jeder innerhalb einer Stunde ein Gedicht zu schreiben. Wir trugen uns die Gedichte reihum vor, wir wälzten uns auf dem Boden vor Lachen, wir waren so außerordentlich vergnügt damals. Wir haben diese Gedichte zusammengeklebt, auf den Umschlag hab ich in schöner Schrift geschrieben „Vagabundenlieder – von einer glücklichen Landstreicherschar “. Ich sah, wie sich alle begeisterten, eine Flut des Dichtens brach sich Bahn; ich sagte: „Machen wir doch eine Zeitung! Wenn in jener Zeit Chen Ran in der „Abschaumhöhle “ seine „Vormarschzeitung “ zusammengebracht hat,[11] wie wär’s denn, wenn auch wir jetzt, um die Trübsal zu vertreiben, eine literarische Zeitung machten? “ Die drei stimmten freudig zu, also machte ich mich an die Arbeit des Herausgebers. Na ja, eigentlich ist das jedes Mal nur ein großes Blatt gewesen, zu dem wir mit Reisbrei mehrere Blätter zusammengeklebt haben. Das hatte dann eine Vorder- und eine Rückseite, also zwei Seiten. Ich hatte ja Kunst studiert, also habe ich zunächst die Einteilung der Seiten aufgezeichnet, dann hat jeder sein Manuskript selbst in den für ihn reservierten Raum geschrieben, und ich habe noch zu jedem Gedicht eine Illustration angefertigt. An zwei Nachmittagen haben wir unsere erste Nummer fertiggestellt. Natürlich waren wir vorsichtig. Jedes Mal, wenn eine Nummer fertig war, haben wir sie ganz heimlich weitergegeben. Natürlich lief sie nur unter uns paar Leuten um; bekam nur einer mehr sie zu Gesicht, stieg die Gefahr, entdeckt zu werden, um mehr als das Doppelte. Absolut nur die engsten Freunde bekamen das zu sehen. Wir hatten uns ursprünglich geeinigt, jede Nummer zu vernichten, wenn sie ausgelesen war, aber das haben wir nie fertiggebracht. Deshalb haben wir die Nummern dann verteilt aufbewahrt. Wir hatten verabredet: Sollte einer doch entdeckt werden, würde er sagen, er hätte das allein zu seinem Vergnügen für sich geschrieben, und die anderen würden dann ihre Exemplare schleunigst vernichten. Am zweiten Tag nach dem Frühlingsfest [= Chinesisch Neujahr] wurden wir wieder neu auf die Zellen verteilt. Diesmal kam ich in eine kleine Zelle mit nur fünf Mann, darunter Yang Bingsun. Ich freute mich, und als er um Mitternacht Wache hatte, gab ich ihm vorsichtig, was ich aufbewahrt hatte. Er las es mit großem Vergnügen und konnte kaum das Lachen halten. Aber dann rieb er sich die Augen, seufzte und sagte: „Es darf dir nicht leid sein darum, vernichte das schleunigst. An diesem Ort kann dir sowas als neues Verbrechen angelastet werden. Sicherheit geht vor! “
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