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Pressestimmen

   
  Rezension von Wolfgang KUBIN
in minima sinica 32 (2020), S. 380-382

Schneesturm 1939

Roman von Xiong Yuqun 熊育群

       
Deutsche Ausgabe des Romans Jimaonian yuxue 己卯年雨雪    
       

Aus dem Chinesischen übersetzt von Daniel Fastner

     
       
       

Reihe Phönixfeder 52
OSTASIEN Verlag
Paperback (23,0 x 15,0 cm), xiv + 390 Seiten
2020. € 29,80 [Auslieferung ab Mitte Januar 2021]
ISBN-13: 978-3-946114-66-6 (978-3946114666, 9783946114666) ISBN-10: 3-946114-66-0 (3946114660)
Vertrieb: CHINA Buchservice / Bestellen

     
       
       

Im Zentrum der Handlung dieses Romans steht ein Massaker, das Soldaten der Kaiserlich-Japanischen Armee im Rahmen des Zweiten Japanisch-Chinesischen Kriegs (1937–1945), in den Tagen des Mittherbstfestes um den 23. September 1939, in dem kleinen Ort Yingtian bei Yueyang an der lokalen Bevölkerung begingen. Der Autor erzählt die Umstände dieses Massakers jedoch nicht nur, wie man vielleicht erwarten würde, aus der Perspektive chinesischer Protagonisten, sondern auch und besonders aus der einer jungen Japanerin, die ihrem Mann aus Sehnsucht nach China folgt und dabei fast ihr Leben verliert. Durch das, was sie während jener Zeit in China erlebt, verändern sich ihre Wahrnehmungen von Shina und den Shinesen radikal.

Xiong Yuqun, der selbst ganz in der Nähe von Yingtian geboren wurde und aufwuchs, hat viele Jahre lang die Umstände und den Hintergrund dieses Massakers recherchiert. Mit seinem Buch wollte er nicht nur verhindern, dass die damaligen Geschehnisse vergessen werden, sondern auch der Frage nachgehen, was Menschen mit durchaus hohen ethischen Standards und guter Bildung dazu bringen kann, nurmehr zu Maschinen des Krieges zu werden oder gar Lust am Quälen anderer zu entwickeln. Dabei kommt im Roman, trotz aller Verwirrung der Gefühle, aber auch Menschlichkeit zu ihrem Recht. Und eine besondere Liebeserklärung des Autors gilt jener alten Kulturlandschaft am Miluo-Fluss und Dongting-See mit ihren weiten Schilfmarschen und vielen Kampferbäumen.

     
       
Zum Autor

Xiong Yuqun (geb. 1962 im heutigen Qu Yuan-Verwaltungsbezirk, Yueyang, Hunan, nahe dem zentralen Schauplatz seines Romans) absolvierte ein Studium für Bau¬ingenieurwesen an der Tongji-Universität Shanghai und arbeitete lange als Bauingenieur am Bauplanungsinstitut der Provinz Hunan. Er ist leitender Herausgeber der Yangcheng Evening News, stellvertretender Chefredakteur des Ressorts „Literatur und Kunst“, stellvertretender Vorsitzender des Schriftstellerverbands von Guangdong und Vorsitzender der Akademie für chinesische Literatur Guangdong. Daneben ist er assoziierter Professor der Tongji-Universität in Shanghai.

Von Xiong Yuqun erschienen bislang über 20 Publikationen, Romane, Prosa und Gedichte. Mehrere seiner Werke wurden bereits in andere Sprachen übersetzt. 2010 erhielt er den Lu Xun-Literaturpreis und 2019 den Baihua-Literaturpreis.

Zum Übersetzer

Daniel Fastner (geb. 1976 in Mainz) wurde 2013 an der Humboldt-Universität Berlin mit einer Arbeit zu materialistischer Sprachtheorie promoviert. Danach hielt er sich über dreieinhalb Jahre in China auf, belegte Chinesischkurse und befasste sich mit dem Land und seiner Kultur.

Seit 2009 ist Fastner als freiberuflicher Übersetzer tätig. Er übersetzte vor allem Sachbücher und Aufsätze aus dem Englischen und Französischen. Dieser Roman ist seine erste Übersetzung aus dem Chinesischen.

     
       

Inhalt

Einführung
Vorbemerkung des Übersetzers

Schneesturm 1939 (1-49) [Leseprobe aus Kapitel 37]
Nachwort des Autors (I-VI) [Anfang von Teil I] [Teil VI]

Zum Autor und zum Übersetzer
Persönliche Bemerkungen eines Lesers dieses Romans

     
       

Einführung

Die Lektüre dieses überaus vielschichtigen Romans macht die deutsche Leserschaft mit einer Facette des 2. Weltkriegs bekannt, von der vermutlich auch die historisch Interessierten bislang kaum etwas erfahren haben dürften, nämlich dem Invasionskrieg, den Japan ab dem Sommer des Jahres 1937, also noch bevor Deutschland in den Weltkrieg eintrat, in China führte und dort so lange eine Stadt nach der anderen einnahm, bis die Amerikaner mit dem Abwurf der Atombomben über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 dem ganzen Spuk jenes globalen Krieges ein Ende machten.

Als eigentlicher Auslöser dieses Teils des 2. Weltkriegs, der im Pazifik ausgetragen wurde, wird gemeinhin der „Zwischenfall auf der Marco-Polo-Brücke“ am 7. Juli 1937 angesehen. Japanische Soldaten sollten abends auf dieser Brücke eine Übung durchführen, als von chinesischer Seite Schüsse fielen und ein japanischer Soldat verschwand. Obwohl kein Japaner verletzt wurde und auch der vermisste Soldat wenig später wieder auftauchte, war bereits Meldung an die Obrigkeit gemacht worden, und die Generäle des japanischen Heeres drangen auf einen raschen Angriff gegen die Truppen Chiang Kai-sheks (1887–1975), der dann ab dem 29. Juli erfolgte. Obwohl von chinesischer Seite hart zurückgeschlagen wurde und sich Chiang Kai-shek, der zuvor im Innern sowohl gegen die Kommunisten als auch gegen die Warlords gekämpft hatte, nunmehr mit Mao Zedong (1893–1976) zur „Zweiten Einheitsfront“ (1937–1946) zusammentat, konnten die Japaner nach zähen Kämpfen mehrere Siege erlangen: Im Dezember 1937 kam es zu dem Massaker von Nanjing, bei dem laut den Protokollen der Tokioter Prozesse über 200.000 Menschen ihr Leben lassen mussten. Die genaueren Umstände dieses Kriegsverbrechens der Japaner dürften manchem Leser durch das Buch „John Rabe: Der gute Deutsche von Nanking“ von Erwin Wickert bekannt sein. Im Mai 1938 besiegten die Japaner die Chinesen in der Schlacht um das in Jiangsu gelegene Xuzhou und im Oktober 1938 in der Schlacht um das in Hubei befindliche Wuhan, doch bei bei einer ersten Schlacht um Changsha, die Hauptstadt von Hunan, konnten die Chinesen am 6. Oktober 1939 einen knappen Sieg gegen die Japaner erringen. Zwischen September 1941 und August 1944 folgten dann noch drei weitere Schlachten um Changsha.

Der Zeitraum vom Sommer des Jahres 1937 bis zum Sommer des Jahres 1940 bildet den Rahmen, in dem die wesentlichen Ereignisse des Romans verankert sind. Der kleine Ort Yingtian, in dem sich am 23. September 1939 das furchtbare Massaker zutrug, das im Zentrum des Romans steht, lag auf einer der Verteidigungslinien der chinesischen Nationalarmee unter General Chiang Kai-shek, sodass dessen Erstürmung für die Japaner strategisch bei ihrem Vormarsch von Yueyang aus Richtung Changsha von Bedeutung war. Vier Tage vor dem Mittherbstfest, das im Jahr 1939 auf den 27. September fiel, fuhren in der Nacht 3000 japanische Soldaten der 3. Division unter General Mikio Uemura (1892–1946) verteilt auf über 100 Schnellbooten von Yueyang aus über den Dongting-See und weiter stromaufwärts in den Xiang-Fluss. In den frühen Morgenstunden des 23. Septembers kamen sie, nur von einigen Fischern bemerkt, an mehreren im Umkreis von Yingtian befindlichen Häfen an. Wie wir aus dem Roman erfahren, waren Soldaten der chinesischen Nationalarmee in und um Yingtian verschanzt. Soldaten des 569. und des 570. Regiments der chinesischen Armee hatten in Tuishanzui und Tuxinggang, am Niuxingshan, Shixingshan und an anderen Orten Befestigungsanlagen errichtet. Das Hauptquartier des 569. Regiments befand sich sogar in einem der privaten Wohnhäuser in Yingtian, dem Anwesen der Familie Yi. In einem unmittelbar nördlich der Straße von Yingtian befindlichen Berg, dem Shixingshan, hatte man zudem einen unterirdischen Luftschutzbunker für eine ganze chinesische Kompanie errichtet. Alle Soldaten, die sich darin in vermeintliche Sicherheit gebracht hatten, fielen einem Giftgasangriff der Japaner zum Opfer. Die gnadenlose Suche der japanischen Soldaten nach chinesischen Militärs in den Häusern entlang jener Straße und die Erfüllung ihres Auftrags, die Gegend zu „säubern“, war militärstrategisch begründet, doch was sich über den eigentlichen Vernichtungsauftrag seitens der Obrigkeit hinaus hier im Einzelnen abspielte, lässt den Leser – sei er Chinese, Japaner oder Europäer – fassungslos zurück.

Das Massaker von Yingtian wurde, wie der Autor Xiong Yuqun in seinem Nachwort betont, das zugleich das 50. und letzte Kapitel des Buches ist, selbst von der chinesischen Geschichtsschreibung bislang noch kaum aufgearbeitet. Obwohl er selbst in dessen unmittelbarer Umgebung geboren wurde, erfuhr er erst lange nachdem er aus seiner Heimat fortgezogen war, durch einen Zufall über das Internet von diesem Massaker als etwas, das sich sozusagen als ein „Kollateralschaden“ beim Durchzug der japanischen Armee nach Changsha ereignet hatte. Er entschied sich, darüber einen Roman zu schreiben, um diesem Ort und all dem, was dort geschah, ein Denkmal zu setzen und es auf diese Weise dem kollektiven Vergessen zu entreißen. Sodann begann er mit genauen Recherchen, sowohl in China als auch in Japan, führte zahlreiche Interviews mit Überlebenden des Massakers in Yingtian und deren Nachkommen, aber auch mit Nachkommen der japanischen Kriegsheimkehrer. Er las chinesische und japanische Geschichtswerke, Tagebücher von japanischen Soldaten, die ihre Gedanken und Gefühle während ihres grausamen Tuns niedergeschrieben hatten, und schließlich verwob er all diese Fakten mit fiktiven Elementen, die es ihm wiederum ermöglichten, den Hintergründen dieses Krieges und der für ihn so zentralen Frage, wie es zu diesem Krieg überhaupt kommen konnte, auf einer weit tieferen Ebene nachzuspüren.

Sorgfältig und mit Bedacht hat Xiong Yuqun dabei seine Protagonisten ausgewählt. Auf chinesischer Seite ist da zunächst Zhu Yidian zu nennen, gelernter Korbmacher und stolzer Besitzer eines Lastkahns, mit dem er in normalen Zeiten Waren wie Reis und Tabak über den Miluojiang, den Xiangjiang und die zahlreichen von diesen gespeisten kleinen Seen schippert, in Kriegszeiten wie diesen aber auch Waffen zur Unterstützung der Nationalarmee mit an Bord hat. Als Guerillakämpfer versucht er, gegen die japanischen Invasoren anzugehen. Sodann spielen zwei Frauen eine wichtige Rolle in seinem Leben, Wang Minru, eine enge Freundin, die in Yingtian von japanischen Soldaten grausam gequält, vergewaltigt und schließlich getötet wird, und seine Ehefrau Zuo Kunwei, mit der er ein Kind hat. Weitere Figuren in diesem Roman werden von dem Vater von Zuo Kunwei, Zuo Taiyi, verkörpert, der auf einer einsamen Insel namens Sanzhou zurückgezogen lebt und der während des Kampfgeschehens zusammen mit seiner Tochter und dem Kind von Zhu Yidian an einen sicheren Platz in einem nahegelegenen See gebracht wird. Diesem gegenüber steht dessen jüngerer Bruder Zuo Taiping, der als Kreisvorsteher die Truppen der chinesischen Nationalarmee unterstützt.

Hinzu kommen zwei japanische Hauptfiguren. Da ist Nobuhiro Takeda, ein junger Mann, der aus Hiji, einem Ort in der an der Küste des Gelben Meers gelegenen Präfektur Ōita, stammt und als frischrekrutierter Soldat im August 1937 zusammen mit vielen anderen Soldaten auf einem großen Truppentransportschiff, der ZENYO MARU, nach China reist, um dort an verschiedenen Fronten gegen die Chinesen eingesetzt zu werden. Der Leser erfährt auch, dass Nobuhiro vor jener ersten Schlacht um Changsha bereits in drei anderen Einsatzgebieten aktiv war, in den Schlachten um Shanghai, Xuzhou und Wuhan. Auch können wir dem Roman entnehmen, dass er in diesen früheren Schlachten bereits Erfahrung mit der Zähigkeit des Generals Guan Linzheng (1905–1980), auch genannt „Eisenfaust“, gemacht hatte, einem General der chinesischen Nationalarmee, der sich zuvor schon im Kampf gegen die Kommunisten hervorgetan und Mao Zedong und seine Leute dazu gezwungen hatte, den „Langen Marsch“ anzutreten, um sich vor der Verfolgung durch Chiang Kai-Sheks Truppen in Sicherheit zu bringen.

Weit mehr als über Nobuhiro Takeda erfahren wir jedoch über dessen Frau Chizuko, die sich kurz vor seiner Abreise mit ihm vermählt. Nach fast zwei Jahren vergeblichen Wartens auf die Rückkehr ihres Mannes sehnt sie sich so sehr nach ihm, dass sie sich als Mitglied einer „Aufmunterungsdelegation“ nach China schicken lässt. Sie gelangt bis an die Front nach Yingtian, dem Ort, den ihr Mann und seine Truppe unmittelbar in einem brutalen Überraschungsangriff heimgesucht hat. Sie verbringen just am Tage des Mittherbstfestes eine gemeinsame Nacht in einem der noch stehengebliebenen Häuser in Yingtian, und Nobuhiro bemüht sich, Chizuko fernzuhalten von den zerstörten und niedergebrannten Teilen dieses Ortes. Am nächsten Tag soll Nobuhiro eigentlich einen neuen Einsatzbefehl erhalten, aber aufgrund der besonderen Umstände bekommt er drei Tage Urlaub, die er mit Chizuko verbringen kann. Es ist der zweite Tag seines Urlaubs, mit dem der Roman einsetzt, der Tag, an dem Zhu Yidian und seine Leute aus dem Hinterhalt den Reservekonvoi beschießen, in dem Nobuhiro und Chizuko sitzen, der Tag, an dem Zhu Yidian Nobuhiro Takeda niederstreckt und Chizuko in Gewahrsam nimmt.

Es geschieht just an dem Punkt, an dem Chizuko in die Hände Zhu Yidians fällt, der sie wegen des grausamen Mords, den die „Japsendeibel“, wie man sie damals im lokalen Dialekt nannte, an Wang Minru begingen, eigentlich für all diese Greuel büßen lassen und ebenfalls umbringen will, an dem – zunächst zögerlich, doch dann immer klarer – die Menschlichkeit bei Zhu Yidian die Oberhand gewinnt, wobei die erstaunliche Ähnlichkeit, die die fremde Japanerin mit seiner vetrauten Freundin aufweist, eine zentrale Rolle für Zhu Yidians Innehalten spielt. Das Thema Ähnlichkeit zieht sich überhaupt wie ein roter Faden durch den Roman: nicht nur die äußere Ähnlichkeit der Menschen des chinesischen und des japanischen Volks, sondern auch die Ähnlichkeit ihrer Kultur und Traditionen, die daraus herrührt, dass sich die Japaner ab dem 7. Jh. zunehmend an der chinesischen Kultur orientiert und sich diese zu eigen gemacht haben. Ähnlichkeiten werden aus japanischer Perspektive aber auch zwischen der Landschaft Südchinas mit Nobuhiro und Chizuko Takedas Heimatort Hiji in Ōita, von den weithin sich erstreckenden Nassreisfeldern über die Schilfmarschen bis hin zu einzelnen Pflanzen, festgestellt. Die wohl stärkste Metapher, die im Roman immer wieder an diese gemeinsame Kultur gemahnt, ist die des Mittherbstfestes, von den Chinesen „Zhongqiu“ und den Japanern „Tsukimi“ genannt. Dass ausgerechnet vier Tage vor diesem Fest, das Chinesen wie Japanern heilig war und bei dem sich Menschen beider Völker wünschen, es harmonisch im Familienkreis feiern zu können, der Angriff auf Yingtian seitens der Obrigkeit befohlen wurde, ist allerdings verbürgte historische Wahrheit, auch wenn man meinen möchte, das habe sich der Autor voll bitterer Ironie selber ausgedacht.

Historisch dokumentiert ist auch die Doktrin, die gerade gebildete Japaner, die von Ehrfurcht gegenüber der alten Kultur und Denktradition Chinas erfüllt waren, dazu brachte, dem modernen China geradezu verächtlich gegenüberzustehen und sich vorzumachen, man tue diesen „störrischen Shinesen“. etwas Gutes, wenn man sie, notfalls mit Gewalt, dazu brächte, sich mit Japan zu einer „Großasiatischen Wohlstandssphäre“ zusammenzutun, um sich auf diese Weise den Europäern widersetzen zu können.

Derlei Denken bringt der Autor dem Leser nahe, indem er ihn unmittelbar an den Reflexionen seiner beiden japanischen Protagonisten teilnehmen lässt, die ähnlich dem Joyceschen „Stream of Consciousness“ immer wieder als Rückblenden in die Gegenwart der Agierenden einbrechen. Überhaupt besteht eine Besonderheit dieses Romans in der gleichsam architektonischen Konstruktion der 49 Kapitel dieses Buches, bei der wie in einem Film immer wieder sowohl der Ort als auch die Zeit der Handlung wechseln, was dem Leser auch einiges an Geduld abverlangt. Die zahlreichen sich hieraus ergebenden Brechungen sind zunächst verwirrend, ergeben jedoch im Verlauf der Lektüre ein sich immer mehr verdichtendes komplexes Gesamtbild. Genau diese Vorgehensweise ermöglicht es dem Autor auch, Entwicklungen in den Köpfen der beiden japanischen Protagonisten über große Zeiträume, von ihrer Jugend bis hin zu der Zeit ihres Aufenthalts in China, aufzuzeigen. Auf diese Weise führt er dem Leser vor Augen, wie politische Indoktrination aus einem gebildeten Menschen eine menschenmordende Kriegsmaschine machen kann. Und er zeigt mit psychologischem Scharfblick, wie der traditionelle japanische Ehrenkodex in Verbindung mit dem inneren Druck, nicht als Feigling dastehen zu dürfen, auch einen an sich feinsinnigen und human eingestellten Menschen dazu bringen kann, sich im grausamen Quälen anderer Menschen besonders hervorzutun.

Die Fähigkeit Xiong Yuquns, sich als chinesischer Autor so in seine japanischen Protagonisten hineinzuversetzen, dass er diese ihrerseits über die Shinesen und shinesische Sitten und Gebräuche, wie sie in der Übersetzung jeweils die japanische Perspektive kennzeichnen, als etwas „Fremdes“ reflektieren lässt, kommt meisterhaft etwa da zum Ausdruck, wo Chizuko bei ihrer Begegnung mit Nobuhiro in Yingtian am Tag vor dem Unglück darüber reflektiert, dass sich die Türen in chinesischen Häusern nicht einfach schieben lassen wie bei ihr zuhause, sondern dass man diese öffnen muss.

Zahlreiche weitere Elemente werden von Xiong Yuqun in diesem dichtgepackten Roman wie zu einem bunten Teppich verwoben. So erfährt der Leser von der zeitweisen Zugehörigkeit Zhu Yidians zu den „Leuten vom Fenghuangshan“, einer Räuberbande, was ihn als einen etwas schillernden Lokalhelden erscheinen lässt, ebenso wie von seinem „Klingsäbel“, den ihm ein Schmiedemeister, als Zhu Yidian erst fünfzehn Jahre alt war, nach zweimonatiger Schmiedearbeit geschenkt hatte und der geradezu magische Fähigkeiten zu besitzen scheint. Man erlebt Zhu Yidian in seiner Sturm- und Drang-Zeit als Sänger von Liebesliedern, die bei ihm eng mit der Tradition chinesischer Arbeitslieder verknüpft sind und mit deren improvisiertem Rezitieren er das Herz von Zuo Kunwei gewinnt.

Überhaupt sind in den Roman zahlreiche Lieder und Gedichte eingestreut, viele davon angesiedelt in der Landschaft, in der die Romanhandlung spielt. Es ist Chizuko, der beim Anblick des Dongting-Sees auf der Anreise zu der Truppe ihres Mannes ein Gedicht von Zhang Xiaoxiang (1132–1169), einem Dichter der Südlichen Song-Zeit, mit dem Titel „Fahrt über den Dongting-See“ einfällt, das sie in ihrer Schulzeit auswendig gelernt hat, und auch hier drängt sich dem Leser – gewiss vom Autor intendiert – immer wieder die Frage auf, wie nur Angehörige eines Volkes, die gleichsam mit chinesischen Dichtern groß wurden, den Chinesen gegenüber plötzlich so feindselig gegenüber stehen können.

Man erfährt im Roman aber auch von der ganz frühen Geschichte eben jenes Teils von Hunan, in dem sich die blutigen Zusammenstöße zwischen Japanern und Chinesen ereigneten. Zuo Taiyi, der Vater von Zhu Yidians Frau Zuo Kunwei, der den größten Teil des Jahres ganz allein auf einer kleinen Insel namens Sanzhou verbringt und sich dem Daoismus verschrieben hat, weiß über die Frühgeschichte des Ortes Dawangyang Bescheid und erzählt den Leuten des Orts, dass sich genau unter ihren Füßen Relikte aus der Zeit des Stammes der Mi befänden, den Vorfahren der Bevölkerung des Staates Chu, und dass auch diese bereits in zahllose Kriege verwickelt waren, ebenso wie ihre Nachkommen über viele Dynastien. Und natürlich verschweigt der kenntnisreiche Autor dem Leser auch nicht, dass genau am Miluo-Fluss, der immer wieder im Zusammenhang mit den Kampfhandlungen genannt wird, sich einst Qu Yuan (ca. 340–278 v. Chr.), jener berühmte Beamte aus dem Reich von Chu, in die Fluten gestürzt hatte, aus Gram, dass sein Herrscher auf verleumderische Kollegen statt auf ihn gehört hatte. Nobuhiro Takeda ist es, der auf der Suche nach seiner Frau auf mehrere Tempel stößt, die zu Ehren des Qu Yuan errichtet wurden, und eben derlei Entdeckungen gehören zu den Indikatoren einer radikalen Wendung in seinem Denken.

Wie Xiong Yuqun am Ende seines Nachworts schreibt, ist es seine Hoffnung, dass dieser Roman, gerade weil er ein Kriegsroman ist, der die Mechanismen und Auswirkungen des Krieges auf so schonungslose Weise entlarvt, einen Beitrag zum Frieden auf der Welt leisten möge. In seinem Roman sind es vor allem Zhu Yidian und Chizuko, die dadurch, dass sie einander zögernd näherkommen, ihren Hass überwinden und zu Boten des Friedens werden. An der Stelle, an der der Autor Chizuko sagen lässt, dass sie, wenn sie nochmals nach China kommen würde, dies nicht mehr als Mitglied einer Aufmunterungsdelegation tun würde, sondern als jemand, der die Botschaft an die Soldaten herantragen würde, die Waffen niederzulegen, erinnert sie sogar ein wenig an die Frauen Athens im Drama „Lysistrata“, die ihre Männer auf ihre Weise zwangen, mit dem Krieg aufzuhören – aber ob sich der Autor neben all dem anderen auch noch mit der griechischen Tragödie befasst hat und auf diese anspielt, sei hier dahingestellt.

Sicher ist, dass dieser Roman in jeder Hinsicht ein Ausnahmewerk ist, eines, wie es vielleicht auch ein so begabter und vielseitiger Schriftsteller wie Xiong Yuqun nur einmal im Leben schreiben kann.

Dorothee Schaab-Hanke, im Dezember 2020

     
       

Vorbemerkung des Übersetzers

Xiong Yuquns Roman, der uns mitten in die Gräuel des Japanisch-Chinesischen Krieges versetzt, ist auch eine nach Versöhnung suchende Reflexion über das Verhältnis beider Kulturen. Die sprachliche Seite davon, die eigentümliche Beziehung zwischen dem Chinesischen und Japanischen, schlägt sich auch in der Sprache des Romans nieder, wo er aus japanischer Perspektive erzählt ist und wo die kulturellen Differenzen und Überschneidungen thematisch werden. Dieser sprachliche Aspekt soll hier kurz beleuchtet werden, da er sich aus einer Übersetzung ins Deutsche nicht einfach erschließt.

Ob es um Architektur, Religion, klassische Literatur oder auch um die Sprache selbst geht, die chinesische Kultur hat die japanische seit Jahrhunderten stark mitgeprägt, nicht umgekehrt. Entsprechend macht Xiong Yuqun, der für ein chinesisches Publikum schreibt, seine japanischen Figuren, deren Verachtung und Grausamkeit er ergründen möchte, zum Vehikel seiner Gedanken über Nähe und Ferne beider Kulturen, denn sie selbst sind in ihrer Tradition mit beiden Traditionen und in ihrer Sprache mit beiden Sprachen konfrontiert. Und sie selbst denken in der Fremde des chinesischen Festlands, auf das sie im Zuge der japanischen Invasion gekommen sind, über dieses Verhältnis nach. Für den Schriftsteller hingegen, der für seine Recherchen auch nach Japan gegangen ist und dort Teile des Romans verfasst hat, und auch für sein Publikum sind sie das Andere, das es zu verstehen und dem es sich daher zu nähern gilt, im besten Fall um zu sehen, wo und wie, wenn das möglich ist, eine gemeinsame Sprache zu finden wäre.

Die japanische Sprache ist nicht mit der chinesischen verwandt: Sie hat ihre eigene Grammatik, ihren eigenen Lautbestand und ihren eigenen Wortschatz. Mit Übernahme der chinesischen Schriftzeichen zur Aufzeichnung der japanischen Sprache und mit der Rezeption der chinesischen Literaturtradition hat allerdings auch die chinesische Sprache ab Mitte des 1. Jahrtausends Eingang in die japanische gefunden und ist darin heute präsenter, als es beispielsweise das Lateinische im Deutschen ist. Bei der Aneignung des Chinesischen ist selbiges natürlich nicht geblieben, was es als eigenständiges sprachliches System war und ist, sondern es ist in einer Weise integriert worden, wie es als Ergänzung und Erweiterung des Japanischen Sinn ergab. Die Schriftzeichen, in beiden Sprachen zentraler Bedeutungsträger, sind zu guten Teilen miteinander identisch in dem Sinne, dass sich ihre Schreibweise und Bedeutung in beiden Sprachsystemen ähneln. Die meisten Wörter sind jedoch Kombinationen dieser Bedeutungselemente, und zwar in den beiden Sprachen teilweise in sehr unterschiedlichen Kombinationen, oder gleiche Kombinationen sind mit unterschiedlicher Bedeutung besetzt oder werden völlig unterschiedlich ausgesprochen.

Was bedeutet das für die kulturspezifischen Wörter, mit denen der Autor seine japanischen Figuren sprechen, denken und sich erinnern lässt? Xiong Yuqun hat sich stellenweise entschieden, statt chinesischer Umschreibungen die japanischen Wörter selbst zu benutzen, das heißt die eigentümliche Kombination chinesischer Schriftzeichen, wie sie das japanische Wort in der japanischen Sprache aufweist (zum Beispiel 慰 安 所, auf japanisch Ianjo, den Schriftzeichen nach etwa Trost-Entspannungs-Stätte; das waren japanische Militärbordelle, in denen unter anderem Chinesinnen zwangsprostituiert wurden). Zum Teil mögen diese Wörter im chinesischen Sprachraum durch Kontakt mit der japanischen Kultur als Fremdwörter bekannt sein, so wie im deutschen Sprachraum etwa die Wörter Kimono oder Samurai bekannt sind. Bekannt sind sie im Chinesischen aber nicht in ihrer japanischen Aussprache, so wie sie ins Deutsche eingegangen sind, sondern als eine entsprechende Kombination chinesischer Schriftzeichen, die vom chinesischen Publikum allerdings in chinesischer Aussprache gelesen werden (so ist statt Kimono das gleichbedeutende japanische Wort wafuku 和 服 ins Chinesische eingegangen, allerdings wird es chinesisch hefu ausgesprochen; oder auch das japanische Malerei-Genre ukiyo-e 浮 世 絵, das auf Chinesisch fushihui gelesen wird). Das gilt auch für Eigennamen: Eine des Japanischen nicht mächtige chinesische Leserschaft wird die Namen der japanischen Figuren entsprechend der chinesischen Aussprache der Zeichen aussprechen, das heißt völlig anders als auf Japanisch, während sie in der deutschen Übersetzung natürlich in der japanischen Aussprache wiedergegeben werden.

Wie steht es nun aber um japanische Wörter, die im chinesischen Sprachraum unbekannt sind? Da gibt es den eigentümlichen Effekt, dass das unbekannte Wort nicht nur aus dem Kontext, sondern auch aus der Bedeutung der Schriftzeichen, aus denen es sich zusammengesetzt, in vielen Fällen erahnt werden kann (beispielsweise Chōzuya 手 水 舍, wörtlich Hand-Wasser-Hütte, Unterstände in Shinto-Schreinen zur Reinigung der Hände, wie sich den Schriftzeichen ungeachtet der Aussprache auch im Chinesischen ablesen lässt). Hier hat man in der Sprache eine Zwischenwelt aus Bekanntheit und Fremdheit, die aus dem spezifischen historischen Kontakt beider Sprachen herrührt und sich in einer deutschen Übersetzung nicht abbilden lässt. Im Deutschen hierfür verfremdete Wörter zu erfinden verbietet sich, es wäre keine glaubwürdige Darstellung einer existierenden fremden Sprache (des Japanischen), mehr noch, es würde die chinesische Perspektive absolut setzen, wo der Roman doch versucht, die japanische ernst zu nehmen. Andersherum aber nur verständliche deutsche Wörter zur Beschreibung des aus japanischer Perspektive Erlebten zu benutzen, würde das Element des Fremden, das es für das chinesische Publikum hat, zu sehr einebnen. Daher habe ich mich entschieden, in Passagen, die aus japanischer Sicht erzählt sind, lieber häufiger auch das japanische Wort (jedenfalls der Aussprache nach, wie sie in lateinischer Schrift dargestellt wird) zu benutzen, auch oder gerade wenn es hierzulande nicht bekannt ist; so wurde dem Text, wo er aus japanischer Perspektive erzählt, bewusst eine gewisse Widerborstigkeit belassen.

Des Weiteren noch eine Bemerkung zu Fremdbezeichnungen: Im Roman kommen diverse Bezeichnungen für China und die Chinesen bzw. für Japan und die Japaner vor, die einen zum Teil sehr pejorativen Charakter haben und zur Zeit des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges gebräuchlich waren. Wenn die japanischen Figuren über China und die Chinesen sprechen, verwenden sie meist das Wort 支 那 bzw. 支 那 人 (Zhina bzw. Zhinaren in chinesischer und Shina bzw. Shinajin in japanischer Aussprache), was letztlich einfach eine Übernahme des deutschen bzw. englischen Worts „China“ darstellt, die jedoch im Japanischen und vor allem Chinesischen einen sehr negativen Beiklang hat und von mir mangels besserer Alternativen mit einem kursiv geschriebenen „Shina“, „shinesisch“ etc. wiedergegeben wurde, um es von anderen, nicht-pejorativen Ausdrücken für Land und Leute zu unterscheiden.

Was die chinesischen Ausdrücke für die japanischen Aggressoren im Land betrifft, so ist im Roman die aus der Perspektive chinesischer Figuren am weitaus häufigsten vorkommende Bezeichnung Riben liangzi 日 本 梁 子 (wörtlich etwa „japanische Feinde“), einem lokalen Dialektwort, für das ich in Anlehnung an das verbreitete Schimpfwort Riben guizi 日 本 鬼 子 (wörtlich etwa „japanische Teufel“) die Übersetzung „Japsendeibel“ gewählt habe.

Bei dem für das Kampfgeschehen im Roman zentralen Ort Yingtian 营 田 (wörtlich: Garnisonsfelder) ist wichtig zu wissen, dass es sich hierbei zunächst um eine Flurbezeichnung für den gesamten Einzugsbereich des von Osten nach Westen zum Xiangjiang fließenden Miluojiang handelt, der letztlich in den Dongting-See mündet. Es ist, wie auch in einem im Nachwort des Autors zitierten Gedicht von Tian Han deutlich wird, ein im 12. Jahrhundert unter General Yue Fei urbar gemachtes ehemaliges Militärgebiet. Sodann ist Yingtian der Name einer Gemeinde, die im Norden den Hafen von Tuishanzui einschließt und sich im Süden bis zum Hafen des eigentlichen Orts Yingtian erstreckt, der im Chinesischen als „Straße von Ying-tian“ (Yingtianjie) bezeichnet wird und sich südlich der Berge Yandunshan und Shixingshan erstreckt. Diese „Straße von Yingtian“, bei der es sich eigentlich eher um ein ganzes Straßendorf handelt, bildet das Zentrum des Schlachtfelds, das im Fokus des Romans steht, und wird in der Übersetzung teils auch mit „Zentrum von Yingtian“. oder einfach mit „Yingtian“ wiedergegeben.

Ein im Text häufig vorkommendes Streckenmaß ist li 里, die chinesische Meile, die bewusst unübersetzt gelassen wurde. Das Li liegt historisch mal über, mal unter den 500 m, auf die es heute festgelegt ist. Mu 亩 ist ein chinesisches Flächenmaß, das knapp 667 m2 entspricht, also etwas kleiner als ein Handballfeld. Das Getreidemaß Dan 石 entspricht 100 Litern in der modernen Zeit.

Chinesische Eigennamen werden in der Regel in Pinyin, der modernen lateinischen Transkription des Standardchinesischen, wiedergegeben. Ausnahmen bilden Namen, die sich in anderer Form schon im Deutschen eingebürgert haben. Dabei lassen sich vor allem drei Arten unterscheiden. Zum einen gibt es Personennamen, die aufgrund der Herkunft und Präferenz ihrer Träger in kantonesischer Aussprache in westliche Sprachen eingegangen sind. Prominentes Beispiel ist der im Roman erwähnte Führer der Nationalen Volkspartei (Guomindang) und General Chiang Kai-shek, der im Hochchinesischen als Jiang Jieshi bekannt ist. Zweitens sind einige geographische Bezeichnungen in einer älteren Transkription ins Deutsche gekommen und erhalten geblieben. So wurde die Stadt Nanjing früher „Nanking“ geschrieben, was sich noch in der historischen Bezeichnung „Massaker von Nanking“ erhalten hat, während die Stadt selbst heute in Pinyin wiedergegeben wird. Drittens sind einige chinesische Namen nicht transkribiert, sondern ins Deutsche übersetzt worden, so vor allem der Gelbe Fluss und der Perlfluss.
Wie in der Übertragung ausländischer geographischer Namen ins Deutsche üblich, enden Namen von Seen auf das Deutsche „See“ (z.B. der Dongting-See), während bei Bergen und Flüssen in der Regel der komplette chinesische Name transkribiert wurde. Entsprechend enden Bergnamen auf „-shan“ (von shan 山, Berg, z.B. der im Roman vorkommende Niuxingshan), in Flussnamen hingegen kommen unterschiedliche Wörter für „Fluss“ zum Einsatz, sodass sie meist entweder auf „-he“ (von he 河, Fluss, z.B. der in Nanjing in den Jangtse mündende Qinhuaihe), auf „-shui“ (von shui 水, Gewässer, z.B. der in den Dongting-See mündende Zishui) oder auf „-jiang“. enden (von jiang 江, Fluss, z.B. der im Roman prominente Xiangjiang, der ebenfalls in den Dongting-See mündet). Ein Sonderfall ist der Jangtse oder Jangtsekiang, eine alte Transkription von Yangzijiang 扬 子 江, was im Chinesischen allerdings nur den Flussabschnitt von Nanjing bis zur Mündung ins Ostchinesische Meer bezeichnet und nicht den ganzen Fluss, den wir im Deutschen mit Jangtse meinen und der auf Chinesisch Changjiang 长 江 („langer Fluss“) heißt.

Daniel Fastner

     
       

Ausschnitt aus Kapitel 37

[…]

Eine rote runde Sonne ging auf, wie Theaterschminke färbte das Morgenrot ihre Wangen. Starr fixierte sie ihren Blick darauf und dachte daran, wie an jenem Tag die Morgensonne vor dem Laster aufgetaucht war. Es kam ihr vor, als schritte sie in eine Traumlandschaft hinein, auch der Morgenwind des Herbstes kam erneut herangeweht, sie spürte jenen frischen kühlen offenen Hauch auf ihrem Hals…

Allmählich nahm die Siedlungsdichte zu, sie trafen auch mehr Menschen auf dem teilweise matschigen Weg. In den Gräben und Löchern lagen Reste von Schnee. Immer wieder tauchten Ansammlungen von Grabstätten auf, weiße Papierbanner flatterten in der friedlich stillen Frühe. Chizuko senkte gepeinigt den Kopf. Heimlich warf sie einen Blick auf Zhu Yidian, der schweigend vor ihr herlief und den Weg suchte. Hörte der Weg auf, blickte er um sich, bis er einen neuen Weg entdeckte. Dann lief er schnell dort hinüber und wartete dann auf sie.

Sie war es nicht gewohnt, beim Gehen große Schritte zu machen. Mit Trippelschritten lief sie leicht über die Erde. Er sah immer mit zweifelnden Blicken auf ihre Füße, wartete aber geduldig, bis sie sich ihm genähert hatte, und ging dann erst wieder voraus. Wenn Chizuko ihn sich zu ihr umdrehen sah, verbeugte sie sich, sodass er sich, peinlich berührt, wieder nach vorne wandte.

Sie kamen an eine eingestürzte Brücke. Zwar war das Schmelzwasser nicht tief, doch füllte es den Bach in seiner ganzen Breite. Beide zögerten, dann zog Zhu Yidian kurzerhand seine gelben Armeestiefel aus und drehte sich zu ihr um. Chizuko verbeugte sich wieder, er wartete geduldig, bis sie sich aufrichtete, und fragte dann: „Soll ich dich tragen?“

Chizuko errötete und sagte „Entschuldigung.“

Da ging Zhu Yidian zu ihr hinüber und nahm sie auf die Arme. Sie überraschte das stillschweigende Einvernehmen, das zwischen ihnen herrschte. Eine lange nicht dagewesene Vertrautheit zwischen ihnen, die schon in Vergessenheit geraten war, kam jetzt wieder zum Vorschein. Gerührt davon, stellte sich bei beiden ein Gefühl dafür ein, was sie Besonderes aneinander hatten. Durch den Lebensrhythmus und ihren Körperkontakt war lange schon, ohne dass sie es bemerkt hatten, eine Harmonie zwischen ihnen entstanden. Jetzt begriffen sie plötzlich, dass seine ganze Bereitschaft, all dies für sie zu tun, darin begründet lag, dass sie ihm ans Herz gewachsen war. Und dass ihre geänderte Einstellung gegenüber Shinesen auf ihrer Bewunderung für ihn beruhte, denn zuerst hatte sich ihre Einstellung ihm gegenüber geändert. Sie reiste mit ihm, dieser Landstrich fühlte sich nicht länger fremd an, verschwunden war das Gefühl, ohne jede Beziehung zu dieser Landschaft zu sein, und der Grund dafür lag ebenfalls bei diesem Mann.

Damals war sie mit Nobuhiro Takeda durch diese Gegend als durch ein fremdes Land gereist, es war eine bedrückend fremde, ja beängstigende Landschaft gewesen. Jetzt konnte sie ihre Schönheit schätzen und die vertrautesten Elemente ihres Lebens darin wiederfinden. Unwillkürlich umarmte sie ihn in der Hoffnung, dass er sie ein wenig fester hielte. Sie fühlte sich einsam. Jetzt, da sie im Begriff war, ihren Traum zum Platzen zu bringen, sehnte sie sich nach einem Menschen, der sie dabei begleitete, wie sie sich der Realität stellte. Ihn in diesem Moment an ihrer Seite zu haben, war unersetzlich!

Beiden begann vom Laufen warm zu werden. Es war helllichter Tag geworden, eine Zeitlang schien die Sonne, dann tauchte sie in dünne Wolkenschichten ein. Chizuko trug die Kleidung von Zuo Kunwei, die diese zur Hochzeit gefertigt hatte. In Erwägung dessen, dass sie Nobuhiro treffen könnte, hatte sie im ersten Morgengrauen begonnen, sich hübsch zu machen und Zuo Kunweis Puder aufzutragen. Sie hatte sich lange nicht mehr geschminkt. Zuhause war das völlig unvorstellbar, dass Frauen ungeschminkt aus dem Haus gingen. Sie öffnete die Kragenknöpfe, sie war Knöpfe nicht gewohnt, denn Kimonos mussten nicht zugeknöpft werden. So lag ihr Hals offen, schließlich zeigten schöne Frauen alle gerne ihren Hals.

Sie bemerkte eine gewisse Panik in Zhu Yidians Augen, als er ihren Hals sah. Mehrfach starrte er auf diesen Flecken, und während er starrte, machte sich auch in ihr Panik bemerkbar. Sie wusste nicht, was in seinem Kopf vor sich ging, und knöpfte die Halspartie lieber wieder zu. Niemand hier trug die Kleidung so wie sie, es musste zu viel Aufmerksamkeit erregen. Er blickte die ganze Zeit die Kleidung an, die seine Frau zu ihrer Hochzeit hergestellt hatte und die jetzt eine andere Frau am Körper trug. Er fand sich in einer merkwürdigen, schwer zu fassenden Gemütslage mit einigen sehr vagen Empfindungen. Er wusste nicht, ob ihm die so vertraute Kleidung fremder schien, weil sie von einer anderen Frau getragen wurde, oder ob diese Frau ihm näher rückte, weil sie ihm so vertraute Kleidung trug. Es schien beides der Fall, es schien, als zögen sich zwei Kräfte gegenseitig an. Er wollte zu einer einheitlichen Haltung gegenüber dieser Verbindung aus Mensch und Kleid kommen. Sicher, Kleidung war bloß eine Sache, natürlich war die zu vernachlässigen. Dennoch verlangte es ihn danach, dass der Mensch und die von ihm getragene Kleidung eine Einheit bildeten. Von diesem inneren Verlangen erregt und gequält, verließ ihn das Gefühl für Maß und Anstand.

Auf matschigen, schwer zu begehenden Wegstrecken ließ sich Chizuko von Zhu Yidians Hand führen, und trotzdem fiel sie mehrfach beinahe hin. Die Sonnenhitze erwärmte die Erde, vom roten Schlamm stiegen Dünste auf. Auch ihre Hände wurden warm. Unter ihren Sohlen klebten dicke Schichten roten Schlamms, die Füße zu heben, erforderte Kraft. Immer wieder brach Zhu Yidian Stöcke von Bäumen ab, um den Dreck von den Sohlen zu kratzen, erst von Chizukos, dann von seinen. Die Sohlen mussten so häufig abgekratzt werden, dass er den Stock irgendwann einfach mitnahm.

Zum Mittag hin kamen sie durch Qingzhuqiao, bald würden sie ihren Zielort erreichen. Sie beide wussten, dass die Suche wahrscheinlich zu keinem Ergebnis führte, beziehungsweise dass das Ergebnis schon lange feststand, nur dass Chizuko es sich noch nicht eingestand. Sie hatte kommen müssen. Nicht zu kommen, war keine Option gewesen, gleich ob er tot war oder noch lebte. Es war nicht so, dass sie es nicht bereits verstandesmäßig erfasste, doch ihren selbstgestrickten Traum musste sie auch eigenhändig zum Platzen bringen.

Sie überkam Trauer, eine abgrundtiefe Verzweiflung ging brutal auf sie nieder, wie ein Unwetter fegte sie über die Welt und ließ keinen Stein auf dem anderen; alles, aber auch alles brach in sich zusammen, die Einsamkeit drückte mit aller Wucht auf sie nieder, ließ ihr schwarz vor Augen werden und ihre Beine wanken, in ihrem Inneren war eine einzige Ödnis und Wildnis… Der Kraft zum Stehen beraubt, würde sie gelähmt zu Boden sinken.

Immer noch gab es die Landschaft von Zedrachbäumen, Kampferbäumen, Kiefern und Bambus, immer noch gab es den Weg. Vereinzelt hingen noch Reste der gelben Früchte hoch an den Ästen der Zedrachbäume. Als wäre nie etwas vorgefallen, waren hier zwei fremde Menschen, einer starrte in die Luft, der andere weinte sich die Lunge aus dem Hals. Die Mittagssonne beschien schwächlich diesen leicht gewölbten Hang. In der Ferne grub jemand im Boden, ein anderer fällte einen Baum, der stumpfe Klang der Axt hallte durch die Luft.

Zhu Yidian dachte an die Szene zurück, die sich mehrere Monate zuvor ereignet hatte. Hinter einem Baum versteckt, hatte er auf den Lastwagen geschossen. Nach gut ein Dutzend Schüssen hatte eine Stimme „Mich hat’s erwischt!“ gerufen. Selten hatte er so schmerzvolle japanische Worte gehört. Voller Freude war er nach vorne zu einem Kampferbaum gestürmt, von wo er die Situation deutlicher erkennen konnte. Er zielte nun mit kühlerem Kopf und schoss erst, wenn er das Ziel erfasst hatte. Auf einmal sprang ein hochgewachsener Soldat hinten aus dem Wagen, genau in dem Moment betätigte er den Abzug. Die Kugel traf ihn am Rücken. Das war der Ehemann der Frau gewesen, die er nun vor sich hatte.

[…]

 

三十七

[…]

一 轮 红 日 升 起 , 朝 霞 油 彩 一 样 涂 在 她 的 脸 颊 上 , 她 呆 呆 地 注 目 着 它 , 想 起 了 那 天 出 现 在 卡 车 前 面 的 朝 阳 , 仿 佛 走 进 了 一 个 梦 境 , 秋 天 的 晨 风 仿 佛 又 吹 过 来 了 , 她 脖 子 上 感 觉 到 了 那 股 清 凉 、 爽 朗……

村 落 慢 慢 变 得 稠 密 , 路 上 走 的 人 也 多 了 。 路 有 些 泥 泞 。 沟 沟 坎 坎 留 着 残 雪 。 一 个 个 坟 场 出 现 了 , 白 色 的 纸 幡 飘 动 在 宁 静 的 早 晨 。 千 鹤 子 低 下 头 , 心 里 难 过 极 了 。 她 偷 偷 看 了 看 祝 奕 典 , 他 一 直 不 声 不 响 走 在 她 的 前 面 , 他 在 寻 找 路 , 遇 到 路 断 了 , 他 眺 望 着 , 发 现 新 的 路 他 会 快 步 走 过 去 , 然 后 在 那 里 等 她 。

她 走 起 路 来 不 习 惯 迈 大 步 , 细 碎 的 脚 步 , 轻 轻 地 踩 在 地 上 。 他 总 是 疑 惑 地 望 着 她 的 双 脚 , 耐 心 地 等 到 她 走 近 了 他 才 往 前 走 。 千 鹤 子 看 到 他 转 身 面 朝 自 己 时 就 向 他 鞠 躬 , 弄 得 他 不 好 意 思 转 身 了 。

遇 到 一 座 断 桥 , 雪 水 虽 不 深 , 但 小 河 里 全 是 水 。 两 个 人 都 犹 豫 着 , 祝 奕 典 穿 的 是 部 队 的 黄 胶 鞋 , 他 脱 了 鞋 , 转 过 身 来 , 千 鹤 子 又 向 他 鞠 躬 , 他 耐 心 等 她 直 起 身 来 , 望 着 她 说 :“ 要 抱 你 吗 ?”

千 鹤 子 脸 刷 地 一 红 , “ 对 不 起 。 ”

祝 奕 典 就 过 来 抱 她 了 , 两 个 人 竟 然 十 分 默 契 , 一 种 久 违 的 熟 悉 的 东 西 被 他 们 遗 忘 很 久 了 , 现 在 又 出 现 在 他 们 俩 之 间 , 两 个 人 都 有 些 感 动 , 有 了 特 别 珍 惜 的 心 情 。 这 气 息 这 身 体 它 们 之 间 早 已 融 合 , 只 是 他 们 不 知 道 。 现 在 突 然 明 白 了 , 他 之 所 以 愿 意 为 她 做 这 一 切 , 是 他 心 里 已 经 接 受 了 她 。 她 之 所 以 改 变 了 对 支 那 人 的 态 度 , 是 她 开 始 欣 赏 他 了 , 首 先 改 变 了 对 他 的 态 度 。 跟 他 走 在 一 起 , 这 片 土 地 她 不 再 感 到 陌 生 , 不 再 感 到 与 自 己 毫 无 关 系 , 原 因 也 在 这 个 男 人 身 上 。

那 时 与 武 田 修 宏 走 在 一 起 , 这 片 土 地 就 是 异 国 他 乡 , 是 陌 生 得 扎 心 、 甚 至 是 恐 怖 的 土 地 。 她 现 在 可 以 欣 赏 它 的 美 丽 , 寻 找 出 她 生 命 中 最 熟 悉 的 部 分 。 她 不 由 自 主 地 搂 了 搂 他 , 渴 望 他 把 自 己 抱 得 紧 一 些 。 她 感 到 孤 单 , 当 面 对 梦 想 破 灭 的 时 候 , 她 渴 望 有 一 个 人 陪 着 她 共 同 去 面 对 。 这 样 的 时 刻 , 有 他 在 身 边 多 好 啊 !

两 个 人 开 始 走 得 身 子 发 热 。 天 也 大 亮 了 , 太 阳 照 了 一 会 儿 又 进 了 薄 薄 的 云 层 。 千 鹤 子 穿 的 是 左 坤 苇 的 衣 服 , 这 是 她 出 嫁 时 的 新 衣 。 千 鹤 子 想 着 可 以 见 到 武 田 修 宏 了 , 天 刚 亮 她 就 开 始 梳 妆 打 扮 , 她 把 左 坤 苇 用 的 粉 扑 了 一 脸 。 她 已 经 很 久 没 有 化 妆 了 , 这 在 国 内 是 不 可 想 象 的 , 女 人 出 门 都 要 化 妆 。 她 把 上 衣 领 的 布 纽 扣 解 开 了 , 她 不 习 惯 纽 扣 , 和 服 是 不 用 扣 扣 子 的 , 脖 子 露 在 外 面 , 美 丽 的 女 子 都 愿 意 露 出 脖 子 。

她 发 现 , 祝 奕 典 看 她 的 脖 子 眼 里 一 片 惊 慌 。 他 几 次 盯 着 那 个 地 方 , 盯 得 她 也 惊 慌 起 来 了 。 她 不 知 道 祝 奕 典 是 想 把 她 的 扣 子 扣 起 来 。 这 里 没 有 谁 这 么 穿 衣 , 这 太 打 眼 了 。 他 不 断 看 她 还 有 这 身 衣 服 , 这 是 他 堂 客 出 嫁 时 做 的 衣 服 , 现 在 穿 到 了 另 一 个 女 人 身 上 , 他 有 种 奇 怪 的 说 不 出 的 心 理 , 也 有 些 恍 兮 惚 兮 的 感 觉 。 他 不 知 道 是 亲 昵 的 衣 裳 因 另 一 个 女 人 而 疏 离 了 , 还 是 这 个 女 人 因 熟 稔 的 衣 服 而 变 得 亲 切 了 , 似 乎 都 是 , 似 乎 两 种 力 量 在 相 互 拉 扯 。 他 要 在 衣 服 与 人 之 间 选 择 一 种 态 度 , 他 知 道 衣 服 是 物 , 忽 略 的 当 然 是 它 。 然 而 , 心 理 上 他 却 渴 望 衣 与 人 是 一 体 的 。 他 被 自 己 这 种 渴 望 鼓 动 着 、 苦 恼 着 , 失 去 了 分 寸 。

泥 泞 难 行 的 路 , 千 鹤 子 牵 着 祝 奕 典 的 手 也 时 常 差 点 摔 倒 。 温 热 的 太 阳 照 在 大 地 上 , 红 泥 开 始 缕 缕 冒 着 热 气 。 他 们 的 手 也 是 温 热 的 。 他 们 的 鞋 底 被 红 泥 粘 了 厚 厚 的 一 层 , 抬 起 脚 来 很 费 力 气 。 每 走 一 段 , 祝 奕 典 就 要 折 根 树 棍 来 戳 鞋 底 的 泥 。 戳 了 千 鹤 子 的 又 戳 自 己 的 。 戳 得 多 了 , 祝 奕 典 就 拿 了 根 树 棍 走 。

接 近 午 时 , 他 们 走 过 了 青 竹 桥 , 那 个 地 方 快 到 了 。 两 个 人 其 实 都 明 白 不 会 有 结 果 , 或 者 早 就 有 了 结 果 只 是 千 鹤 子 不 愿 承 认 。 她 一 定 要 来 , 她 是 不 能 不 来 的 , 是 死 是 活 她 都 得 来 。 这 时 她 知 道 自 己 并 非 不 明 白 , 只 是 自 己 的 梦 得 自 己 亲 手 来 打 破 。

她 哀 伤 起 来 了 , 一 种 彻 底 绝 望 的 悲 伤 猛 烈 地 袭 来 , 一 阵 狂 风 暴 雨 把 世 界 弄 得 面 目 全 非 了 , 一 切 都 逝 去 了 , 她 的 孤 独 又 沉 沉 地 压 来 , 让 她 眼 睛 发 黑 腿 发 软 , 心 里 苍 凉 一 片 , 荒 芜 一 片…… 她 要 瘫 倒 在 地 了 , 失 去 了 站 立 的 力 量 。

还 是 那 片 苦 楝 树 、 樟 树 、 松 树 和 竹 林 , 路 也 还 在 , 苦 楝 树 上 黄 色 的 果 子 有 几 颗 孤 零 零 残 留 在 高 枝 上 。 仿 佛 什 么 也 不 曾 发 生 过 , 两 个 奇 怪 的 人 在 这 里 , 一 个 发 着 呆 , 一 个 哭 得 气 绝 。 正 午 的 阳 光 薄 薄 地 照 耀 着 这 片 低 缓 的 坡 地 , 远 处 的 人 影 在 地 里 挖 着 什 么 , 有 人 在 砍 树 , 斧 头 的 钝 响 回 荡 在 空 中 。

祝 奕 典 想 着 数 月 前 的 一 幕 , 他 藏 在 树 身 后 向 着 卡 车 射 击 , 射 出 十 几 颗 子 弹 后 , 听 到 一 声 喊“ 我 中 弹 了” 。 那 是 他 听 到 的 一 声 最 悲 切 的 日 本 话 。 他 心 里 痛 快 极 了 , 又 朝 前 面 一 棵 樟 树 冲 去 , 他 看 得 更 清 了 , 脑 子 更 冷 静 了 , 瞄 着 , 直 到 瞄 准 了 才 扣 动 扳 机 。 一 个 高 个 子 突 然 从 车 厢 站 起 来 往 下 跳 , 就 在 这 一 瞬 间 , 他 的 扳 机 扣 动 了 , 子 弹 打 到 了 他 的 背 上 。 他 就 是 眼 前 这 个 女 人 的 丈 夫 。

[…]

 
       
       

Nachwort des Autors, Beginn von Teil I

Yingtian, Tuishanzui, Dawanyang, Matoucao, Nanduqiao, Xinshi, Hejiatang, Guiyi… Die Namen dieser Dörfer und Städte, die mir seit meiner Kindheit vertraut sind, tauchten eines Tages unvermutet in einem Text zur Geschichte des Zweiten Japanisch-Chinesischen Kriegs auf – als ich im Internet auf eine Schlachtfeldkarte aus dem großen Krieg stieß, fiel mir auf, dass an diesen Orten Kesselschlachten, Verteidigungsstellungen, Angriffe markiert waren. Schockiert blieb mir der Atem weg; in dem Großraumbüro, in dem ich saß, schienen alle Geräusche zu verstummen…

Das liegt 14 Jahre zurück, doch diese Erinnerung steht mir noch deutlich vor Augen: Immer wieder sah ich auf diese Dorfnamen, die sich vertraut und doch fremd anfühlten, wie Blutsverwandte aus früheren Generationen. Jetzt forschte ich ihnen auf einem unbekannten Terrain nach: Ich überflog ungeduldig den Text, und jedes Mal, wenn ich auf diese Dörfer stieß und las, was ihnen zugestoßen war, fieberte ich mit ihnen in der Gefahr. Diese Namen führten mich zur Schlacht um Changsha – ich befand mich schon auf der passenden Website. Ich konnte nicht glauben, dass die endlosen Grauen des Kriegs mit diesen abgeschiedenen, friedvollen Dörfern in irgendeinem Zusammenhang stehen sollten. Ich versuchte, mir Detonationen und dichten Rauch zwischen diesen Häusergruppen vorzustellen, doch die tragischen Bilder wollten mir einfach nicht in den Kopf.

Dies waren die Fakten: An diesen Orten wurde eine Großschlacht geschlagen, in die die japanische Armee eine Streitmacht von 100000 Mann warf und in der 300000 Soldaten der Nationalen Armee kämpften! Das hat wirklich im Herbst 1939 stattgefunden. Ich sah, wie akkurat die mir vertrauten Dörfer und die militärischen Stellungen beschrieben waren, die Angriffe und Gegenangriffe. Der Lauf der Ereignisse war nicht nur im Text genau beschrieben, sondern auch auf der Landkarte markiert. Es handelte sich um eine Karte des früheren Landkreises Xiangyin.

Wahre Ereignisse umgibt immer eine bestimmte Aura, die ganze Geschichte hatte solche Ausmaße, dass ich tatsächlich keinerlei Zweifel daran hegte, nicht argwöhnte, ob es sich vielleicht um Fiktion handelte. Im Gegenteil, ich hatte augenblicklich das Gefühl, der Krieg sei mir näher gerückt, er schlug mir geradezu ins Gesicht, in meinem Kopf lebte er an jenen mir so vertrauten unwegsamen Orten wieder auf… Mein Schock wurde immer größer: Ich hatte schlicht nichts davon gewusst, dass dort, wo ich geboren und aufgewachsen war, der Krieg gewütet hatte, und das nicht einmal 20 Jahre vor meiner Geburt!

Natürlich kehrte ich zu den Erinnerungen aus meiner Kindheit zurück. Hatte es unter den Bewohnern meiner Heimatregion etwa einen kollektiven Gedächtnisverlust gegeben? Mir fiel ein, dass meine Großmutter väterlicherseits häufig erzählt hatte, dass sie sich vor den „Japsendeibeln“ versteckt hätten (die Leute in meinem Heimatort benutzten nicht den verbreiteten Ausdruck riben guizi, „Japsenteufel“, sondern sprachen von riben liangzi, „Japsendeibeln“) und welche Ängste sie ausgestanden habe. Mein Großvater mütterlicherseits sprach häufig von zoubing, „Laufsoldaten“, er erzählte, wie immer weitere Trupps von Guomindang-Soldaten und „Japsendeibeln“ kamen und gingen, gingen und kamen, und oft wurde aus seinen Erzählungen nicht klar, welchem Lager die Einheiten zugehörten.

„Laufsoldaten“ ist ein Dialektwort und beschreibt Armeeeinheiten auf dem Durchmarsch. Doch wenn mein Großvater von durchmarschierenden japanischen Soldaten sprach, passten Gesichtsausdruck und Stimmlage nicht dazu; der Horror in seinem Gesicht gab einem das Gefühl, als sei Alptraumhaftes in unmittelbarer Nähe geschehen, vielleicht in einem Kartoffelkeller, einem Wassergraben, einem Schilffeld. All das waren Orte, in denen sich die Menschen dieser Region damals versteckten, die Gefahr drang auf sie ein wie kalt blitzende Schwerter, sie spürten den kalten Hauch im Nacken und klapperten mit den Zähnen. Zahlreiche Kinder wurden unter dem Tumult der schreienden „Japsendeibel“ und dem Trappeln der Wildlederstiefel von ihren eigenen Eltern lebendig erstickt – aus Furcht, ihr Weinen könnte die anderen Dorfbewohner verraten.

Oft erwähnten die Leute Yingtian. Sie erzählten, dass die „Japsendeibel“ dort eine große Zahl an Menschen getötet hatten, manche sprechen von knapp tausend, andere von achthundert. Den Gestank der Leichen habe man Dutzende Kilometer weit gerochen… Doch konnte man solche Szenen zur Zeit der japanischen Besatzung nicht öfter beobachten? Das alles fügte sich noch nicht zu dem Bild einer großen Schlacht.

Ich begriff, dass die einfachen Leute immer nur einen Ausschnitt des Geschehens zu sehen bekommen hatten. Sie waren damit konfrontiert, ein sicheres Versteck für sich finden zu müssen, wie sollten sie da ein genaues Verständnis dafür entwickeln, wie weit sich das Schlachtfeld erstreckte und wie viele Truppen involviert waren. In den 17 Jahren, in denen ich im Qu Yuan-Verwaltungsbezirk lebte, hat nicht ein einziges Mal irgendjemand von dieser Schlacht gesprochen. Doch ganze vier Mal wurde zu beiden Ufern des Miluojiang diese Massenschlacht geschlagen. Das Maß an Grausamkeit überstieg alle Vorstellungen, eine Armee von selten erlebter Brutalität verwandelte alle Orte, die sie erreichte, in eine Hölle auf Erden!

Das Blut und die Tränen dieser Zeit sind lange getrocknet. Die sie persönlich erlebt haben, sterben einer nach der anderen. Die Erinnerung an das Leid existiert in den Menschen, die noch am Leben sind, sie liegt als Wundschorf über den riesigen Narben und in den Alpträumen, die ihrem Leben aufgeprägt sind und die sie bis ans Lebensende quälen. Ich musste irgendetwas tun, und wäre es nur, die Erinnerung an diese Not zu bewahren. Am Anfang war nur der Drang, etwas aufzuschreiben, doch mir fehlte das Material. Daher wollte ich in Yingtian Interviews führen. Ich musste für dieses Unterfangen die Menschen in meinem alten Zuhause aufsuchen, bevor diejenigen, die noch persönliche Erfahrungen mit diesen Ereignissen verbanden, alle aus der Welt geschieden waren.

[…]

 

后记 (一)

营 田 、 推 山 咀 、 大 湾 杨 、 马 头 曹 、 南 渡 桥 、 新 市 、 河 夹 塘 、 归 义…… 这 些 我 童 年 熟 悉 的 村 庄 与 集 镇 , 有 一 天 它 们 的 名 字 突 然 出 现 在 战 史 上—— 我 在 互 联 网 上 无 意 中 看 到 了 一 场 大 战 , 它 们 是 部 队 包 围 、 防 守 、 攻 击 的 地 标 。 我 深 为 震 动 , 屏 息 静 气 , 在 那 个 大 空 间 的 办 公 室 里 , 所 有 的 声 音 仿 佛 都 安 静 下 来 了……

这 是14年 前 的 一 幕 , 那 个 记 忆 至 今 清 晰 : 我 反 复 看 着 这 些 村 名 , 感 觉 熟 悉 又 陌 生 , 它 们 就 像 我 前 世 的 亲 人 , 我 在 一 片 神 秘 的 地 域 寻 觅 着 , 迫 不 及 待 , 一 路 顺 着 文 字 往 下 走 , 一 次 次 与 它 们 相 遇 , 看 见 它 们 的 遭 遇 , 为 它 们 的 安 危 担 忧 。 这 些 名 字 带 着 我 发 现 了—— 长 沙 会 战—— 我 已 进 入 了 海 峡 对 岸 的 网 站 。 我 无 法 相 信 连 天 的 战 火 会 与 这 些 偏 僻 宁 静 的 村 庄 联 系 在 一 起 。 想 到 爆 炸 与 浓 烟 就 在 这 些 连 片 的 房 屋 中 发 生 , 那 悲 惨 的 情 景 简 直 不 能 想 象 !

这 是 真 实 发 生 的 一 幕 : 一 场 日 军 投 入 兵 力10万 、 国 军30万 部 队 参 战 的 大 规 模 战 争 就 在 这 里 打 响 ! 没 错 , 这 是 己 卯 年 的 秋 天 。 我 看 到 了 熟 悉 的 村 庄 与 它 们 的 方 位 那 么 准 确 无 误 , 进 攻 与 反 击 , 过 程 不 但 准 确 地 写 在 文 字 里 , 也 标 注 在 地 图 上 , 这 是 以 前 的 湘 阴 县 地 图 。

真 实 的 事 情 总 有 一 种 气 息 , 事 件 如 此 巨 大 我 竟 然 没 有 半 点 疑 惑 , 没 有 怀 疑 这 是 不 是 一 次 虚 构 , 相 反 , 我 感 觉 战 争 瞬 息 间 走 近 了 , 它 迎 面 扑 来 , 凭 着 那 些 我 熟 稔 的 沟 沟 坎 坎 , 脑 海 里 它 正 在 复

活…… 我 的 震 惊 越 来 越 强 烈 , 发 生 在 我 出 生 和 成 长 之 地 的 战 争 我 竟 然 不 知 道 , 它 离 我 出 生 的 时 间 还 不 到20年 !

不 得 不 重 新 回 到 儿 时 的 记 忆 。 难 道 家 乡 所 有 的 人 都 集 体 失 忆 了 ? 我 想 起 奶 奶 常 说 的 躲 日 本 梁 子 ( 老 家 人 不 叫 日 本 鬼 子 而 叫 日 本 梁 子 ) , 她 如 何 如 何 害 怕 。 外 公 常 说 走 兵 , 中 央 军 、 日 本 梁 子 一 拨 拨 来 了 去 、 去 了 来 , 他 常 搞 不 清 是 谁 的 部 队 。

“ 走 兵” 一 说 是 方 言 , 指 路 过 的 军 队 。 但 外 公 说 到 走 日 本 兵 , 他 的 神 色 和 语 气 就 不 对 了 , 恐 惧 的 表 情 让 人 感 觉 噩 梦 就 在 不 远 的 某 个 地 方 发 生 , 也 许 是 一 个 茴 洞 , 一 条 水 沟 , 一 片 芦 苇 , 这 些 都 是 当 年 乡 亲 们 躲 藏 的 地 方 , 危 险 就 像 一 把 逼 近 的 寒 光 闪 闪 的 刀 , 让 人 脖 子 顿 生 寒 意 , 牙 齿 发 抖 。 许 多 孩 子 在 日 本 梁 子 哇 啦 哇 啦 的 叫 喊 与 “ 咵 咵” 的 翻 毛 皮 靴 踩 踏 声 中 , 被 自 己 的 父 母 活 活 捂 死—— 害 怕 他 们 哭 出 声 来 暴 露 了 乡 亲 。

人 们 常 提 起 营 田 , 说 日 本 梁 子 杀 了 多 少 人 , 有 说 上 千 的 , 有 说 八 百 的 , 发 臭 的 尸 体 几 十 里 外 的 地 方 都 能 闻 到…… 但 这 一 切 不 是 当 年 日 军 侵 华 常 见 的 情 景 吗 ? 它 不 足 以 与 一 场 大 战 联 系 起 来 。

于 是 , 我 明 白 了 , 老 百 姓 看 到 的 只 是 局 部 , 他 们 面 对 的 是 如 何 躲 藏 , 至 于 战 争 在 多 大 的 地 域 展 开 , 有 多 少 部 队 参 加 , 乡 民 又 怎 么 搞 得 清 呢 。 我 在 屈 原 管 理 区 生 活 的17年 里 , 从 来 就 没 有 人 说 出 过 这 场 战 争 。 四 次 规 模 宏 大 的 战 争 在 汨 罗 江 两 岸 的 土 地 上 反 复 打 响 , 其 残 酷 程 度 超 出 想 象 , 一 支 世 界 上 罕 有 的 残 暴 的 军 队 把 他 们 所 到 之 处 全 都 变 成 了 人 间 地 狱 !

尘 封 的 血 泪 已 经 枯 干 , 亲 历 者 正 一 一 逝 去 , 带 着 伤 痛 记 忆 活 在 世 上 的 人 , 这 结 痂 在 他 们 生 命 之 上 的 巨 大 疤 痕 与 梦 魇 , 终 身 在 折 磨 着 他 们 。 我 必 须 得 做 点 什 么 , 至 少 要 把 这 份 苦 难 的 记 忆 留 存 下 来 。 第 一 次 , 我 冲 动 着 , 想 写 点 什 么 , 但 我 手 上 什 么 资 料 也 没 有 。 于 是 , 想 到 田 野 调 查 , 我 得 找 老 家 的 人 去 做 这 件 事 情 , 赶 在 亲 历 者 还 没 有 全 部 离 世 之 前 。

[…]

 
       
       

Nachwort des Autors, Teil VI

Dass in einem Roman eines chinesischen Schriftstellers über den Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg Japaner eine Hauptrolle spielen, ist ungewöhnlich. Diesen Krieg beider Länder nennen wir in China „Widerstandskrieg gegen Japan“, in Japan heißt er „Japanisch-Chinesischer Krieg“. Doch wenn die andere Seite außen vor bleibt und man nur selbst über sich schreibt, hat das immer etwas Bedauerliches, man bekommt schwerlich ein Gesamtbild, allzu leicht verkommt dann die Beschäftigung mit dem Krieg zu einem Selbstgespräch. Wenn man diesen Krieg wirklich darstellen will, darf man sich nicht von den Japanern abtrennen. Ein guter Roman muss die nationalen Grenzen verlassen, muss auch den Japanern glaubwürdig erscheinen, damit sie diesen Besatzungskrieg nicht verleugnen. Ich denke, um die beiderseitigen Standpunkte zu überwinden und sich über den Hass zu erheben, darf man nicht nur vom Standpunkt des eigenen Landes und der eigenen Nation, vom Opferstandpunkt ausgehen, sondern muss das Wesen dieses Kriegs verstehen, die Verletzung des Menschlichen durch diesen Krieg. Man muss nach den tieferen Gründen und den wirklichen Verbrechen suchen. Den Wert des Friedens zum Ausdruck zu bringen, ist nicht nur dem Gewissen des Schriftstellers geschuldet, es ist auch seine Pflicht.

Ich schreibe über Hass und Vergebung, über die Liebe zum Menschen, über die Wechselfälle der Gefühle und der Seelen im Krieg, und auch über das Leiden im Krieg – dieses untröstliche unvorstellbare Leid lässt den Seelen, selbst wenn sie überlebt haben, keine ruhigen Tage mehr. So auch jener schwarze Tag von Yingtian, der diejenigen, die ihn erlebt haben, bis an ihr Lebensende in Alpträumen heimsucht. Menschlichkeit und Schicksale im Krieg, blutige Vernichtung von Menschenleben, der Zusammenbruch der menschlichen Moral, die Verallgemeinerung des Bösen, tragische Existenzen, die Tragik der Liebe… ich hoffe, das alles erregt nicht nur Mitleid, sondern regt auch zum Nachdenken über die menschliche Natur und Realität an.

Ich sehe diesen Roman als ein Buch des Friedens und hoffe, dass er Menschen auf immer als Warnung dient.

Und der Dongting-See zur Zeit der Republik, diese ferne verflossene traumgleiche Welt mit ihren wundervollen und magischen Ansichten war nicht nur Unruhe und Tragik, sondern tritt zwischen den Rauchschwaden des Kriegs selbst in seinen Nebeln und seiner Klarheit hervor…

Ich suchte im Internet immer wieder nach diesem 23. September 1939, betrachtete mir diese Zeitperiode in den unterschiedlichsten Aspekten, die damaligen Tabus und Feste, die Jahreszeiten und Wochentage, die Himmelsstämme und Erdzweige, astrologische Daten und Tierkreiszeichen, normale Jahre und Schaltjahre… Es gibt da eine Fremdheit und Nähe zugleich, und ich hatte das Gefühl, den Menschen und dem Leben jener Zeit näher zu kommen.

Immer wieder ging ich zur Baigu-Pagode in Yingtian, das einzige Monument, das den Überraschungsangriff überstanden hat. Über 1200 Soldaten und Offiziere starben in dieser Schlacht. Als die Einheimischen ihre Lieben begraben hatten, übernahmen sie zu Tränen gerührt die Überreste von über 400 Märtyrern, die sie an diesem Ort bestatteten. Heute stehen dort überall rote Ziegel- und Zementhäuser und engen den mit Gras überwucherten Friedhof zunehmend ein, Vögel nisten auf den Bäumen, der Ort verfällt ungepflegt, nirgends brennen Räucherstäbchen.

Mit dem Wissen über den Krieg ist natürlich auch die Rolle der Baigu-Pagode in Vergessenheit geraten, sie erscheint wie das Tor zu einer geheimnisvollen Vergangenheit.

Ende der 1950er Jahre wurde zur Landgewinnung in der Seeregion der Qu Yuan-Landwirtschaftsbetrieb mit einem Zentrum in Yingtian gegründet. Bauern von überallher siedelten sich dort an. Auf dem Friedhof steht noch der Stein von General Xue Yue, der in den Schlachten um Changsha die japanischen Truppen zurückschlug, überschrieben mit „Der edle Geist lebt fort“. Zu beiden Seiten ist ein elegisches Verspaar angebracht, mit dem Wortlaut: „Der Garde dreitausend leidenschaftliche Kämpfer kannten kein Zurück; / Des Herbstwinds im Mondschein eisige Feuchte mehrt weithin die Trauer.“

Jedes Mal, wenn ich es leise rezitierte, spülte Trauer wie Seewasser über mich. Ich dachte bei mir: Warte auf die Veröffentlichung dieses Buchs, dann willst du es vor den Gräbern verbrennen und das eigene zu Worten geronnene Herzblut den heldenhaften Seelen opfern.

Mögen die Seelen zur Ruhe kommen, auf dass sich die Tragödie nie wiederholt!

 

后记 (六)

中 国 作 家 写 抗 战 题 材 小 说 鲜 有 以 日 本 人 为 主 角 的 。 这 一 场 战 争 是 两 个 国 家 间 的 交 战 , 我 们 叫 抗 日 战 争 , 日 本 叫 日 中 战 争 , 任 何 撇 开 对 方 自 己 写 自 己 的 行 为 , 总 是 有 遗 憾 的 , 很 难 全 面 , 容 易 沦 为 自 说 自 话 。 要 真 实 地 呈 现 这 场 战 争 , 离 不 开 日 本 人 , 好 的 小 说 须 走 出 国 门 , 也 让 日 本 人 信 服 , 除 非 他 们 就 是 有 意 要 否 认 这 一 场 侵 略 战 争 。 我 想 , 超 越 双 方 的 立 场 , 从 仇 恨 中 抬 起 头 来 , 不 仅 仅 是 从 自 己 国 家 与 民 族 的 立 场 出 发 , 从 受 害 者 的 立 场 出 发 , 而 是 要 看 到 战 争 的 本 质 , 看 到 战 争 对 人 类 的 伤 害 , 寻 找 根 本 的 缘 由 与 真 正 的 罪 恶 , 写 出 和 平 的 宝 贵 , 这 对 一 个 作 家 不 仅 是 良 知 , 也 是 责 任 。

我 写 仇 恨 与 宽 恕 , 写 人 类 之 爱 , 写 战 争 中 跳 动 的 人 心 与 心 灵 历 程 , 写 战 争 之 痛—— 那 种 无 法 抚 平 无 法 想 象 的 痛 , 即 使 活 着 心 灵 也 永 无 宁 日 , 正 如 营 田 那 个 黑 色 的 日 子 , 它 是 亲 历 者 一 生 也 走 不 出 的 噩 梦 。 战 争 中 的 人 性 与 命 运 , 战 争 对 人 血 淋 淋 的 摧 毁 , 人 类 道 德 的 大 崩 溃 , 广 泛 的 恶 行 , 悲 剧 性 的 生 存 , 爱 情 的 悲 惨…… 我 希 望 这 一 切 不 只 是 激 起 普 遍 的 悲 悯 , 还 有 对 于 人 性 与 现 实 的 反 省 。

因 此 , 我 愿 意 将 这 部 书 视 为 和 平 之 书 , 希 望 它 永 远 给 世 人 以 警 示 。

而 民 国 时 期 的 洞 庭 湖 , 那 个 远 逝 如 同 梦 幻 般 的 世 界 , 有 着 奇 异 又 魔 幻 的 生 存 图 景 , 远 不 只 是 动 荡 与 悲 壮 , 它 从 战 争 的 硝 烟 间 正 朦 胧 又 清 晰 地 呈 现 出 来……

我 一 次 次 网 上 搜 寻 , 重 回1939年9月23日 这 个 日 子 , 它 在 各 种 不 同 的 方 式 里 呈 现 , 那 时 的 禁 忌 与 节 日 , 节 气 与 星 期 , 天 干 与 地 支 , 运 程 与 生 肖 , 平 年 与 闰 年…… 既 遥 远 又 亲 近 , 仿 佛 靠 近 了 那 时 期 人 们 的 生 活 。

我 一 次 次 走 到 营 田 百 骨 塔 , 这 是 那 场 偷 袭 唯 一 留 下 的 遗 迹 。

1200多 名 将 士 在 此 战 死 , 老 乡 们 埋 了 亲 人 又 含 泪 收 集 了400多 位 烈 士 的 尸 骨 , 埋 葬 在 这 里 。 这 里 红 砖 水 泥 的 楼 房 遍 布 , 挤 占 得 墓 地 越 来 越 窄 , 杂 草 蔓 生 , 鸟 在 枝 上 筑 巢 , 荒 凉 衰 败 , 香 火 全 无 。

大 战 既 然 不 知 , 百 骨 塔 自 然 遗 忘 一 角 , 像 个 神 秘 事 件 的 入 口 。 二 十 世 纪 五 十 年 代 末 围 湖 造 田 建 立 屈 原 农 场 , 营 田 变 成 农 场 场 部 , 来 自 四 面 八 方 的 农 民 迁 入 这 里 。 墓 地 薛 岳 题 写 的“ 浩 气 长 存” 碑 文 还 在 , 两 边 是 挽 联 :“ 虎 贲 三 千 热 血 一 腔 无 反 顾 , 秋 风 入 月 寒 潮 万 里 有 余 哀 。 ” 每 一 次 默 诵 , 哀 伤 的 情 绪 总 是 潮 水 一 样 淹 没 我 。 我 想 , 等 这 本 书 出 版 后 , 把 书 在 墓 前 烧 了 , 以 我 自 己 心 血 凝 成 的 文 字 来 祭 奠 英 灵 。

只 求 灵 魂 安 息 , 悲 剧 不 再 重 演 。

 
       
       

Persönliche Bemerkungen eines Lesers dieses Romans

Nach fast dreißigjährigem Aufenthalt in Deutschland habe ich 2015 in Guangzhou meinen Landsmann und Freund Xiong Yuqun wiedergesehen. Mit Bewunderung habe ich erfahren, dass aus dem damaligen Bauingenieur mit ersten Berufserfahrungen ein in China mehrfach ausgezeichneter Dichter und Schriftsteller geworden ist. Einige Monate später erschien sein Roman Yimaonian yuxue (deutsch: „Schneesturm 1939“), der inzwischen schon mehrfach neu aufgelegt wurde. Während der Frankfurter Buchmesse im Herbst 2017 gab es eine Bekanntmachung des Flower City (Huacheng)-Verlags, Guangzhou, über die Internationale Lizenzvergabe und es wurde ein Vertrag über die deutsche Übersetzung mit dem Ostasien Verlag geschlossen. Anlässlich dieser Lizenzvergabe war ich als Dolmetscher auf der Buchmesse tätig.

In diesen Tagen erscheint nun die deutsche Übersetzung des Romans, welch eine Freude! Dieser Roman ist ein Meisterwerk, ein Klagelied über die Grausamkeit des Kriegs, aber zugleich auch ein Lobgesang auf Menschlichkeit und Liebe. „Ein Schwert, geschmiedet und geschliffen in 14 Jahren“ so bezeichnete der Autor sein Werk selbst. Die russische Übersetzung des Romans ist schon erschienen. Die englische Übersetzung wird in Kürze erscheinen. Übersetzungen ins Italienische und Japanische sind derzeit noch in Arbeit. Übersetzungen ins Arabische, Ungarische und Indische, so habe ich erfahren, werden noch verhandelt. Es wurde sowohl in der chinesischen Presse als außerhalb Chinas bereits mit großem Interesse über das Erscheinen dieses wichtigen Romans berichtet. Von der chinesischen wie internationalen Fachwelt wurde der Roman bereits als „das chinesische Krieg und Frieden“ gefeiert.

Im Roman wird die bewegende Geschichte von einem japanischen und einem chinesischen Liebespaar vor dem Hintergrund jenes tatsächlich geschehenen Massakers im Ortsteil Yingtian, Landkreis Xiangying, Stadt Yueyang in Hunan, am 23. 9. 1939, um die Zeit des traditionellen chinesischen „Mondfests“, im Kontext der ersten Schlacht um Changsha erzählt. Hier wurde der Schriftsteller geboren. Das traditionelle chinesische „Duanwu (Doppel-Fünf)-Fest“ das jeweils am fünften Tag des fünften Monats nach dem chinesischen Mondkalender mit einem Drachenbootrennen in China und anderen Ländern Ostasiens begangen wird, hat hier seinen Ursprung. Der Aristokrat, Hofbeamte und Dichter Qu Yuan (ca. 340 – 278 v. Chr.) soll sich hier der Überlieferung nach, aus Groll über seine Verbannung vom Hof des Königs Huai von Chu, in den Fluss Miluo geworfen haben. Zu seinem Gedenken wurden an mehreren Orten in der Umgebung Gedächtnistempel für ihn errichtet und es wird in jährlichen Zeremonien seiner gedacht.

Um dem Leser die eindrucksvolle Landschaft um den Dongting-See in den 1930er Jahren vor Augen zu führen, sind an etlichen Stellen im Roman alte chinesische Gedichte in den Text eingestreut. Häufig findet man darin auch Dialoge im lokalen Dialekt des nördlichen Hunan. Beeindruckend sind auch die psychischen Gefühls-Achterbahnen der chinesischen und japanischen Protagonisten angesichts der grausamen Geschehnisse und der Schwierigkeit, unter den gegebenen Umständen miteinander umzugehen. Dieses Gefühlschaos zeigt der Autor insbesondere in der Figur von Chizuko Takeda, der Ehefrau des japanischen Soldaten Nobuhiro Takeda. Auch versucht der Autor genau nachzuvollziehen, wie der gebildete und vor seinem Eintritt ins Militär die traditionelle chinesische Hochkultur verehrende Meisterschüler Takeda zu einem Chinesen mordenden japanischen „Soldatenmonster“ werden konnte. Nach und nach entstehen sowohl bei Chizuko als auch bei Nobuhiro grundsätzliche Zweifel am Sinn des Kriegs.

Für den Roman hat der Schriftsteller zweimal je drei Monate in Japan verbracht und während dieser Zeit viele japanische zeitgenössische Bücher und Kriegstagebücher studiert, hat viele Familien der ehemaligen Soldaten, die in China gekämpft hatten, und Gedenkstätten besucht, die im Zusammenhang mit dem – in China als „Anti-Japanischer Widerstandskrieg“ bezeichneten – „Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg“ errichtet wurden. Sein bewundernswertes Nachwort dokumentiert den aus seinen unermüdlichen Nachforschungen rekonstruierbaren wahren Kern der von ihm erzählten Geschichte.

Die im Roman beschriebenen, von japanischen Soldaten begangenen, grauenhaften Kriegsverbrechen, bei denen über den Auftrag zu töten hinaus oft eine Tendenz, chinesische Zivilisten ohne Zwang, einfach aus „Spaß am Töten“ qualvoll zu ermorden, erkennbar wird, sind nicht vom Autor erfunden, sondern sämtlich durch Aussagen von Zeugen und Berichten in der damaligen Presse belegt. Vergleichbare Dokumente findet man auch im „Geschichtsgedächtnis“-Archiv in meiner Heimatstadt Luodi Xinhua und den Nachbarstädten, ebenfalls in der Provinz Hunan.

Nach den bis dahin für die Japaner meist siegreichen Schlachten in Norden und Osten Chinas fielen japanische Truppen von Wuhan aus in die Provinz Hunan ein. Namentlich bekannt sind die Schlachten von Changsha, Changde, Hengyang und West-Hunan, um die Provinzhauptstadt Changsha wurde insgesamt viermal hin- und hergekämpft. Das japanische Militär war in ganz Hunan, und zwar sowohl von Seiten der Regierungstruppen als auch der Bevölkerung, auf unerwartet harten und erbitterten Widerstand gestoßen. Durch verlustreiche Niederlagen anderswo in China hatte die Zentralregierung unter General Chiang Kai-Shek eine sogen. „Politik der verbrannten Erde“ in den Städten nach dem Muster des „Großen Brands von Moskau“ im Krieg gegen Napoleon angeordnet, da man davon ausging, dass eine Niederlage dieser Städte im Kampf gegen die japanischen Truppen bevorstand und damit die Gefahr bestand, dass kriegswichtiges Material in die Hände der Japaner gelangen könnte. Durch Sprengung von Brücken wurden Eisenbahnverbindungen und Straßen unterbrochen. Aufgrund von Missverständnissen und Telekommunikationspannen wurde die Stadt Changsha am frühen Morgen des 13.11.1938 angezündet, der sogen. „Große Brand von Changsha“ bzw. das „Wenxi-Feuer“ (nach der Bezeichnung für Tag und Uhrzeit des Brandes im damaligen Telegrammcode), bei dem bis zu 90% der Gebäude zerstört wurden, bis zu 30.000 Zivilisten in der Stadt umkamen und nicht zuletzt auch wertvolles Kulturerbe dieser alten Stadt in Flammen aufging. Die Stadt Changsha ist damit – neben Stalingrad, Hiroshima und Nagasaki – eine der vier im zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstörten Städte. Das im Roman beschriebene „Massaker von Yingtian“ ereignete sich nach diesem großen Brand der Ersten Schlacht um Changsha. Einer der drei vom Militärgericht in Schnellverfahren zum Tod verurteilten Verantwortlichen dieses großen Changsha-Brands, der ehemalige Polizeichef von Changsha, Wen Chongfo, ein Absolvent des 3. Jahrgangs der Whampoa-Militärakademie von Guangzhou, der wichtigsten „Offiziersschmiede“ Chinas im 19. Jahrhundert, war übrigens ein Großcousin der Ehefrau meines Großcousins.

Nach einer 47-tägigen blutigen Belagerungsschlacht, bei der von japanischer Seite auch Giftgas und Biowaffen zum Einsatz kamen, nahm das japanische Militär die Stadt Hengyang ein. Die dort stationierte 10. Armee unter General Fan Xiangjue, die ihre Stellung erst aufgab, als sie weder Munition noch Nahrung hatte und auch nicht mehr mit Nachschub rechnen konnte, gewann für ihren Kampfgeist sogar die Hochachtung des japanischen Militärs, man nannte diese Schlacht auch die „Moskauer Verteidigungsschlacht des Ostens“.

Um die Stadt Zijiang im Westen von Hunan zu erobern, in deren Nähe der zweitwichtigste Militärflughafen des Fernen Ostens lag, hat das japanische Militär die „Schlacht am Xuefeng-Berg Hunans“, auch bekannt als „Schlacht im Westen Hunans“, begonnen, die letzte Schlacht zwischen China und Japan im zweiten Weltkrieg.

Von dieser Schlacht waren auch Angehörige meiner Familie und der Familie meiner Frau betroffen. Der 19-jährige älteste Onkel meiner Frau mütterlicherseits namens Luo Renlin hatte als Mitglied der Sanitätsbrigade der 118. Division der 18. Armee der Regierungsarmee unter General Hu Lian gedient. Hus Abschiedsbriefe an seine Frau und seinen Vater, die von Liebe, aber auch von heldenhaftem Kampfgeist, Entschlossenheit und Opferbereitschaft erfüllt sind, hatte landesweit viele Leute bewegt. Luos späterer Schwiegervater, Sun Zhongyou, Sprecher der deutschen Kanonierklasse des 6. Studienjahrgangs an der Whampoa-Militärakademie, hatte als Kommandeur des 2. Kanonier-Bataillons der Eliteeinheit des Zentralen Lehrkorps in voller deutscher Rüstung an der Schlacht um Nanjing teilgenommen und dabei den Zijin-Berg bis zuletzt verteidigt. Aufgrund von Kommunikationsproblemen gehörte er zu den letzten Soldaten, die die Stadt Nanjing verließen.

Am Xuefeng-Berg liegt auch meine Heimat Lengshuijiang, Kreis Xinhua, mit der Xikuang-Mine, die wegen der dort entdeckten weltweit größten Vorkommen an dem Halbmetall Antimon bekannt ist. Um diese für die Rüstungsindustrie bedeutsame Mine ausbeuten zu können, wurde eine japanische Truppe dorthin beordert. Um die Mine vor den japanischen Soldaten zu schützen, hatte ein ortskundiger Einheimischer namens Duan, der durch den Sonderbeauftragten Zhao Tiancen der Provinzregierung in Changsha rechtzeitig informiert worden war, diese japanische Truppe absichtlich nach Yangqi, Kreis Xinhua, der Heimat meiner Eltern, gelenkt. Dort begannen die japanischen Soldaten, Zivilisten qualvoll zu ermorden. Ohne hier weiter in Details zu gehen, sei gesagt, dass die Grausamkeiten, die im Buch bezogen auf das Massaker in Yingtian beschrieben werden, noch nicht an die Verbrechen herankommen, die in meiner Heimatstadt und ihrer Umgebung begangen wurden. Dies bezeugt ein Massengrab mit Zehntausenden Opfern, die nach diesen Geschehnissen in der Nähe des wunderschönen unter Denkmalschutz stehenden „Wenchang-Pavillons“ in der Mittelschule Nr. 5 in Yangqi, Landkreis Xinhua, errichtet wurde.

Liu Wangshan, mein Großvater mütterlicherseits, war mit der ganzen Familie wochenlang auf der Flucht vor den japanischen Soldaten und versteckte sich schließlich zusammen mit zahlreichen anderen Zivilisten in einer kleinen Höhle im Wald von Maoluo. Aufgrund schlechter hygienischer Umstände und infolge des feuchten Wetters kam es zu einer Hepatitisseuche. Mit Ausnahme meiner Großmutter und einer Tante waren alle Familienangehörigen, insgesamt acht, von der Krankheit befallen. Mein Großvater, der den am schwersten erkrankten Onkel getragen hatte, starb schließlich selbst an Hepatitis. Dieser Onkel hat die Krankheit zwar überlebt, blieb aber lebenslang geistig leicht behindert. Alle Betroffenen waren, wie mir ein heute 91-jähriger Onkel schrieb, am Ende völlig abgemagert, ihre Haare fast alle ausgefallen. All dies trug sich nur ca. 100 Tage vor der japanischen Kapitulation zu, die in dem nahegelegenen ZiJian-Militärflughafen von dem Stellvertretenden Sekretär des japanischen Besatzungsmilitärs, Imai Takeo, unterzeichnet wurde.

Während eines „Business-English-Bildungsurlaubs“ in London habe ich eine japanische Opernbegeisterte, Frau Kanako Liu, kennengelernt. Hinter ihrem schönen eleganten Äußeren schien mir eine leichte Traurigkeit verborgen zu sein. Sie sprach fließend Chinesisch. Nach meiner vorsichtigen Nachfrage wusste ich, was ich aber schon vermutet hatte, nämlich, dass sie als Kind zu den sogen. „japanischen Waisenkindern des zweiten Weltkrieges in China“ gehörte. Diese japanischen Waisenkinder waren nach dem Krieg von chinesischen Pflegeeltern in China groß gezogen worden und meistens in den 1950er Jahren nach Japan zurückgekehrt. Diese bedauernswerten Menschen wurden in China häufig als Japaner und in Japan als Chinesen angesehen und behandelt. Aufgrund ihrer Integrationsschwierigkeiten in Japan kehrten manche dieser japanischen Waisenkinder später wieder nach China zurück. Die Eltern von Frau Kanako Liu genießen ihren Ruhestand nun in Shanghai. Ich habe nicht gewagt, wegen ihrer traurigen Familiengeschichte weiter in sie zu dringen. Es hat nach dem Krieg sehr viele „japanische Waisenkinder des zweiten Weltkrieges in China“ gegeben.

Während meiner Heimreise nach China Ende März 2019 habe ich die Schriftstellerin Satoko Motoyama kennengelernt, die einen chinesischen Vater und eine japanische Mutter hat, bei einer Vorstellung ihres Romans mit dem Titel „Memoiren der Witwe eines Veteranen des japanischen Angriffskriegs gegen China“. Ihr verstorbener Ehemann Toshimi Motoyama hatte selbst an den blutigen Schlachten um Changsha und Hengyang teilgenommen, hatte während der Kämpfe viel über den Sinn des Krieges nachgedacht, hatte verhafteten chinesischen Zivilisten zur Flucht verholfen und schließlich deren Herz gewonnen. „In Hunan habe ich mich von einer mordenden ‚Kriegsmaschine‘ zu einem ‚Menschen‘ gewandelt“, betonte, wie Satoko Motoyama berichtete, ihr mittlerweile verstorbener Ehemann immer wieder. Nach seiner Rückkehr nach Japan war er zu einem Aktivisten der Anti-Kriegs-Bewegung geworden. Erst Jahrzehnte nach dem Kriegsende war er 1998 nochmals nach Hunan gereist, diesmal aber mit 200 Kirschbaum-Samen im Gepäck, die auf dem Boden seines letzten Kampfplatzes in Wenmingpu in Qiyang, Hunan, angesät wurden. Seine Erfahrungen während des zweiten Weltkriegs wurden in seiner Biographie mit dem Titel „Kirschbaumblüten in Wenmingpu“ festgehalten.

Auch schrieb Motoyama in ihrer Rezension der chinesischen Fassung von Xiong Yuquns Romans: „Historiker bauen die Archive der Geschichte der Menschheit, die Schriftsteller die Archive der Seelen der Menschheit“, eine Aussage, die seither vielfach von anderen zitiert wurde.

Am 9. November 2013 haben meine Frau und ich in der Leipziger Thomaskirche, in der sich das Grab von Johann Sebastian Bach befindet, ein Konzert mit dem „Requiem“ von Mozart genossen. Alle im Publikum trauerten um die jüdischen Opfer vom 9. November 1938, an dem Tag, an dem eine landesweite Judenverfolgung durch Nazi-Deutschland begann. Diese Reichspogromnacht wurde auch „Kristallnacht“ genannt, weil die zertrümmerten Glasscheiben der jüdischen Geschäfte und Häuser den Widerschein der in Flammen gesetzten Häuser und Synagogen reflektierten. Dieser Nacht wird in Deutschland jedes Jahr gedacht.

Bei ihrem Besuch am 9. März 2015 in Japan hat Bundeskanzlerin Angela Merkel eine friedliche Beilegung von Konflikten in Ostasien angemahnt. „Eine Aussöhnung ist nur möglich, wenn sich Länder ihrer Vergangenheit stellten“, sagte Merkel bei diesem offiziellen Besuch in Tokio. 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges spielte sie damit auf die noch immer ausstehende Aufarbeitung der japanischen Besatzungszeit in China und Korea an. „Dennoch glaube ich, dass jedes Land seinen eigenen Weg finden muss”, sagte sie später in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem japanischen Ministerpräsidenten Shinzo Abe. Deutschland sei trotz seiner Verantwortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und für den Holocaust wieder in die Völkergemeinschaft aufgenommen worden, weil es sich seiner Verantwortung gestellt habe, betonte die Kanzlerin in einer Rede vor der Asahi-Stiftung. Auch sagte sie während jenes Aufenthalts in Tokio: „Deutschland möchte nicht als Lehrmeister auftreten. Aber zum Beispiel auch die Versöhnung mit Ex-Erzfeind Frankreich könnte beispielhaft sein, etwa für Japan und China.“ Notwendig, so Merkel weiter, seien eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der eigenen Verantwortung sowie „große Gesten“ der Vergebung.

Als ein musikalisches Denkmal für den Fall der Berliner Mauer hat der amerikanische Stardirigent und Komponist Leonard Bernstein am 25.12.1989, dem ersten Weihnachtstag nach der Öffnung der Mauer, in West- und Ost-Berlin jeweils Beethovens 9. Sinfonie dirigiert. Bernstein leitete zu diesem Anlass ein internationales Ensemble: Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wurde durch Musiker aus Dresden, Leningrad (heute wieder St. Petersburg), London, New York und Paris verstärkt. Es sangen der Chor des Bayerischen Rundfunks sowie Mitglieder des (Ost-)Berliner Rundfunkchores und des Kinderchores der Dresdener Philharmonie.

Auch in Japan wird zum Jahresende stets das Finale von Beethovens 9. Symphonie mit Schillers „Ode an die Freude“ als Schlusschor mit einer Besetzung von 10.000 Sängern gesungen.

Zum Gedenken an den 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs wurde am 11. November 2018 in der Kathedrale von Verdun an der deutsch-französischen Grenze „Das Requiem“ von Camille Saint-Saens von Deutschen und Franzosen gemeinsam gesungen. Es sollte den Nachgeborenen Trost durch die Hoffnung der Musik schenken und ein Zeichen der Aussöhnung setzen.

So träume ich davon, dass eines Tages auch Japaner und Chinesen gemeinsam erst ein „Requiem“ zum Gedenken der im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten und Zivilisten beider Länder und dann, zum Ausdruck der Hoffnung auf eine gemeinsame friedliche Zukunft, Schillers „Ode an die Freude“ aus Beethovens 9. Symphonie singen werden. Wenn Xiong Yuquns Buch „Schneesturm 1939“ in japanischer Sprache erschienen und in den Herzen der Menschen dort angekommen sein wird, dann könnte dies auch offiziell ein wachsendes Bewusstsein für das, was damals geschehen ist, und den Beginn einer wirklichen Aufarbeitung der Vergangenheit bewirken. Jedenfalls, so träume ich weiter, würde ich in jenem Chor, in dem gemeinsam die „Ode an die Freude“ gesungen wird, ebenfalls gern mitwirken.

Zhiyue Mike Luo, Bad Vilbel, zwischen dem 22. November 2020 (Volkstrauertag in Deutschland)
und dem 3. Dezember 2020 (Nationaler Gedenktag in der VR China)