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Die Zeitgedichte stammen von 诗集作者:
Christoph W. Bauer 克里斯多夫·W·鲍威尔 Feng Mengjun 冯孟军 |
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Corona-Rhythmen |
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Zwei mal zwanzig Zeitgedichte. Eine deutsch-chinesische Anthologie. Zweisprachige Ausgabe |
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Herausgegeben von Uwe Beyer mit Liu Huiru Übersetzung der deutschen Gedichte ins Chinesische von Liu Huiru sowie der chinesischen Gedichte ins Deutsche von Klaus Gottheiner Mit Bildern für die chinesischen Gedichte von Li Xinmo sowie für den Umschlag und die deutschen Gedichte von Christiane Maria Luti |
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Reihe Phönixfeder 60 |
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Fokus 2020 – unser Alltag wurde anders. Ein Virus beginnt weltweit den Rhythmus des Lebens zu bestimmen. Wer kann sie aufzeichnen, die Pulse dieser Zeit, prägnant, kontrastreich, in ausdrucksstarken Bildern, konzis durch die Kürze der Darstellung? Für die Gegenwart als Zeugnisse kreativen Umgangs mit dem Ungeübten, für die Zukunft als authentische Beiträge zum kulturellen Gedächtnis an Corona? Zwanzig deutsche, zwanzig chinesische Zeitgedichte beantworten die Fragen in Gestalt dieser zweisprachigen und durchgängig bebilderten Anthologie. Sie symbolisieren das Weltumspannende der Pandemie und sind ein lyrischer Brückenbau zwischen West und Fernost, gesetzt auf Pfeiler der Verständigung, getragen von Versfüßen, die dem Leben hinter Krisenstäben die Freiheit von Rhythmen geben. |
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Inhalt 目录 |
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1 |
墓志铭 (桑克) |
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2 |
Gelber Kranich Turm (Daniel Bayerstorfer) |
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3 |
新年的第一首诗 (娜夜) |
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4 |
Im Flechtwerk. Wege im Lockdown. (Christian Lehnert) |
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5 |
蝙蝠考 (冯孟军) |
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6 |
maske in blau (Andreas Knapp) |
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7 |
蒙面的时代 (一首天真的哀歌) (杨小滨) |
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8 |
Flügelschlag (Ulrike Draesner) |
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9 |
庚子年戊寅月记 (蓝蓝) |
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10 |
[apropos: corona] (Barbara Hundegger) |
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11 |
庚子年纪事 (路也) |
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12 |
Das Blühen der Krise (Margret Kreidl) |
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13 |
读封城中的武汉友人诗作有感 (李少君) |
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14 |
Das neue rundum sorglos Paket (Wolfgang Kubin) |
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温柔的屏幕暴露了残酷的真相 (汪剑钊) |
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16 |
die masken so ersichtlich unübersehbar… (Caroline Hartge) |
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17 |
灾难的箭簇 (胡澄) |
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Traum vom Glück. Anno 2020f. (Ulla Hahn) |
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二月,一条鱼 (王小妮) |
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20 |
pandæmonisches atmen (Kathrin Schmidt) |
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21 |
致死的疾病 (蒋浩) |
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22 |
Vierter Februar. Czerninplatz, Wien (Sabine Gruber) |
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阳光 (林丽筠) |
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24 |
Es ist wieder einer dieser Tage, an dem die Vögel… (Michael Krüger) |
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25 |
无花果 (刘夏) |
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running temperature (Marianne Jungmaier) |
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27 |
请不要打扰 (弱水吟) |
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28 |
Im Corona-Winter (Dirk von Petersdorff) |
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29 |
脱机率简史 (臧棣) |
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30 |
Corona-Poetologie (Hans-Ulrich Treichel) |
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触摸2020年的疼痛——致普希金 (潇潇) |
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32 |
mehr luft dazwischen (Yevgeniy Breyger) |
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33 |
雪国的路 (徐书遐) |
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34 |
sie sagen sie haben alles (Christoph W. Bauer) |
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35 |
回到工作室 (韩东) |
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36 |
Reisen im Kopf (Tanja Dückers) |
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37 |
武汉女孩珊珊 (王家新) |
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38 |
Über die Dörfer (Jan Röhnert) |
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39 |
天太蓝 (晴朗李寒) |
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40 |
Und hegte Schnee in meinen warmen Händen (Marion Poschmann) |
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Biografische Notizen |
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Quellenangaben |
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Bildlegenden |
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Vorwort
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Fokus 2020 – unser Alltag wurde anders. Ein Virus beginnt weltweit den Rhythmus des Lebens zu bestimmen, das Jahr 2021 hindurch und weiter mit Einfluss womöglich noch auf Jahre. Implosion, Innehalten, Neugestalten – wie gehen wir um mit der andauernden Ausnahme-Situation? Mit Abstands- und Hygieneregeln, Maskenpflicht, Massentests, Grenzschließungen, Einreisebeschränkungen, Ausgangssperren, Kontaktverfolgungen, dem zeitweiligen Herunterfahren vieler Bereiche der Gesellschaft? Fühlen wir den Puls dieser Zeit? Wie klingen – Corona-Rhythmen? Welche verzögernden, welche beschleunigenden Tempi, welche Klangfarben charakterisieren sie? Wie wirken die Pausen, die sie als Leere in die Melodien unserer vertrauten Lebensweisen setzen? Und welches Medium wäre besonders geeignet, solche Rhythmen zur Sprache zu bringen? Lyrik kann dies leisten – weil sie selbst rhythmisch und melodisch ist; dazu prägnant in ausdrucksstarken Bildern und konzis durch die Kürze der Darstellung. Um dem Aspekt des Pandemischen zu entsprechen, sollte der Blick dabei weit über den deutschen Sprachraum hinausgehen. Welches Land böte sich für die Erweiterung des Erfahrungshorizontes besser an als das geografisch entfernte China? Es ist doch die Schockwelle aus Wuhan, der von heute auf morgen eingesperrten Zehnmillionen-Metropole, die Anfang 2020 die Menschen weltweit alarmiert hat angesichts der akuten Gefahr, die von einem neuartigen Virus ausgeht. Zwanzig deutsche, zwanzig chinesische Zeitgedichte – orientiert an der Jahreszahl 2020 – könnten das Weltumspannende der Pandemie symbolisieren und damit ein Generationen-Ereignis in Echtzeit beschreiben, vielstimmig, west-östlich, Kulturkreise verbindend – ein Zeichen für Gemeinsamkeiten und Verständigung in zunehmend konfrontativen Zeiten. Vielleicht sind die Empfindungen ja viel ähnlicher, als es mit Blick auf kulturelle Eigenheiten zu erwarten ist? Wovon die Gedichte handeln? Das Authentische des Ausdrucks fordert, dass jede Lyrikerin und jeder Lyriker dies aus eigenem Sinn entscheidet. Eines ist selbstverständlich, weil es sich aus dem Gedanken des lyrischen Brückenbaus ergibt: Die Anthologie ist zweisprachig angelegt – alle deutschen Gedichte sind ins Chinesische, alle chinesischen Gedichte sind ins Deutsche übertragen. Im Frühsommer 2020 ist die Idee zu den Corona-Rhythmen entstanden und nunmehr zur Wirklichkeit geworden durch eine Tragkraft, an der viele Menschen, die sich im Laufe der Zeit von dem Vorhaben faszinieren ließen, mitgewirkt haben. Im Hinblick auf die Reihenfolge, in der die Zeitgedichte erscheinen, wäre es sinnwidrig zur Idee des Brückenbaus als Ort des Austausches und Verstehens, blockartig einen deutschen und einen chinesischen Part zu formen. Die Gliederung sollte eher ein Wechselspiel darstellen – und das bildet sie nun, als eine Komposition chinesischer und deutscher Stimmen, duettartig in lockerem Themengefüge von beiden Seiten. |
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Zu den Bildern von Christiane Maria Luti und Li Xinmo
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Alle Gedichte sind bebildert. Dadurch erhalten die lyrischen Aufzeichnungen aus der Seuchenzeit eine weitere und neue Dimension der Wahrnehmbarkeit von Wirklichkeitserfahrungen. Das gilt um so mehr, als es sich nicht um Illustrationen handelt, sondern um Werke, welche die lyrischen Themen eigenständig aufnehmen und aus der Stärke ihrer Darstellungskraft mit den Gedichten korrespondieren. Für Christiane Maria Luti, die den deutschsprachigen Gedichten ihre Bilder zur Seite stellt und zudem das Motiv für den Einband gestaltet hat, ergibt sich dieses Modell des Korrespondierens schon aus ihrer grundsätzlichen Erfahrung des Malens als eines dynamischen Prozesses, dem nie eine völlig fertige innere Vorstellung vorausgeht. Die Bilder gewinnen ihre endgültigen Formen und Farben erst während des Malvorgangs, hier nun im Dialog mit den Gedichten. Von ihnen kann in die ästhetische Präsenz der autonomen Bildgestalt vieles aufgenommen werden – bestimmte Aussagen, Atmosphärisches, Assoziatives. Dabei bleibt der Blick klar auf den Text konzentriert. Keine gesuchten Vor-Bilder aus der Geschichte der Malerei, keinerlei postmodernes Zitieren oder Dekonstruieren irritieren die intime Korrespondenz mit den dichterischen Aussagen. Was der Text freigibt, das begegnet im Bild als jeweils sensibler, authentischer Ausdruck eines lyrischen Eindrucks. Die Bilder zu den chinesischen Gedichten hat Li Xinmo gestaltet. Jede ihrer Arbeiten, ob figurativ, ob abstrakt, vereint in ihrer Komposition eine freie, fließende Malweise mit durchdringender Ausdruckskraft. Korrelierende und kontrastierende Farben lassen diese Bilder ständig in Bewegung erscheinen und vermitteln dem Betrachter zugleich in besonderer Weise einen Ausdruck von Zeitlosigkeit. In ihrem Dialog mit den Gedichten meidet die Künstlerin vorgefertigte Bilder und Motive, vielmehr geht sie ihrem Sinn auf den Grund und dringt zugleich in neue Räume der Imagination jenseits derer vor, die bereits von den Texten erkundet wurden. |
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Überblick
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Welche Bilder flackern durchs Bewusstsein eines Menschen im (angenommenen) Corona-Fieberwahn? Zumal, wenn es sich beim Autor um einen china-erfahrenen Lyriker wie Daniel Bayerstorfer handelt? Dann können es solche surrealen Expressionen sein, wetterleuchtende Grotesken, mit denen sein Zeitgedicht aufgeladen ist. Frühjahr 2020 – wie greifbar in der Luft liegend und doch weithin noch unbegriffen wirkt das aus der Natur heranziehende Ungemach, das Christian Lehnert in einer für seine neueren lyrischen Texte charakteristischen eigenständigen Form beschreibt: in der von Intervallen – Sinngefügen, die Gedichtpaare aus Zwei- und Achtzeilern bilden. Die unter einem Obertitel konfigurierten beiden Gedichtpaare fokussieren Natur-Wahrnehmungen und bieten durch die Intervalle von sich her den Raum an, das Wahrgenommene meditativ zu umkreisen. Vorzeichen von aufkommender atmosphärischer Unruhe wandeln und verstärken sich bis hin zur menetekelhaften Assoziation der Linde mit dem Lungenbaum. Kontraste tun sich auf zwischen dem unbeirrten, vegetativen Wachstum des Mooses und dem beirrenden Aufbruch der Graugänse, den das lyrische Ich ahnungsvoll empfindlich durchlebt, in einer Stimmung des Aufgeschrecktseins aus den Grundfesten seines eigenen Daseins. Auch noch aus dem staunenden Entsetzen einer frühen Phase der Seuchenzeit spricht das Gedicht von Andreas Knapp: Titel („maske in blau“) und Text rühren sofort an die Einbildungskraft und beschreiben eine Kehrfigur, durch die sich die Zeit des Erlebens menschlicher Nähe und festlichen Vergnügens in die virale Zeit des Todes, der Abstands-Haltung und der Verzweiflung dreht. Was wird laut, wenn das Rauschen des Großstadtlebens durch Lockdown gedimmt erscheint? Wie stellt sich unser Hören auf die Stille der Corona-Zeit ein? Das beschreibt Ulrike Draesner in ihrem Gedicht „Flügelschlag“ in einer Reihe genauer, meditativer Beobachtungen, durch die sich das lyrische Ich mit der Stille befreundet, sie sich anverwandelt. So entsteht aus dem, was nun an Lauten aufklingt, etwas Eigenes, es wird: „meine Coronamusik“. Im harten Kontrast dazu kommt mit Barbara Hundeggers unbequemer, wutbetonter, gesellschaftspolitischer Stimme ein ganz anderer Aspekt der Lockdowns zu Wort. Im Brennglas von Corona zeigt ihr Zeitgedicht sowohl verschärft zu Tage tretende, leidvoll altbekannte Missstände politisch-ökonomischen Krisenmanagements als auch Abgründe des privaten Zusammenlebens wie Männergewalt gegen Frauen und Kinder in der Praxis fortwährender patriarchaler Negativmuster. Durch die Wahl des Akrostichons (des ‚Leistengedichts‘, bei dem die Folge des jeweils ersten Buchstabens der Versanfänge einer Strophe einen eigenen Wort-Sinn
ergibt) setzt Margret Kreidl einen artistisch-spielerischen Akzent, um dem dynamischen Naturgeschehen eine lyrische Form zu geben. Ein ähnliches Signal kunstvoller Stärke geht vom Titel aus: „Das Blühen der Krise“. Dieser Titel zeigt sich doppelsinnig: die Pandemie grassiert; und doch gibt es ein menschliches Vermögen, mit dem Ungeheuren der Seuchenzeit kreativ umgehen zu können, ‚Selbstwirksamkeit‘ zu erfahren durch Sprachgebung. Andere, dunkle Töne schlägt Wolfgang Kubin an. Der Form nach ist sein Zeitgedicht ein Sonett, postmodern anmutend in dekonstruktiver Spannung zwischen fröhlich-optimistisch wirkendem Titel, der oberflächlichen Glanzwelt moderner Werbesprache entlehnt, und der dann aufgetanen düsteren Welt menschlicher Irrgänge, die das lyrische Ich angesichts des Corona-Szenarios voller Zweifel, Verzweiflung und mit der Erfahrung göttlichen Zorns im Aufrufen biblischer Bilder beschreibt. Caroline Hartge durchfühlt mit Worten, was die staatlich verordneten und kontrollierten Distanz-Maßnahmen zum Schutz vor dem Virus in den menschlichen Beziehungsgeflechten bewirken und bleibt dabei nicht im Modus des Vorhersehbaren, nicht im bloßen Beschreiben von Verfremdung und Entfremdung haften. Sie vollzieht eine Kehrfigur und findet berührende Bilder dafür, wie gerade aus der Erfahrung erzwungenen Entzugs der Nähe deren Notwendigkeit spürbar wird. So entsteht, wie unter der ins Leere tastenden Hand, eine zärtliche Hinwendung. Auch aus Ulla Hahns Gedicht spricht Sehnsucht nach beglückenden Erfahrungen, die weltweit Menschen in der Corona-Zeit fehlen. Sie fokussiert sich auf das Erlebnis gemeinschaftlichen Singens. Durch das Motiv des Träumens, und verstärkt durch die Verwendung des Folgepfeil-Zeichens nach rechts (ein Hinweis nicht nur auf Kausalität, sondern auch auf Chronologie, hier auf Zukunft) im Text, wird der in der Pandemie empfundene Mangel nicht elegisch präsentiert, sondern in eine vorwärts weisende Perspektive gerückt. Die Beschreibung des chorischen Singens selbst ist auf einen hymnischen Grundton gestimmt. Sie antizipiert die wieder gemeinschaftliche Zukunft durchs grammatische Präsens und entwickelt eine archetypische Vision vom Wesen des Chorgesangs: Jede Stimme ist bedeutsam, zugleich entsteht ein Klangereignis, das niemand allein erzeugen könnte und das darum menschliches Leben in einer höheren, intensiveren Weise zeigt – durch Leib und Geist bewirkt, mit Sinnen und Sinn wahrgenommen, ein Vereinigungsgeschehen in mystischer Atemgestalt, weltliche Metaphysik. Dagegen führt Kathrin Schmidts Gedicht in eine dysphorische Welt – wie in ein Kabinett aus Zerrspiegeln, voller bizarrer Bilder, die ein viral-surreales Zeiterleben in einer verstörten und empörten Seele hervorruft. Ob der Widerwille stark genug wird, um sich den Verordnungen der Zeit praktisch zu widersetzen: das klingt an und bleibt frageoffen. Die Gedichte von Sabine Gruber und von Michael Krüger sprechen beide aus der Sondersituation von Menschen, denen die Seuchenzeit aus medizinischen Gründen eine strikte Weltmeide-Notwendigkeit auferlegt. Sie als Organtransplantierte, er mit der Diagnose Leukämie (und dem Beginn einer Therapie gerade zu Anfang der Pandemie) müssen sich schon allein wegen eines außerordentlich geschwächten Immunsystems strikt fern halten von allem, was infektiös sein könnte. Wie aber ist es möglich, eine solche lange währende Einkapselung auszuhalten? Beide Zeitgedichte zeigen eine mögliche Weise, bestimmt wohl weniger durch die Optik eines ‚weiblichen‘. bzw. eines ‚männlichen‘ Blicks, als durch individuelle Dispositionen, und geprägt auch durch die gegensätzliche räumliche Umgebung der Quarantäne: Bei Krüger ist es das Ländliche der Natur in der Nähe des Starnberger Sees; bei Gruber ist es ein Großstadtquartier mitten in Wien. Ob äußere Mobilität und innere Beweglichkeit, ob kontrollierter Anbau in der Natur und Vertrauen in Versprechungen technischer Machbarkeit, Corona hat diese Fließbewegungen, diese Kontinuitäten im alltäglichen Bewusstseinsstrom gestört; wie verstörend dies wirkt, das zeichnet Marianne Jungmaier in Sprachbildern auf, die sich durch eine ungewöhnliche Wasser-Metaphorik auszeichnen. Dirk von Petersdorff präsentiert in prägnanten Sprachbildern eine Reihe von Szenen, die als Folge staatlicher Corona-Schutz-Verordnungen zu Realitäten des pandemischen Alltags geworden sind – zu Schlüssel-Szenen, geeignet, ins kollektive Gedächtnis einzugehen, um wieder aufgerufen zu werden, vielleicht sogar in der Weise einer weltlichen Liturgie. Wie nahe eine solche Form des Andenkens liegen könnte, zeigt sich im Gedicht selbst. Der wiederholte Ausruf „Corona, verschona!“ klingt wie eine religiöse Bittformel, postmodern aufgepoppt, Ausdruck einer heutigen Erfahrung von Heimsuchung. Eine menschlich-allzumenschlich verständliche Erfahrung bringt Hans-Ulrich Treichel in die Kunst-Form seines Gedichts: die des Unwillens, der Weigerung, resultierend aus Ermüdung und Überdruss nach weit mehr als schon einem Jahr des vorenthaltenen Lebens. Sich nun (im Juni 2021) auch noch expressis verbis dem Virus stellen zu sollen, lehnt er eigentlich ab. Die Rettung vor der Schreibblockade geschieht mit Hilfe einer rhetorischen Figur, der Paralipse: unter dem Vorsatz, etwas auszulassen, wird es doch gesagt. So entsteht nicht landläufige Poesie, sondern eine auch so benannte „Corona-Poetologie“. Auf ganz andere Weise gestaltet Yevgeniy Breyger im Spätsommer 2021 das Motiv des Überdrusses am Corona-Thema: in Form eines Raumgedichts. Während viele Menschen coronamüde scheinen, alles und mehr für öffentlich gesagt und ausdiskutiert halten, bleibt das Virus munter und mutiertbereit – und soll mit seiner Last nun auch noch die Lyrik infizieren? Wie sieht ein solcher Sprachkörper aus? Statt syntaxgerechter Sätze, Vers für Vers linear im Medium der Zeit zu lesen, erscheint hier eine räumliche Konfiguration, ein Un-Fug von Wortgefügen, ein Beziehungsgeflecht von Bedeutungen, die gerade auch dort entstehen, wo sie nicht offensichtlich sind: in kryptischen Neologismen und in Freiräumen. „mehr luft dazwischen“, so beginnt, wie sprechend fürs Ganze, dieses Zeit-Raum-Gedicht, das allein schon optisch wie ein Sinnbild ist für den Ein- und Aufbruch unserer Lebensroutinen durchs Erwachen in einer infektiösen Wirklichkeit. Der Seuchenzeit lässt es sich in Dichter-Gestalt aber auch eigens zuwenden. In Sprachbildern, die dieses Vorgehen des lyrischen Ichs beschreiben, bringt Christoph W. Bauer die Perspektive des poeta legens ein – des Dichters, der durch Spurenlese in den Archiven die Gegenwart in die Spiegel der Vergangenheit stellt. Im Hinblick auf Umstände und Zustände der heutigen Seuche zeigt sich das Vergangene als ziemlich gegenwärtig, und der Umgang mit der jetzigen Pandemie – er scheint altbekannten Verhaltensmustern zu folgen. Was bleibt Menschen, zu deren Lebensentwurf das Fernreisen gehört, unter dem Joch vom ‚Corona-Duktus‘? Davon handelt „Reisen im Kopf“ von Tanja Dückers, ein Gedicht, das transkontinental Facetten von Peking, Vermont und Belgrad einblendet, intensive Erinnerungen im Rahmen einer Gegenwart, in der sich das lyrische Ich zurückgeworfen findet auf das eigene Zuhause, in gefühlter räumlicher Begrenzung, zeitlicher Eintönigkeit und mit schon ritualisiertem Blick durchs Fenster auf ein Einrichtungsdetail in der Nachbarschaft. In reale „herzweite Horizonte“ weist hingegen das Zeitgedicht von Jan Röhnert; geschrieben am Tag seiner zweiten Impfung, im Mai 2021, klingt hier auf, was die Immunisierung gegen COVID-19 für ein Individuum bewirken kann: Die Welt öffnet sich ihm wieder, in einer Fülle von dankbar genau aufgenommenen Eindrücken, intoniert vom Frühlingsjubel der Natur. Zum Ausklang der Corona-Rhythmen ist es Zeit zu signalisieren: Auch wenn diese Pandemie vorbei sein wird, sind ihre menschengewirkten Ursachen keineswegs aus der Welt. Das Gefüge von Natur und Zivilisation vibriert weiterhin außer Takt und wird fortwährend Unwuchten erzeugen. Im Hinblick auf Corona schaut es so aus, als schädige die Natur den Menschen. Aber das wäre zu kurz gedacht. Vergleichbar dem Klimawandel mit seinen Symptomen wie zunehmenden Fluten, Feuern, Stürmen, Gletscherschmelzen, ist ein zivilisatorischer Faktor bedeutsam: die Globalisierung. Die nächste Zoonose mit pandemischer Potenz wird wohl nur eine Frage der global getakteten Zeit sein. Marion Poschmanns Gedicht „Und hegte Schnee in meinen warmen Händen“ ist vor diesem Hintergrund lesbar als ein Menetekel, als geweiteter Blick auf eine übergriffige Wirklichkeit, in der zuträgliche Abstände zwischen Mensch und Natur eingeschmolzen werden und als deren Effekt die Menschheit nun eine Seuchenzeit durchlebt. |
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Die chinesischen Gedichte
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Die ultimative Realität in der Pandemie ist der Tod. Sang Kes Gedicht „Grabschrift“, das diesen Band eröffnet, vergegenwärtigt zum Auftakt der Anthologie diese Gewissheit. Wie der Name sagt, legt eine Grabschrift Zeugnis ab vom Leben des Verstorbenen und verleiht ihm Dauer über den Tod hinaus. Doch Sang Kes „Grabschrift“ erklärt den Lebenden programmatisch: „Die Sätze hier sind für die Ohren / Des Windes gedacht.“ Diese Grabschrift ist nicht in Stein gemeißelt, sie hat den Kampf gegen die Zeit aufgegeben und sich für ein Aufgehen im Körperlosen entschieden. Trotz ihrer Weigerung, als „Gedächtnishilfe“ zu dienen, versagt sich die Grabschrift nicht der Erinnerung, sondern mahnt die Menschen, das, was wert ist, ewig bewahrt zu werden, nicht an die äußere Welt zu verraten, denn sich zu „er-innern“. bedeutet nun einmal, sich auf das eigene Innere zu besinnen. Determination und Indetermination sind verwoben oder besser verflochten in Na Yes „Das erste Gedicht im neuen Jahr“. Zeit und kausale Abfolge sind determiniert, aber das Gedicht ist es nicht. Konfrontationen, Konflikte und Widersprüche der Realität dringen in den Text ein und bestimmen seine Richtung und seinen immer wieder unterbrochenen Rhythmus. Doch es ist gerade das erratische Springen der fragmentarischen Textblöcke von Strophe zu Strophe, das dem Gedicht seinen stakkatohaften, hektischen Rhythmus verleiht und seine Spannung unaufhaltsam, Schritt für Schritt, Schicht für Schicht, bis zur Klimax – oder Antiklimax – des Schlusses vorantreibt: „Ein Sieb voll Wasser…“ In Feng Mengjuns „Nachdenken über die Fledermaus“ kommt eine überraschend neue Perspektive ins Spiel, eben die des gerne kopfüber hängenden Flugsäugers. Aus dem Blickwinkel der Fledermaus gesehen ist die Welt auf den Kopf gestellt: Das Verhältnis zwischen Regeln und Freiheit, Transparenz und Verschleierung, ja zwischen Ursache und Wirkung, Sicherheit und Gefährdung, Sieg und Niederlage steht nicht mehr so unumstößlich fest wie lange Zeit geglaubt. Vermeintlich selbstverständliche Kategorien und Methoden, die Welt wahrzunehmen und zu begreifen, haben ihre Wirksamkeit und Überzeugungskraft verloren. Yang Xiaobins „Maskenzeit“ ist als „naives Klagelied“ getarnt, in Wahrheit ist es ein Aufschrei und ein Akt des Widerstands. In einer Zeit der Masken ist die Maskierung ein Mittel zum Überleben, aber auch ein Verzicht – ein Verzicht auf Individualität bis hin zum Verzicht auf jedes persönliche Kennzeichen, zum Sichauflösen in der Anonymität. Aber die Maskierung ist auch eine Opposition: gegen den Smog, das Virus, die Gewehrkugel, den Staat – indem der Autor den Staat in eine Reihe mit den ökologischen, den biologischen und den von Menschen ausgehenden Gefahren stellt, wird die Bedrohung durch eine übermächtige Verwaltung zur Kenntlichkeit verfremdet; darin liegt das Subversive dieses Gedichts. Von der Makro- bis zur Mikroebene gibt es für das Individuum keine Fluchtmöglichkeit und keinen Schutz vor Gefahr mehr; das Gedicht bleibt seine letzte Rückzugslinie. Lan Lans „Im Jahr der Ratte geschrieben, im Februar“ wurde zwei Tage nach dem Tod von Li Wenliang verfasst, als ein Requiem zu seinem Gedenken. Li Wenliang war Augenarzt in einem Krankenhaus in Wuhan und warnte Ende 2019 in den sozialen Medien vor einem neuen Virus mit so noch nicht gesehenen Eigenschaften. Damit gehörte er zu den frühesten „Whistleblowern der Pandemie“, doch er wurde polizeilich gemaßregelt und gezwungen, seine Aussagen zu widerrufen. Mangelhaft wie die Schutzmaßnahmen damals waren, infizierte er sich bei der Behandlung seiner Patienten und starb. Schon todkrank, sagte er zu einem Interviewer: „In einer gesunden Gesellschaft sollte es nicht nur eine einzige Stimme geben.“ Auf die Nachricht von seinem Tod hin trauerte das ganze Land, und innerhalb von weniger als zwei Wochen hatten die Kommentare in seinem Weibo-Account (dem chinesischen Twitter) die Anzeigegrenze von einer Million überschritten. Lan Lans Text ist eines aus einer binnen kurzem lawinenartig angeschwollenen Zahl von Trauergedichten. Die Sprache ist scharf und präzise, das Gedicht bebt vor Trauer und Wut und bleibt dabei immer zurückhaltend, es ist von extremer Spannung erfüllt, doch drücken sich sein Gehalt und seine Haltung eher untergründig aus wie eine kraftvolle Tiefenströmung unter der Oberfläche der Wörter. Geschrieben aus einer sehr persönlichen Perspektive, verrät es zugleich ein starkes gesellschaftliches Engagement und den Mut zur moralischen Verantwortung. Darin ist es besonders repräsentativ für den Moment seiner Entstehung. Separation im Namen der Protektion, dieses Mittel der Pandemiebekämpfung wird in Lu Yes „Chronik der Ereignisse im Jahr der Ratte“ unter die Lupe genommen und satirisch dekonstruiert. Vorgeschriebene Abstände, periodische Lockdowns – welche rationalen Planungen und Berechnungen die Menschen auch anstellen, im Angesicht der Natur wirken sie alle einfach nur lächerlich. Sowenig wie der Mensch selbst teilbar ist, sowenig lassen sich die Menschen voneinander trennen, und erst recht ist eine scharfe Trennung zwischen Leben und Tod zum Scheitern verurteilt. Li Shaojuns „Als ich ein Gedicht aus Wuhan erhielt“ lässt sich als Rechtfertigung der Lyrik in Zeiten der Pandemie lesen. Das titelgebende Gedicht aus Wuhan ist ein schwaches Funksignal, ausgesandt von einem weit entfernten Ort, ein Lebenszeichen, das für dessen Autor selbst ein Festhalten an der Hoffnung und für andere einen Trost bedeutet. Warum hat China plötzlich Atembeschwerden? Wang Jianzhao drückt es so aus: „Ein zerfressener Lungenflügel von China ist Wuhan heute.“ Das Gedicht „Die grausame Wahrheit“ mit seinen von Blitz und Donner durchzuckten Anfangszeilen vergegenwärtigt den Schock und die Wut der Menschen während des plötzlichen Ausbruchs der Corona-Pandemie Anfang 2020. Die Informationen auf dem Schirm und die Realität klaffen weit auseinander, zwischen abstrakten Ideen und nackter Körperlichkeit ist keine Verbindung mehr zu erkennen, doch Lobpreisungen und Trauer existieren Seite an Seite. Unter diesen Umständen kann wahre Dichtung nur „sich entschließen zu schweigen“. Hu Chengs „Die Pfeilspitzen der Katastrophe“ ist aus einer einzigen Metapher gestaltet, die zugleich einfach und frappierend, von durchdringender Schärfe und voller Menschlichkeit ist. Metapher, Thema, Stoff und Realität, ja Geschichte und Natur sind hier ineinander verschmolzen und bilden den Hintergrund für die Katastrophe. Jedes Leben kann zum Ziel eines plötzlichen Angriffs werden, und der Wunsch, sich selbst zu opfern, um andere zu schützen, bleibt unerfüllbar. Der Inhalt des Gedichts erscheint von luzider Klarheit und verweist zugleich auf etwas implizit Unaussprechliches – ein Widerspruch, wie er nur in der Lyrik Gestalt werden kann. Im Zyklus „Quarantäne“ erforscht Wang Xiaoni aus unterschiedlichen Perspektiven, wie sich das Virus auf Körper und Seele des Einzelnen wie der Gesellschaft auswirkt. So zeichnet „Februar, ein Fisch“ mit scheinbar leichten Strichen die existenzielle Not der Menschen in der Zeit der Abriegelung. Wenn chinesische Leser vom Goldfisch lesen, der in einer „prallrunden Plastiktüte“. schwimmt, denken sie unweigerlich an jenen berühmten Dialog über die „Freude der Fische“ im Werk des Philosophen Zhuangzi. In der chinesischen Geistesgeschichte und zumal in Literatur und Kunst steht der Fisch für das freie Umherschweifen in der Natur, hier dagegen ist auch der Fisch unter Quarantäne gestellt; eingeschlossen in einen winzigen Raum, ist er auf den Status eines Beobachters reduziert. Immerhin: Die Mündung der (Temperaturmess-) Pistole ist nicht auf ihn gerichtet, und er selbst schwimmt schneller als ein Projektil. Als Jiang Hao in seinem Gedicht begann, die Symptome einer „Krankheit zum Tode“ zu untersuchen, waren die Gefahren des Coronavirus für den Menschen und seine katastrophalen Auswirkungen auf den ganzen Planeten noch kaum bekannt. Doch mit seinem seismographischen Gespür, um nicht zu sagen mit einer schlafwandlerischen Sicherheit, legt er den Finger auf die gar nicht so neue soziale und zivilisatorische Pathologie der Krankheit. Das ganze Gedicht kreist um ein geheimes Zentrum: die – natürlich keineswegs an Pharmakologen gerichtete – Frage „Wo gibt es ein Heilmittel?“ Eine Schulter zum Anlehnen zu haben und echte Liebe zu spüren, wenn jeder Mensch auf seinen eigenen Schutz bedacht und Isolation das Gebot der Stunde ist – dieses in Pandemiezeiten scheinbar marginalisierte Thema ist die Botschaft von Li Liyuns Gedicht „Sonnenschein“. In einer Zeit der Abriegelung, der Quarantäne und der Absonderung wird die Liebe zu einem Akt der Auflehnung, ja der Provokation, wo sie in Wahrheit doch gerade die Antwort auf eine Provokation sein sollte. Die kryptische Vieldeutigkeit von Liu Xias Gedicht „Der Feigenbaum“ scheint das Undurchsichtige und Bizarre vieler Phänomene in der Pandemiezeit widerzuspiegeln. Die alten Gesetze sind noch in Kraft und werden befolgt, aber diejenigen, die der Hilfe bedürfen, können nur auf barmherzige Menschen hoffen, die die Regeln nicht kennen. Eigentlich sollte der Frühling neues Leben bringen, doch von der Klinge seines Schwertes tropft Blut; Geschriebenes wird noch immer wertgeschätzt, aber es hat sich schon von der Realität abgekoppelt. Den trüben Himmel wischen jetzt nur noch die treibenden Seelen blank, denen die Ruhe in der Heimaterde versagt blieb. Ruoshui Yins „Lasst mich bitte in Ruhe!“ schildert die Perspektive einer völlig überlasteten Krankenschwester, die an vorderster Front im Kampf gegen die Epidemie steht. Ebenso wie gegen das Virus muss das lyrische Ich sich dabei gegen die Instrumentalisierung durch die Medien wehren. Vor leeren Phrasen auf der Hut zu sein und Abstand zu halten gegenüber einer manipulativen Propaganda, ist der Anstand, den sich die Menschen in der Katastrophe bewahren sollen. Die natürliche Emotionalität und eine vom Umgangston geprägte und doch geschliffene Sprache verleihen dem Gedicht die Kraft des Authentischen: Die Verfasserin arbeitet selbst als Krankenschwester und war während der härtesten Monate der Pandemie nach Wuhan geeilt, um bei der Rettung von Menschenleben zu helfen. Es gehört zu den Eigenheiten des Lyrikers Zang Di, seine Gedichte mit „Eine kurze Geschichte“ zu betiteln. Das erinnert an die Beharrlichkeit und Ausdauer eines Chronisten. Die Perspektive des Historikers zu wählen, verrät die Absicht, Belege zu sammeln und Zeugnis abzulegen, doch anders als der Historiker begnügt sich Zang Di nicht damit, eine „Erzählung“, ein Narrativ zu konstruieren: Seine Erzählung ist untermischt mit Subversion und Dekonstruktion, ja in Wahrheit scheint seine Aufmerksamkeit eher darauf gerichtet zu sein, eine poetische Logik zu erforschen und zu erhellen. Im Spannungsfeld von Realität und Sprache stellt er Fragen nach der conditio humana und dem Sinn des Lebens und deckt das Absurde und Lächerliche der Gegenwart auf. Daher entfalten sich seine „kurzen Geschichten“ gewöhnlich nicht in der Dimension der Zeit, sondern in einem Raum der freien Imagination. „Eine kurze Geschichte der Beatmungsentzugsrate“ ist ein treffendes Beispiel dafür. Der Fokus dieses Gedichts liegt auf der Zahl der Todesopfer durch das Coronavirus, doch hier geht es nicht um historische Informationen; die Stärke des Gedichts liegt vielmehr in dem beißenden Sarkasmus, mit dem es durch seine geballte Ladung an Fachjargon die Täuschung der Menschen durch sogenannte wissenschaftliche Daten und Methoden der Lächerlichkeit preisgibt. Xiao Xiaos „Der Schmerz von 2020“ stellt offensichtlich das Jahr 2020 im Schatten der Pandemie und das Jahr 1830, als sich Puschkin in Boldino in die Cholera-Quarantäne begeben musste, gegenüber. Das Gedicht verleiht damit der Corona-Isolation und ihrer literarischen Verarbeitung eine neue Orientierung und historische Tiefe. Puschkins Worte geben der Dichterin nicht nur Anhaltspunkte und Inspiration, sie helfen ihr auch, den Rhythmus der eigenen Sprache zu finden. Die bewusste Anknüpfung an den russischen Dichter schärft diese Sprache, deren Eindringlichkeit aus dem Schmerz kommt, damit die Literatur, wie Dostojewskij es ausdrückte, „des Leidens würdig ist, das man erlitten hat.“ Als das Corona-Virus in die menschliche Sphäre einbricht, ist es niemandem mehr möglich, in sein gewohntes Leben zurückzukehren. Han Dongs „Zurück in meinem Arbeitszimmer“ spiegelt diese Situation und zeichnet mit unbeirrbar exaktem Pinselstrich die irreversiblen Folgen der Katastrophe. Im stillen Arbeitsraum hat sich nichts geändert, aber die Luft ist eine andere. Das nicht zu Ende gelesene Buch kann man weiterlesen, aber das einzig Lebendige im Raum, der Bonsai, ist vertrocknet und tot. Einen poetischen Raum aus der Spannung zwischen Gegensatzpaaren zu konstruieren, gehört zu den gängigen Strategien der Dichtung: Licht vs. Dunkel, Hitze vs. Kälte, Leib vs. Seele, Leben vs. Tod. Doch Xu Shuxias „Der Weg durch das Schneeland“ sticht gerade dadurch heraus, dass die Pseudo-Versöhnung einer solchen Spannung („Der Schnee … hat die Lunge in Brand gesetzt.“) banale Gegensätze konkretisiert und sie aus der Abstraktion in die grausame Realität der Pandemie holt: den Tod der Mutter durch Lungenfibrose. Der Weg durch das Schneeland ist der Weg der Toten ins Grab, doch die Bestattung ist zugleich eine Aussaat neuen Lebens. Die Nachricht von einer jungen, mit dem Coronavirus infizierten Mutter, die ihrer kleinen Tochter Shanshan vor ihrem Tod einen Zettel mit Notizen hinterließ, gehört zweifellos zum Bewegendsten, das aus dem Wuhan des Jahres 2020 bekannt wurde. Diese letzten Anweisungen an die Tochter hat der Dichter Wang Jiaxin wortwörtlich in sein Gedicht „Shanshan“. aufgenommen und damit ein wertvolles Dokument der Zeitgeschichte in die Dimension der Literatur überführt. „Wenn du nachher alleine lebst, kauf kleine Portionen“, heißt es da, oder: „Lebensmittel haben ein Verfallsdatum.“ In der Normalität, ja Trivialität des Alltagslebens entdeckt Wang Jiaxin das wahrhaft Poetische und fängt es mit journalistischer Schärfe ein. Die letzten Worte der Mutter sind ein Ausdruck wortloser Liebe, und Wang Jiaxins Gedicht scheint den Zeitgenossen helfen zu wollen, „das Ohr eines elternlosen Kindes“ zu entwickeln. Der Himmel gilt als Symbol der Freiheit, doch in Qinglang Li Hans „Zu blau, dieser Himmel“ ist er das genaue Gegenteil. Der Himmel erscheint materialisiert, er wird zur Lüge, zur Maske, die das gesamte Territorium Chinas bedeckt und jede Äußerung der Wahrheit verstummen lässt. Die Welt und alle Werte sind auf den Kopf gestellt, und was als das Offenste überhaupt galt, wird zum Paradigma der Abschottung. An einem vollkommen blauen Himmel, sauber, steril, ohne Leben und keinerlei Leben zulassend, steht allein eine einsame Sonne, mit einem Ausrufezeichen darauf. Wer sie anklickt, dem wird – und damit uns als Lesern des Gedichts – ein allen Internetnutzern bekannter Satz um die Ohren gehauen, der immer dann erscheint, wenn man ein vom Zensurfilter gesperrtes Dokument zu öffnen versucht: „Aufgrund einer Regelverletzung wird der Inhalt nicht angezeigt.“ |
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Eigenarten und Gemeinsamkeiten der hier vereinten deutschen und chinesischen Lyrik
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Überblickt man die deutschen und die chinesischen Gedichte in diesem Band, dann stellt sich die Frage: Was mag ihre jeweilige Welt charakterisieren? Es ist ein schonungslos harter Realismus, der immer wieder aus den chinesischen Gedichten spricht. Alptraumhafte Stimmungen wie die der Verzweiflung, der Entfremdung, des Alleinseins, aber auch solche der Hilfs- und Opferbereitschaft angesichts der humanen Katastrophe werden ungefiltert auf Szenen projiziert, in denen die unsichtbare Allgegenwärtigkeit des Virus an einer Vielzahl von gesellschaftlichen Symptomen seziert wird. Auch Kritik wird direkt geäußert: ob am Natur ausbeutenden Wirtschaften oder an Verlautbarungen des offiziellen Krisenmanagements. Den deutschen Gedichten sind solche Aspekte nicht grundsätzlich fremd – wie auch, angesichts der vielfältig vergleichbaren existenziellen Situationen im Zeichen der Pandemie. Zu ihren Eigenarten gehört aber, dass deutlich Haltungen und Motive mitwirken, die unter Begriffen wie ‚Empfindsamkeit’ im Umfeld der Aufklärung und der Romantik eine hiesige Tradition haben. Oft zeigt sich das lyrische Ich eigens auf sich als Subjekt seiner Wahrnehmungswelt ausgerichtet, reflektierend auf sich und in diesem Modus auf das, was es in der Seuchenzeit sieht. Dabei kann sich auch eine tiefe Sehnsucht entwickeln nach harmonischen Bezügen zur Natur. Und zu einer durchaus scharfen Kritik an bestehenden Verhältnissen gesellt sich zuweilen ein idealistisches Motiv: die Perspektive des Besseren, das sein sollte und könnte, weil Menschen grundsätzlich auch dies vermögen, im Umgang miteinander wie mit der Natur. In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde erstmals der Begriff „Weltliteratur“ geprägt – und zwar von Goethe, ausgelöst durch dessen Begegnung mit der chinesischen Literatur. Was dem deutschen Dichter damals als Vision vorschwebte, ist heute, zweihundert Jahre später, seit langem Realität. In einer Zeit, in der die Corona-Pandemie die Menschen auf dem Planeten zwar oft physisch voneinander trennt, aber sie in einer gemeinsamen Erfahrung auch stärker zusammenbringt, dokumentiert diese deutsch-chinesische Anthologie eine besondere Facette der neuen, weltumspannenden Literatur der Gegenwart. |
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Danksagung |
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Um die Idee der deutsch-chinesischen Corona-Rhythmen vom Möglichen ins Wirkliche bewegen zu können, brauchte es ein kompetentes Team zur inhaltlichen Ausgestaltung. Dieses Team hätte sich nicht bilden können ohne Udo Mattes, den langjährigen Präsidenten der Adam-Schall-Gesellschaft für Deutsch-Chinesische Zusammenarbeit e.V. mit Sitz in Aachen. Zum gestaltenden Team brauchte es zudem begeisterungsfähige Menschen, die sagen: ja, das ist ein faszinierendes Vorhaben, seine Verwirklichung ist an der Zeit, und deshalb werden wir das Erscheinen der Anthologie finanziell fördern. Über ein Crowdfunding haben viele Menschen genau dies getan. Sie alle werden dafür mit einem Exemplar dieser Anthologie bedankt. Darüber hinaus namentlich zu nennen sind hier: Gefördert wurde die Veröffentlichung zudem von der Gesellschaft für Deutsch-Chinesischen kulturellen Austausch e.V. Im November 2021 Uwe Beyer 2021 年 11 月 乌 维·拜 尔 |
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