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Fünf Arten Glück

   

Betrachtungen, Erzählungen und historische Skizzen aus dem China des 15. bis 19. Jahrhunderts, übersetzt und herausgegeben von Rainer Schwarz

 
   
   

Reihe Phönixfeder 28
OSTASIEN Verlag
Paperback (21,5 x 12,5 cm), xi + 153 Seiten
2015. € 17,80
ISBN-13: 978-3-940527-89-9 (978-3940527820, 9783940527820) ISBN-10: 3-940527-82-3 (3940527823)
Vertrieb: CHINA Buchservice / Bestellen

 
   
   

Welches ist das Rezept für wirklich schmackhafte Nudeln? Warum ist ein langes Leben kein Glück? Und wie wird man mit einem dreisten Wolf fertig? Diesen und vielen anderen Fragen gehen die Autoren nach, die hier mit ihren Texten vertreten sind, und zeichnen so ein kleines, aber vielfarbiges Bild vom China der letzten Jahrhunderte der Kaiserzeit.

 
 
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Inhalt

Einführung

   
     

Teil I: Betrachtungen

   
     

Fünf Arten von Glück (Autor: Qian Yong)

五福 (錢泳)

Vom Essen und Trinken (Autor: Li Yu)

飲饌部 (李漁)

Gaukelkünste (Autor: Pak Chi-won)

幻戲記 (朴趾源)
     

Teil II: Erzählungen

   
     

Die Geschichte vom Wolf in den Zhongshan-Bergen (Autor: Ma Zhongxi)

中山狼 (馬中錫)

Eine Darstellung von Leben und Taten der Frau Liu (Autor: Pu Songling)

述劉氏行實 (蒲松齡)

Der pietätvolle Sohn Zhou (Autor: Qian Yong)

書周孝子事 (錢泳)

Cuiliu (Autor: Zeng Yandong)

翠柳 (曾衍東)

Der kesse Chu (Autor: Zeng Yandong)

褚小樓 (曾衍東)

Die Falkenjagd (Autor: Zeng Yandong)

放鷹 (曾衍東)

Der alte Gemüsehändler Li (Autor: Zeng Yandong)

賣菜李老 (曾衍東)

Die bunten Boote vom Perlfluss (Autor: Xuan Ding)

珠江花舫 (宣鼎)

Die kleine Geschichte von Mary (Autor: Wang Tao)

媚梨小傳 (王韜)
     

Teil III: Historische Skizzen

   
     

Kurze Darstellung des Überfalls auf Linqing (Autor: Yu Jiao)

臨清寇略 (俞蛟)

Die Causa falscher Kaiserenkel (Autor: Aisin Gioro Jooliyan)

偽皇孫事 (愛新覺羅.昭槤)
     

Stellennachweise

   

   
 
   

Einführung

Im Vergleich mit dem weiten Meer der altchinesischen Erzählliteratur nimmt sich die vorliegende kleine Auswahl wie ein winziger Tropfen aus. Aber es heißt ja zu Recht: Im Wassertropfen spiegelt sich die Welt. Und so spiegeln auch die hier versammelten Texte wesentliche Züge des Lebens und Denkens im alten China wider.

Das Grundlegendste, das „Leib und Seele zusammenhält“, behandelt Li Yu 李漁 (1611–1680?) im Abschnitt „Yin­zhuan“ 飲饌 seines Buches Gelegentliche Zuflucht für die müßigen Gefühle (Xianqing ouji 閒情偶寄).

Li Yu war ein äußerst vielseitig engagierter Künstler, der Ge­dichte, Romane, Erzählungen, Essays und vor allem Büh­nen­stücke verfasste. Letztere führte er mit einer eigenen Trup­pe, bestehend aus seinen Nebenfrauen und Sklavinnen, auf ausgedehnten Reisen in den Anwesen der Wohlhabenden in vielen Gegenden des Landes auf. Obendrein war er ein geschätzter Gartenarchitekt und auch Verleger. Der Na­me seines Gartens in Nanjing 南京 lebt in dem von ihm heraus­ge­gebenen Mallehrbuch aus dem Senfkorngarten (Jiezi Yuan hua­zhuan 芥子園畫傳) fort. In Beijing 北京 gestaltete er den „Auf einem Halben Mu angelegten Garten“ (Banmu Yuan 半畝園), der später Wanggiyan Linking (chin. Wang­yan Linqing 王顏ž麟慶, 1791–1846) gehörte, einem zum hoch­rangigen Beamten aufgestiegenen Sklaven (chin. baoyi 包衣 für mandschurisch boo’i) des mandschurischen Geränderten Gelben Ban­ners (Kubuhe suwayan i gūsa, chin. Xianghuang Qi 鑲黃旗) und Nachfahren der tungusischen Jur­chen-Herrscher, die als Jin-Dynastie 金朝 von 1115 bis 1234 in Nordchina an der Macht waren. Er schreibt darüber unter dem Titel „Auf einem halben Mu einen Garten anlegen“ („Banmu yingyuan“ 半畝營園) in der dritten, 1846 er­schienenen Sammlung seiner reich bebilder­ten Auto­biographie Illustrierte Aufzeichnungen über Ursachen und An­lässe der „Schwanengansspuren im Schnee“ [d. h. der Spuren der Vergangenheit] (Hongxue yin­yuan tuji 鴻雪因緣圖記).

Ein anderes elementares Problem des menschlichen Daseins spricht Qian Yong 錢泳 (1759–1844) an, der den größten Teil seines Lebens in der untergeordneten Stellung eines Amtssekretärs in den verschiedensten Orten nördlich und südlich des Yangzi-Stromes (Chang Jiang長江) verbrachte und nebenher Gedichte und Essays schrieb, in denen er die provokante These aufstellte: „Ein langes Leben ist kein Glück.“ Dabei betrieb man im alten China einen regelrechten Kult der Langlebigkeit. Es gab eine spezielle Gottheit des Langen Lebens (Shouxing 壽星), der Opfer dargebracht wurden, den Jubilaren wünschte man „ein Leben, so lang wie das der südlichen Berge“ (shou ru nanshan 壽如南山), zum Geburtstag isst man noch heute lange Nudeln (changshou mian 長壽麵, wörtlich: Nudeln für ein langes Leben) sowie Pfirsiche, die als Sinnbild für Langlebigkeit dienen, weil langes Leben (shou 壽) und Pfirsich (tao 桃) in ältester Zeit gleich oder fast gleich ausgesprochen wurden.

Die beiden langlebigen Kaiser der mandschurischen Qing-Dynastie, Shengzu 聖祖 (Kangxi 康熙) und sein Enkel Gaozong 高宗 (Qianlong 乾隆), ließen eine alte Tradition wiederaufleben, indem sie an ihren großen runden Geburtstagen im Kaiserpalast jeweils ein „Bankett für tausend alte Männer“ (qiansou yan 千叟宴) ausrichteten, auf dem einmal fast sechstausend Männer im Alter von über sechzig und mehr als zehn von über hundert Jahren bewirtet und beschenkt wurden.

Der 70. Geburtstag des Kaisers Gaozong, der 1780 gefeiert wurde, führt uns zum nächsten Text – „Gaukelkünste“ (chin. huanxi 幻戲). Sein Verfasser ist Pak Chi-won 朴趾源 (chin. Pu Zhiyuan, 1737–1805), ein koreanischer Gelehrter der „Schule des pragmatischen Lernens“ (shixue jia 實學家), der als Begleiter der offiziellen Delegation des Vasallenstaates von Seoul über Beijing nach Jehol (chin. Rehe 熱河) reiste, wo der Kaiser in seiner Sommerresidenz (chin. Bishu shan­zhuang 避暑山莊, wörtl. „Bergchalet zur Vermeidung der Hitze“) die Gratulanten empfing.

Auf der Reise führte Pak Chi-won ein Tagebuch (Yŏrha ilgi 熱河日記, chin. Rehe riji), das in chinesischer Schriftsprache abgefasst ist, die für gebildete Koreaner ein Muss war. Diesem Tagebuch entstammt der Text.

Die Fabel vom Wolf in den Zhongshan-Bergen („Zhong­shan lang zhuan“ 中山狼傳) schrieb Ma Zhongxi 馬中錫 (1446–1512), ein hoher Beamter unter drei Ming-Kaisern, der letzten Endes zu Unrecht verdächtigt und ins Gefängnis geworfen wurde, wo er starb. Postum wurde er rehabilitiert.Ma schrieb Gedichte und Prosa, sein „Wolf“ist ein in China allbekanntes Symbol für jemanden, der Gutes mit Bösem vergilt, wie zum Beispiel eine Kapitelüberschrift in dem großen Romanwerk Honglou meng 紅樓夢 zeigt, das im Deutschen den unglücklichen Titel Der Traum der roten Kammer trägt. (Was ist eine „rote Kammer“? Was bedeutet „der Traum der … Kammer“? ) Dort heißt es in der Überschrift zum 79. Kapitel wörtlich übersetzt: „Jia Yingchun wird fälschlich mit einem Wolf aus den Zhongshan-Bergen verheiratet.“ (賈迎春誤嫁中山狼).

Als eine Kardinaltugend galt im alten China die Kin­des­pietät xiao 孝. Sie manifestierte sich im unbedingten Gehorsam der Kinder gegenüber den Eltern, solange diese am Leben waren, und nach ihrem Tod in der Anlage einer würdigen Grabstätte an einem vom Geomanten bestimmten glückverheißenden Ort, einem möglichst üppigen Begräbnis und regelmäßigen Opfern an den Ahnengräbern, damit die Toten nicht als Hungergeister (egui 餓鬼) umherirren müssen.

Einen besonders herausragenden Fall schildert Qian Yong, von dem auch die „Fünf Arten von Glück“ („Wu­fu“ 五福)stammen, in seinem Bericht über Zhou Fangrong 周芳容 aus Huating 華亭 in der Provinz Jiangsu 江蘇 („Shu Zhou xiaozi shi“ 書周孝子事), der sich in den Jahren 1812/13 allein und mittellos bis nach Guizhou 歸州 in der Provinz Hunan 湖南 durchschlug, um die Gebeine seines Vaters zu suchen und sie zu Hause in gebührender Weise zu bestatten.

Eine augenzwinkernd heitere Note ist den Geschichten von Zeng Yandong 曾衍東 zu eigen, die er als einer von vielen nach dem Vorbild der Merkwürdigkeiten, aufgezeichnet in der Studierstube „Für den Augenblick“ (Liao Zhai zhiyi 聊齋志異) von Pu Songling 蒲松齡 (1640–1715) schrieb und unter dem Titel Die kleine Bohnenlaube (Xiao doupeng 小豆棚) zusammenfasste, der an die Müßigen Geschichten aus der Bohnenlaube (Doupeng xianhua 豆棚閒話) erinnert, die einzige Rahmenerzählung in der altchinesischen Literatur.

Zeng Yandong stammte aus Jiaxiang 嘉祥 in der Provinz Shandong山東 und lebte von 1751 bis 1830. Im Jahre 1792 bestand er die staatliche Prüfung auf Provinzebene als Magister (juren 舉人) und wurde als Kreisvorsteher von Jiang­xia 江夏 in der Provinz Hunan 湖南 eingesetzt, verlor aber diesen Posten und wurde nach Wenzhou 溫州 in der Provinz Zhejiang 浙江 verbannt. Als er später begnadigt wurde, war er zu arm und zu alt, um in seine Heimat zurückzukehren, und so starb er in der Fremde.

Neben Prosa schrieb Zeng Yandong auch Gedichte; seine Kalligraphien und Malereien zeichnen sich vielfach durch Exzentrizität aus.

Xuan Ding 宣鼎, der Verfasser der „Bunten Boote vom Perlfluss“ („Zhujiang huafang“ 珠江花舫), ist ein weiterer und später Nachahmer von Pu Songling. Er wurde 1832 in eine reiche Familie hineingeboren, aber nachdem beide Eltern gestorben waren, als er eben zwanzig war, ging es mit ihm auf Grund seiner Weltfremdheit wirtschaftlich bergab. Er heiratete dann in die Familie seiner Frau ein, später wurde er, um seine eigene Familie ernähren zu können, zunächst notgedrungen Soldat – entgegen der sprichwörtlichen Maxime „Aus gutem Eisen macht man keine Nägel, ein guter Kerl wird nicht Soldat“ (好鐵不作釘,好漢不當兵). Danach war er Amtssekretär, schließlich aber lebte er in Shanghai 上海 vom Verkauf seiner Kalligraphien und Malereien. Seine Aufzeichnungen unter der Herbstlampe bei nächtlichem Regen (Yeyu qiudeng lu 夜雨秋燈錄) erschienen erstmals 1877, eine Fortsetzung in Xuans Sterbejahr 1880.

Wang Tao 王韜 (1828–1897), ein Zeitgenosse von Xuan Ding, war einer der letzten in der langen Reihe chinesischer Erzähler, die Geschichten in der klassischen Literatursprache verfassten, wie Pu Songling sie wieder in Mode gebracht hatte. Wang Tao schrieb drei große Sammlungen solcher Geschichten, jede in zwölf Büchern. Das Vorwort zu den Literarischen Skizzen aus einem Versteck am Fluss Wusong (Songyin manlu 淞隱漫錄), in denen die „Kleine Geschichte von Mary“ („Meili xiaozhuan“ 媚梨小傳)enthalten ist, stammt von 1884, erstmals gedruckt wurde das Buch 1887. Zum Inhalt von Wang Taos Geschichten ist zu sagen, dass darin nicht nur, wie Lu Xun 魯迅 (1881–1936) in seiner 1923 erschienenen Kurzen Geschichte der chinesischen Erzähl­literatur (Zhongguo xiaoshuo shilüe 中國小說史略, Abschnitt 22) festgestellt hat, „die Fuchsgeister schon allmählich selten werden, und die Taten von Prostituierten und schönen Frauen zahlreich sind“. Etwa 170 Jahre nach Pu Songling lebte Wang Tao auch in einer deutlich anderen Zeit: Mit Waffengewalt war das Tor, das auf den chinesischen Absatzmarkt führte, aufgebrochen worden, und in den Vertragshäfen konnten sich ausländische Diplomaten, Missionare, Unternehmer und Abenteurer frei bewegen und betätigen. Die Erfahrungen des vertrauten Umgangs mit Ausländern in China und die Erlebnisse während eigener Reisen nach Europa und Japan sind in Wang Taos Geschichten deutlich sichtbar, wofür die „Kleine Geschichte von Mary“ein gutes Beispiel ist.

Im Westen ist Wang Tao vor allem dafür bekannt, dass er dem schottischen Sinologen James Legge (1815–1897) bei der Übersetzung der chinesischen Klassiker ins Englische half.

Der mehrfach erwähnte Pu Songling genießt für das Liao Zhai zhiyi, seine große Sammlung phantastischer Geschichten, in China noch heute höchsten Ruhm, und auch weltweit ist sein Name wohlbekannt. Zu Lebzeiten aber war er bitterarm. Wohl hatte er die Staatsprüfung auf Präfektur­ebene glanzvoll bestanden, aber sooft er danach auch an der Prüfung auf Provinzebene teilnahm, war er doch nie erfolgreich und wurde so nie ein Magister, wodurch er auf einen Beamtenposten hätte hoffen können. Also musste er den Lebensunterhalt für seine Familie als Amtssekretär und Hauslehrer verdienen. Dadurch hatte er nie genug Geld, um sein großes Werk drucken zu lassen, es kursierte nur in Abschriften, ehe es fünfzig Jahre nach Pu Songlings Tod erstmals im Druck erschien. Von der Reinschrift des Originalmanuskripts blieb in der Familie Pu nur die erste Hälfte erhalten. Die zweite Hälfte wurde angeblich 1941 in einem Berliner Museum gesehen.

Einen anschaulichen Einblick in die bescheidenen Lebensverhältnisse von Pu Songlings Familie gewährt seine Darstellung von Leben und Taten seiner Ehefrau Liu („Shu Liu shi xingshi“ 述劉氏行實).

Eine Bestätigung fand Pu Songlings Armut, als während der „Kulturrevolution“ (1966–1976) „Rotgardisten“ (hong weibing 紅衛兵) unter dem Vorwand des „Kampfes gegen feudalistische Überbleibsel“ in der Hoffnung, Schätze zu finden, das Grab von Pu Songling und seiner Frau schändeten. Dabei fanden sie als Grabbeigaben nur vier Stempelsiegel von Pu Songling, einen einfachen Tuschereibstein, eine Öllampe und ein Handöfchen, beides aus Messing, sowie das Mundstück einer Tabakspfeife aus Glasfluss. Der Schädel ruhte auf einem dicken Buch, das nach 250 Jahren im Erdreich sofort zerfiel, als man es aufhob.

Der Essayist und Übersetzer Zhou Zuoren 周作人 (1885–1967), jüngerer Bruder von Zhou Shuren 周樹人 alias Lu Xun, schrieb 1930:

Die chinesische Nation ist, wie es scheint, mordlustig. In den letzten dreihundert Jahren sind Zhang [Xianzhong] 張獻忠, Li [Zicheng] 李自成, Hong [Xiuquan] 洪秀全 und Yang [Xiuqing] 楊秀清 bis hin zu den „Boxern“ deutliche Belege hierfür, dabei sind in den Büchern keine ein oder zwei Prozent davon beschrieben. Noch heute bekommt man es mit der Angst zu tun, wenn man darüber liest… O weh, wird es den Späteren bei der Betrachtung des Heute genauso ergehen wie den Heutigen bei der Betrachtung des Damals?

Einen blutigen Kampf zwischen Aufständischen und Regierungstruppen erlebte der weitgereiste Beamte und Literat Yu Jiao 俞蛟, Magister des Jahrgangs 1736, im Herbst 1774 zu­fällig als Augenzeuge. Er beschrieb ihn unter dem Titel Kur­ze Darstellung des Überfalls auf Linqing („Linqing koulüe“ 臨清寇略) in Buch 6 seines Werks Vermischtes aus der Traumklause (Meng’an zazhu 夢厂雜著, Vorwort 1801; 厂 steht hier für 庵).

Aisin Gioro Jooliyan (chin. Aixinjueluo Zhaolian 愛新覺羅ž昭槤; 1780–1833, auch bekannt als „Prinz Li“, Li qinwang 禮親王), war ein Angehöriger der Herrscherfamilie der mandschurischen Qing-Dynastie. Von dem Wunsch getrieben, der Nachwelt etwas Nützliches zu hinterlassen, schrieb er Vermischte Aufzeichnungen aus dem Pfeifpavillon (Xiao Ting zalu 嘯亭雜錄), in denen er Hunderte Fakten, Ereignisse, Anekdoten usw. aus der Geschichte der Qing-Dynastie festhielt, die sonst nirgendwo verzeichnet sind, was sein Buch zu einer wichtigen Quelle macht. Als Beispiel ist hier „Die Causa falscher Kaiserenkel“(„Wei huangsun shi“ 偽皇孫事) übersetzt.



[Xiaodou peng 14; siehe auch die kodierte Fassung in ctext.org, Abschnitte 62-69]

 

Die Falkenjagd

In den nördlichen Provinzen gibt es neuerdings eine Sorte von Menschen, die immer und überall auf Betrug aus sind. Stets geben sie ihre Ehefrau oder Tochter als Witwe oder Jungfrau aus, um sie zu verkaufen. Der Trick besteht darin, dass man sie für einen geringen Preis bekommt, und kaum ist man dann mit ihr zu Hause und lässt es ein wenig an Wachsamkeit fehlen, nutzt sie eine günstige Gelegenheit, um wegzulaufen. Während sie in Wirklichkeit zu ihrem Mann beziehungsweise Vater zurückkehrt, kommt der ins Haus des Käufers und presst ihn auf jede erdenkliche Weise aus. Das nennt man Falkenjagd. Es ist wohl so gemeint, dass der Falke den Hasen greift, aber zurückkommt. Selbst wenn man ihn bis zu den Wolken fliegen lässt, hat man doch einen Weg, ihn zu behalten.

Ai aus dem Kreis Nangong in der Provinz Zhili war zwanzig Jahre alt und noch ledig. In einem Unglücksjahr war er in die Hauptstadt gegangen, um als Diener zu arbeiten. Nach mehreren Jahren hatte er ein kleines Vermögen zusammengespart und machte Pläne für die Heimkehr. Er nahm Abschied von seinem Dienstherrn, packte seinen Besitz ein, kaufte einen kleinen Esel, und als er das träge Tier auf der langen Straße mit der Peitsche antrieb, fühlte er sich froh und zufrieden.

Es war an einem Frühlingsabend, und als er in den Kreis Xian kam, erblickte er schon aus der Ferne Reihen frisch ergrünter Weidenbäume, die mit kühlem Schatten lockten. Am Straßenrand stand ein alter Mann, neben ihm saß auf einer Baumwurzel eine junge Frau von blühendem Aussehen, die eine blassgrüne Jacke, schwarzseidene Hosen und kleine weiße Schuhe trug und bitterlich weinte. Neben ihnen war eine rundbäuchige Eselstute angebunden und zupfte Gras. Als Ai auf seinem Esel vorbeikam und dieser die Eselin erblickte, begann er laut zu schreien. Ai stieg aus dem Sattel, um zu rasten, und bat den Alten um Feuer für die Pfeife. Der Alte schlug Feuer und reichte es ihm.

Nun erkundigte sich Ai, wohin sie unterwegs seien, und der Alte berichtete, er habe seine Tochter abgeholt, um sie nach Hause zu bringen. Die junge Frau warf Ai einen Blick aus den Augenwinkeln zu und wandte sich wieder ab, der Alte aber ließ plötzlich seufzend den Kopf sinken. „Wenn Eure Tochter nach Hause kommt, ist das ein freudiges Wiedersehen“, sagte Ai. „Warum seid Ihr stattdessen traurig?“ „Woher seid Ihr?“, fragte der Alte. „Aus Nangong“, gab Ai ihm Auskunft.

„Da sind wir Nachbarn“, sagte der Alte. „Ihr könnt das nicht wissen, meine Tochter war hier in Xian mit jemandem verheiratet, der sehr arm war. Vergangenes Jahr ist er gestorben, Kinder haben sie keine. Ich lebe in ständiger Not, und meine Frau liegt schon unter der Erde. So sind wir beide gleichsam einsame Seelen, die zu niemand gehören. Auch bin ich schon so hinfällig, dass ich heute nicht weiß, was morgen mit mir sein wird. Und darum jammern wir uns gegenseitig etwas vor.“

„Warum sucht Ihr nicht einen neuen Mann für sie?“, fragte Ai. „Ich bin arm, und meine Tochter lebte hier in Xian“, sagte der Alte. „Wer bemüht da schon eine Ehevermittlerin?“ „Aber es gibt viele Männer im Reich, die keine Frau haben“, ließ Ai nicht locker. „Keine Frau bleibt ohne Mann. Ihr solltet schleunigst jemanden suchen.“ „Seid Ihr verheiratet?“, fragte der Alte. „Nein“, verriet Ai. „Ich habe noch keine Frau.“ „Wir sind ja Nachbarn“, fuhr der Alte fort. „Wenn Euch mein Töchterchen nicht zu hässlich dünkt, will ich sie Euch zur Frau geben.“ Ai zuckten vor Freude die Brauen, als er sagte: „Ich kehre eben aus der Fremde nach Hause zurück und bin in Eile. Was soll da als Bekräftigung der Absprache dienen?“ „Darüber können wir reden, wenn wir im nächsten Gasthof sind“, sagte der Alte.

Er nahm seine Eselin beim Strick und half seiner Tochter in den Sattel. Ai führte seinen Esel ebenfalls am Strick und ging mit dem Alten zusammen hinterher. Die junge Frau hatte ihn lange angesehen, und er wandte kein Auge von ihr. Der Alte schien davon nichts zu bemerken und blieb allmählich immer weiter zurück. Plötzlich drehte sich die junge Frau im Sattel um und lächelte Ai zu, und Ai fing ihren Blick ein. Wenig später verbarg sich die Sonne im Westen, Rinder und Schafe kehrten von der Weide zurück.

Als sie in ein Dorf kamen, kehrten sie zusammen in einem Gasthof ein und bekamen drei zusammenhängende Zimmer, ein großes in der Mitte und zwei Nebenräume, die nach Osten und Westen davon abgingen. „Hier müssen wir nicht mehr Mein und Dein unterscheiden“, legte der Alte fest. „Wir sind eine Familie und können im Ost- und Westzimmer übernachten.“ Ai nickte zustimmend. Die junge Frau ging ins Westzimmer, Ai trug das Gepäck ins Ostzimmer, und der Alte lief immer wieder hinaus. Mal verhandelte er mit den Leuten über das Futter für die Esel, mal kümmerte er sich ums Abendessen.

Während Ai im Zimmer mit seiner Kleidung und dem Bettzeug beschäftigt war, forderte ihn die junge Frau mit der Frage heraus: „Warum hat das mittlere Zimmer eine Tür, die Nebenzimmer aber nicht?“ „Wenn man zusammenlebt, braucht man einander nicht auszusperren“, gab Ai zur Antwort. Die junge Frau lachte spöttisch, da kam der Alte wieder herein und stellte das Essen auf den Tisch. Der Wirt brachte eine Lampe, dann aß der Alte mit Ai zusammen. Anschließend nahm er eine Hälfte der Speisen und brachte sie seiner Tochter, die im Westzimmer aß. Ai trank mit dem Alten, und als er angetrunken war, brachte er das Gespräch wieder auf die junge Frau.

„Ein Versprechen ist tausend Liang Silber wert“, sagte der Alte. „Wie könnte es mich jetzt reuen?“ Und er rief seine Tochter, damit sie mit Ai zusammen in das Ostzimmer ging und beide dort ein Paar wurden. „Hier unterwegs wollen wir keine großen Umstände machen“, sagte er. „Wenn wir morgen zu Hause sind und du nimmst sie mit zu dir, könnt ihr das Ritual nachholen.“ Ai erhob sich, um dem Alten die Ehre zu erweisen, die einem Schwiegervater gebührt, aber der Alte wehrte ab: „Nicht nötig! Ich bin betrunken und möchte schlafen.“ Damit stand er auf und ging ins Westzimmer, wo er dann wohlig schnarchte.

Ai räumte die Weinbecher weg, schloss die Tür und ging mit der Lampe ins Ostzimmer. Die junge Frau saß noch auf der Kante des Ofenbetts, blickte Ai an und nickte ein paarmal. Dabei pochte sie mit dem Fuß gegen die hölzerne Bettstütze. Ai legte das Gewand ab, näherte sich der Frau und wollte sie küssen, aber sie presste die Lippen zusammen und ließ es nicht zu. Da sagte Ai: „Der Himmel hat uns füreinander bestimmt.“ „Ich fürchte, es ist menschliche Berechnung, die uns zusammengebracht hat“, erwiderte die Frau. Ai zog ihr das Obergewand aus und erblickte ihre duftigen weißen Brüste, die weich und lieblich waren. Nun wollte er auch ihren Unterkörper frei machen, aber das Hosenband war so fest verknotet, dass er es nicht aufbekam. Erregt klagte er: „Wo finde ich eine scharfe Schere aus Bingzhou, um dieses Band zu zerschneiden?“ Und er packte den Knoten mit den Zähnen. Aber sofort fiel er besinnungslos zu Boden. Der Alte hatte wohl den Knoten mit einem Betäubungsmittel versehen, weil er erwartete, dass sein Opfer hineinbiss. Jetzt kam der Alte ins Ostzimmer herüber, legte Ai aufs Bett und nahm sich sein Vermögen.

Kaum dass der Morgen graute, stand der Alte auf und schirrte den Esel an. Und weil er sah, dass Ais Esel kräftiger war, zog er ihn aus dem Stall, lud ihm das Gepäck auf und befahl seiner Tochter aufzusteigen. Dann teilte er dem Wirt mit: „Mein Schwiegersohn schläft noch. Sein Reittier lasse ich hier. Ich breche mit meiner Tochter schon auf.“ Der Wirt, der nichts ahnte, ließ ihn im Licht der Sterne ziehen.

Als es Mittag war und der Gast noch nicht aufstand, um sich auf den Weg zu machen, und auch auf Rufe durchs Fenster nicht antwortete, wurde der Wirt unruhig und ging hinein, um nachzusehen, und da schlief der Gast immer noch. Nachdem ihn der Wirt eine Weile gerüttelt hatte, kam er zu sich und sagte: „Ich habe verschlafen.“ Dann erkundigte er sich nach seiner Frau und seinem Schwiegervater, und der Wirt sagte: „Eure Gattin und Euer werter Herr Schwiegervater sind noch bei Nacht aufgebrochen.“

Als Ai hastig aufsprang und in sein Kästchen schaute, fand er es leer. „Wie konntet Ihr zulassen, dass diese Räuber mein Silber stehlen?“, warf er dem Wirt vor. „Gestern Abend waren sie noch Eure Frau und Euer Schwiegervater“, gab der Wirt zurück. „Und jetzt, nachdem sie fort sind, haltet Ihr sie für Räuber. Was, wenn sie noch hier wären? Hieltet Ihr sie dann nicht immer noch für Eure Frau und Euren Schwiegervater? Oder vielleicht doch für Räuber?"

Ai wusste ihm nichts zu erwidern, also machte er die schlappe Eselin marschfertig und lud ihr sein Bettzeug und seinen Reisesack auf. Dann verließ er niedergeschlagen das Dorf. Plötzlich trottete die Eselin nach Westen. Ai zerrte am Halfter, aber die Eselin wollte nicht auf dem Weg bleiben, schlug aus und lief weg. Ai eilte ihr ärgerlich hinterher, stieg in den Sattel und ließ sie laufen. Jetzt lief sie sehr flott, kannte anscheinend den Weg und war nicht zu zügeln, worüber Ai sich sehr wunderte. So durchquerten sie mehrere Dörfer ohne Aufenthalt. Nach zirka dreißig Li kamen sie in ein Dorf, das halb versteckt an einem Berghang lag und nur aus wenigen Hütten bestand, die mit Gras oder Schilf gedeckt waren. Plötzlich ging die Eselin durch das Tor eines Flechtzauns, und als Ai eben absteigen wollte, erblickte er die junge Frau, die im Hof stand. Kaum dass sie ihn sah, sagte sie: „Gut, dass du kommst, Lieber! Ich will mit dir gehen!“

Ai wollte mit ihr streiten und sie befragen, aber sie sagte: „Du musst nicht krakeelen! Mein Vater betreibt die Falkenjagd und hat damit schon oft junge Leute hereingelegt, die auf Reisen waren. Du bist nicht der einzige. Ich hatte dabei wirklich nicht mittun wollen. Heute können wir es uns zunutze machen, dass mein Vater weit nach dem Markt unterwegs ist und erst am Abend wiederkommt. Dein Silber liegt im Bambuskorb, dein Esel steht im Stall. Ich stecke zu mir, was an Wertsachen da ist, und gehe mit dir. Das ist es, was der Himmel bestimmt hat, wie du es sagtest, und was mit menschlicher Planung nicht vorauszusehen war. Wenn wir zögern, könnte etwas Unvorhergesehenes dazwischenkommen.“

Jetzt freute sich Ai. Die Frau ging ins Haus und steckte das Silber ein, Ai aber schirrte seinen Esel an, und dann beluden sie die Eselin. Gemeinsam verließen sie das Dorf, stiegen auf die Tiere und ritten peitscheschwenkend davon. Mit Ais Esel zusammen lief die Eselin wieder gehorsam, wie man es von ihr verlangte. Also ritt das Pärchen nach Nangong und schloss dort die Ehe.

Ein halbes Jahr später erfuhr der Alte, wo seine Tochter sich aufhielt, und erschien bei Ai. Ai sagte seiner Frau Bescheid, und sie ging zu dem Alten hinaus, um ihm zu sagen: „Der Falke hat den Handschuh des Falkners verlassen und ist dem Hund gefolgt. Den alten Trick mit dem toten Schwiegersohn musst du dir aus dem Kopf schlagen. Also geh wieder heim und stör mich nicht bei der Arbeit.“ Damit verschwand sie im Haus und kam nicht wieder zum Vorschein.



[Xiaoting zalu 6; siehe auch die kodierte Fassung in ctext.org, Abschnitt "Wei huangsun shi"]

 

Die Causa falscher Kaiserenkel

Als Kaiser Chun im Frühling des 37. Jahres des Sechzigerzyklus auf dem Rückweg von seiner Reise nach dem Süden in Zhuozhou Station machte, wurde der kaiserliche Wagen von einem Buddhistenmönch empfangen, der einen Knaben bei sich hatte und sagte, dies sei der zweitälteste Sohn des Prinzen Lü mit dem postumen Ehrennamen Duan. Er sei, als er noch in den Windeln lag, verstoßen worden, weil die zweite Nebenfrau eifersüchtig gewesen sei. Er, der Mönch, habe ihn aus Mitleid zu sich genommen und großgezogen.

Der verstorbene Prinz Lü mit dem postumen Ehrennamen Duan hieß mit Rufnamen Yongcheng. Er war der vierte Sohn von Kaiser Chun, sollte aber die Linie des Prinzen Lü fortsetzen, der den postumen Ehrennamen Gong erhalten hatte. Seine besondere Liebe galt einer seiner Nebenfrauen, die einer Familie Wang entstammte. Eine andere Nebenfrau brachte seinen zweiten Sohn zur Welt, für den Se. Majestät bereits einen Namen bestimmt hatte. Zu dieser Zeit war der Prinz im Gefolge Sr. Majestät nach Luanyang gereist. Da wurde ihm gemeldet, das Neugeborene sei an den Pocken gestorben. Die Leute in seiner Residenz aber sagten übereinstimmend, das Kind sei von der Nebenfrau Wang umgebracht worden. Die Angelegenheit war so mysteriös, dass niemand sie zu durchschauen vermochte. Auch Se. Majestät hatte gerüchteweise von der Affäre gehört und glaubte deshalb, mit dem Knaben könnte es seine Richtigkeit haben. Er erkundigte sich bei seiner Nebenfrau aus dem Clan Irgen Gioro, und sie berichtete: „Als das Kind tot war, habe ich es zum Zeichen der Trauer gestreichelt, es ist nicht von der Nebenfrau Wang ausgesetzt worden.“ Diese Aussage war klar und deutlich, daher ließ Se. Majestät den Knaben in die Hauptstadt bringen und befahl den Mitgliedern des Staatsrats, sie sollten ihn gemeinsam ins Verhör nehmen. Der Knabe machte ein feierliches Gesicht und gab sich sehr aufrichtig. Er nahm auf der Bank im Dienstzimmer des Staatsrats Platz und blieb aufrecht sitzen, als er dessen Mitglieder erblickte. Den Rat Hešen redete er beim Rufnamen an und sagte zu ihm: „Komm, du bist ein vertrauter Gefolgsmann meines Kaiserlichen Großvaters, du darfst nicht zulassen, dass ein leiblicher Abkömmling des Himmelssohns zugrunde geht!“

Die Mitglieder des Staatsrats wagten nicht, ein Urteil über Wahrheit oder Lüge zu fällen. Da trat der stellvertretende Minister Bao Litang, der seinerzeit einer der Sekretäre des Staatsrats war, in herausfordernder Weise vor den Knaben hin, versetzte ihm eine Ohrfeige und fragte: „Woher stammst du, du Bauernlümmel? Jemand hat dir etwas eingeredet, und da wagst du es, dich an einer Verschwörung zu beteiligen, die deine ganze Familie das Leben kosten kann?“

Erschrocken verriet der Knabe, dass er aus dem Dorf Shu Cun kam, mit Familiennamen Liu hieß und von dem Mönch instruiert worden war. Damit war der Fall klar, und den Zeitgenossen galt Bao als ein zweiter Juan der Unfehlbare.

Als die Sache gemeldet war, wurde der Mönch auf dem Marktplatz enthauptet. Der Knabe wurde zum Militärdienst nach Ili verbannt. Später gab er sich auch dort als Enkel des Kaisers aus, wiegelte das unwissende Volk auf und wurde durch den nachmaligen Großsekretär Songyun ebenfalls enthauptet.

Aber wie ich erfahren habe, hat ein Eunuch aus der Residenz, dessen Familienname Yang lautete, gesagt: „In Wirklichkeit ist der zweitälteste Sohn des Prinzen Lü während der Pockenepidemie nicht gestorben. Frau Wang hat ihn heimlich durch eine fremde Kinderleiche ersetzt und des Prinzen Lustknaben Salingga befohlen, ihn aus der Residenz zu schaffen und aufs Ödland zu werfen. Was die kaiserliche Nebenfrau gestreichelt und beweint hat, war nicht das richtige Kind.“

Aber dafür, dass ein Mönch ein falsches Kind entsprechend instruiert hat, gibt es wohl ebenfalls Belege, und es kann nicht ohne Grund dazu gekommen sein.