Unsere Bekanntschaft und Freundschaft begann vor über drei Jahrzehnten im heißen Pekinger August 1987 im ländlichen Norden der Hauptstadt. In einem von einer landwirtschaftlichen Kommune geführten Hotel hatten die chinesischen Kollegen das fünftägige II. Internationale Symposium für Chinesisch als Fremdsprache mit knapp dreihundert Teilnehmern aus dem In- und Ausland einberufen und zur gleichzeitigen Gründung der Internationalen Gesellschaft für Chinesisch als Fremdsprache eingeladen. Neben Klaus Kaden, jahrzehntelanger Leiter und Professor für chinesische Sprache an der Sektion Asienwissenschaften der Humboldt-Universität, mit dem ich schon länger in Kontakt stand und der uns im vergangenen Jahr für immer verlassen hat, stand auf dem chinesischen Tagungsprogramm eine gewisser Gao Lixi 高立希 aus der DDR. Erst als Klaus Kaden ihn vor Beginn der Konferenz vorstellte, war ich sicher, dass es sich um Ulrich Kautz handelte. Sein Name war mir bislang nur von seiner 1980 verfassten Dissertation Übersetzung deutscher Relativsätze ins Chinesische bekannt, die merkwürdigerweise 1984 in erweiterter Form in englischer Sprache in Frankreich unter dem Titel Chinese equivalents of German and English relative clauses publiziert wurde. Da diese Arbeit zu einer der ersten in der kontrastiven Syntaxforschung Deutsch-Chinesisch zählt und zugleich als wichtiger Ansatz zur Einführung und Untersuchung der grammatischen Kategorie Relativsatz im Chinesischen gilt, war ich frühzeitig auf diese Publikation aufmerksam geworden.
Die auf der Konferenz anwesenden Vertreter aus der damaligen BRD und DDR nahmen behutsam Kontakt miteinander auf – zunächst in beharrlicher Begleitung Deutsch sprechender chinesischer Beobachter, die sich selbst in eines unserer Hotelzimmer einluden und die man erst am späteren Abend unter irgendeinem Vorwand loswurde, um dann ungezwungen unter sich zu sein. Auch ein deutsch-deutscher Ausflug in die Stadt wurde unternommen. Ich entsinne mich, dass ich noch etwas unbeholfen Ulrich Kautz um Erlaubnis für ein Erinnerungsfoto vor dem Tian’anmen bat – das erste mit ihm. Das war der Auftakt unserer jahrelangen Freundschaft.
Unter nicht immer ganz einfachen Bedingungen war es in den Jahren danach möglich, uns gegenseitig zu besuchen. Ulrich Kautz kam mehrmals auf Dienstbesuch in die Pfalz und wohnte gern bei uns. Dabei begannen wir, neben intensiven privaten und fachlichen Gesprächen gemeinsame Ideen und Projekte zu entwickeln, die sich vor allem auf die bis dahin noch weitgehend vernachlässigte sinolinguistische Forschung im deutschsprachigen Raum, die Ausbildung in modernem Chinesisch und von deutsch-chinesischen Übersetzern und Dolmetschern bezogen, wofür es allein an der Humboldt-Universität einen fest etablierten Studiengang mit einschlägigen Erfahrungen gab. Zudem wollte ich auf jeden Fall vermeiden, dass er seine 1983-1986 entstandene Habilitationsschrift wieder auf dem Umweg über Paris in englischer Übersetzung veröffentlichte. So gelang es schließlich, diese unter dem Titel Aktiv und Passiv im Deutschen und Chinesischen. Eine konfrontativ-übersetzungswissenschaftliche Studie als ersten Band der vom Fachverband Chinesisch neu gegründeten Schriftenreihe Sinolinguistica im Jahr 1991 zu publizieren und damit die deutschsprachige sinolinguistische Grundlagenforschung in engem Praxisbezug zur deutsch-chinesischen Übersetzungswissenschaft einen Schritt voranzubringen. Kautz’ Referat auf dem Pekinger Symposium zu eben diesem Thema fand ein überaus interessiertes Publikum.
In den ersten Januartagen 1990 gelang es mir dann endlich, einer Einladung zu zwei Vorträgen an die Humboldt-Universität zu folgen und nach der Erledigung der nötigen Formalitäten mit meiner Frau Zahra und den zwei Töchtern nach Ostberlin zu reisen. Im Rahmen des gut vorbereiteten Besuchsprogramms schien es zunächst nicht möglich, mit dem Privat-PKW einzureisen. Aber nur wenige Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer erhielten wir hierfür doch die offizielle Genehmigung und machten uns mit gebührenfreien Visen des „Ministerrats der Deutschen Demokratischen Republik“, die dann letztlich überflüssig wurden, am 4. Januar auf den Weg. Am Grenzübergang Potsdamer Platz erwarteten uns Kaden und Kautz und brachten uns direkt zur Humboldt-Universität, wo wir den historisch bedeutsamen ersten Tag erlebten, an dem die bisherige obligatorische Registrierung auswärtiger Gäste am Haupteingang endgültig entfiel. Nach dem Mittagessen in der Mensa und einem Stadtrundgang führte uns Ulrich Kautz zum Gästehaus der Universität, wo ich für die Zeit meiner Vorträge ein Zimmer bekam, und anschließend – er voraus im klappernden Trabi – zu seinem Haus in Grünau, in das er und seine Frau Brigitte uns mit aller Gastfreundschaft für eine Woche aufnahmen. Die Chance, mit dem Auto in die Noch-DDR einreisen zu dürfen, hatten wir genutzt, um reichlich Geschenke einzupacken – alles, was man damals dort noch schmerzlich vermisste: eine große Kiste mit frischem Obst (Bananen, Mangos, Ananas), Kaffee, zwei Kartons mit vorzüglichem Pfälzer Wein (der in der Familie Kautz auf große Freude stieß), ein Tütchen Samen für Lollo-rosso-Salat für den Garten, Dusch- und Körperlotion sowie Schallplatten mit frühen Verdi-Opern. Das kleine Haus in Grünau entpuppte sich als wahres Museum an Schätzen, die in den 1960er und 1970er Jahren während der Tätigkeit von Ulrich als Übersetzer und Dolmetscher an der DDR-Botschaft bzw. -Handelsvertretung in Peking noch relativ leicht zu erwerben waren: Originale berühmter chinesischer Maler, v. a. von Qi Baishi, Antiquitäten seit der Han-Zeit, Möbel aus der Ming-Dynastie, große Sammlungen von Schnupftabakfläschchen, Briefbeschwerern und Miniaturglöckchen. Die Tage vergingen schnell in Ostberlin mit etlichen Begegnungen und Privateinladungen bei KollegInnen der Uni und der Akademie der Wissenschaften, Museumsbesuchen, Bummel durch die Buchläden und Geschäfte, Ausflügen nach Potsdam und Spandau sowie unvergessliche Konzert- und Opernabende im Schauspielhaus und in der Staatsoper, zu denen uns Kautzens einschließlich Sektimbiss in den Pausen eingeladen haben.
Die deutsche Wiedervereinigung hat nicht nur in der Wirtschaft zur Abwicklung oder Übernahme wichtiger Branchen durch westdeutsche Lobbyisten geführt, sondern gerade auch im wissenschaftlich-akademischen Bereich. Wie viele kleine, aber unersetzliche „Nischenfächer“ der Humboldt-Universität, deren Vertreter ich damals teils noch kennenlernen konnte, wurde auch der im deutschen Sprachraum einzigartige Studiengang für Sprachmittler Deutsch-Chinesisch zusammen mit der sinolinguistischen Forschung abgewickelt, was hervorragende Spezialisten wie Klaus Kaden aufs Abstellgleis drängte und ihr Lebenswerk rücksichtslos zerstörte. Dem seit 1976 für die Sprachmittlerausbildung zuständigen Ulrich Kautz gelang es noch rechtzeitig im Jahr 1992, abzuspringen und die Projektleitung im Bereich der Dolmetscherfortbildung beim Goethe-Institut zu übernehmen, wobei er sich jeweils für längere Zeit mit seiner kleinen chinesischen Gruppe in Deutschland und auch an unserem Fachbereich Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft der Universität Mainz in Germersheim aufhielt. Etliche Exkursionen in der Pfalz unternahmen wir gemeinsam, und Ulrich begann die „Toskana Deutschlands“ immer mehr ins Herz zu schließen, so dass seine hiesigen Aufenthalte, gelegentlich zusammen mit seiner Frau Brigitte, immer häufiger wurden. So hatten wir auch viel Zeit, gemeinsame Vorhaben zu diskutieren. Ab 1991 wirkte er tatkräftig im Vorstand des Fachverbandes Chinesisch, bei der Redaktion der Zeitschrift CHUN (Chinesischunterricht) und der Organisation diverser Tagungen mit, insbesondere auch beim VI. Internationalen Symposium für Chinesisch als Fremdsprache 1999 in Hannover.
In diesen fruchtbaren Jahren entstand sein über 600 Seiten umfassendes Werk Handbuch Didaktik des Übersetzens und Dolmetschens, das 2000 erstmals und 2002 in der 2., aktualisierten Auflage erschien. In kurzer Zeit hat es sich zu einem unverzichtbaren Klassiker der weltweit anerkannten translatologischen Literatur entwickelt. Kautz’ Verdienst ist es vor allem, dass er die seinerzeit noch stark eurozentrisch geprägte Translationswissenschaft um die außereuropäische Perspektive erweiterte und auch für die sinologische Welt attraktiv machte, so dass der Name Gao Lixi überall in den traditionellen wie auch zahlreichen neu etablierten universitären Instituten für Übersetzer und Dolmetscher in China ein fester Begriff ist, sein Handbuch in den Bibliotheksregalen steht und er dort vielmals als gefragter Gastreferent eingeladen wurde. Im Juni 2001 unternahmen wir eine gemeinsame, vom DAAD geförderte Vortrags- und Kontaktreise zu mehreren Hochschulen in Hongkong und Taiwan mit den Themenschwerpunkten Übersetzungswissenschaft und Chinesischdidaktik. Kautz wurde danach wiederholt nach Taiwan eingeladen.
Ebenfalls nicht unerwähnt bleiben sollen auch die wertvollen Beiträge, die Kautz nach der Wiedervereinigung mit seinen diversen Initiativen zur Neubesinnung und Entwicklung der gesamtdeutschen Chinawissenschaften geleistet hat. Bereits 1990 war er Gründer und erster Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Chinastudien (DVCS), die – anfangs von den Wessis noch misstrauisch als DDR-Klüngel beäugt – bis heute mit alljährlichen Tagungen und etlichen Publikationen zum wichtigsten sinologischen Forum des deutschsprachigen Raums herangewachsen ist. Übergreifend wirkte er zeitweise auch als Vorstand in der European Association of Chinese Studies (EACS). Auch dank seines Engagements im Fachverband Chinesisch, hat er Entscheidendes zur Professionalisierung der Ausbildung in moderner chinesischer Sprache im deutschsprachigen Raum beigesteuert.
Nach dem Ende des Goethe-Projekts und dem Angebot attraktiver Sinologieprofessuren in Trier, München und Erlangen, die er aufgrund der bürokratischen Altershürde nicht wahrnehmen konnte, gelang es mir 1998, Ulrich Kautz im Zuge meiner eigenen Berufung auf die Chinesisch-Professur an den Germersheimer Fachbereich für die Annahme einer Vollzeitdozentur in Germersheim zu gewinnen. Seine fachübergreifenden Verdienste würdigten der Fachbereich und die Universität schließlich mit einer außerplanmäßigen Professur. Zur Entscheidung für die kleine Rheinstadt als neue Wirkstätte trugen wohl in gewissem Umfang auch die Pfälzer Landschaft und der Pfälzer Wein bei, den Kautzens seit unserem damaligen Ostberlin-Besuch und danach bei hiesigen Besuchen so zu schätzen lernten. Kurz nach der Aufnahme seiner Tätigkeit an unserem Fachbereich hat er denn auch sein neues Domizil direkt an der Weinstraße in Klingenmünster zwischen den idyllischen Weinbergen unterhalb der Burg Landeck aufgeschlagen.
Wer Ulrich Kautz zu Hause besuchte – ob in Berlin, München, Peking, Klingenmünster oder Bremen –, sah an seinem Arbeitsplatz stets einen voluminösen chinesischen Roman neben seinem PC liegen, mit diversen Zettelnotizen und griffbereiten Wörterbüchern. Genau genommen war es seit dreißig Jahren seine Hauptberufung, in der ihm verbleibenden Freizeit Erzählwerke bedeutender chinesischer Gegenwartsautoren ins Deutsche zu übertragen und mit aller didaktischen und ästhetischen Kunstfertigkeit einem breiten deutschen Leserkreis schmackhaft zu servieren. Das begann nicht erst mit dem 1993 erschienenen Roman Der Gourmet von Lu Wenfu, den sogar Ulrich Wickert in den Fernsehnachrichten vor seinen allabendlichen Wünschen für „eine geruhsame Nacht“ dem Millionenpublikum lobend empfahl. So wie auch später der verfilmte Roman Leben! von Yu Hua (1998) wurde Der Gourmet zu einem Bestseller auf dem deutschen Büchermarkt, was man im Allgemeinen von chinesischer Literatur hierzulande nicht erwarten kann. Viele andere Übersetzungen folgten und wurden nahezu alle zu einer Erfolgsgeschichte, so dass Ulrich Kautz zu Recht als vielleicht bedeutendster deutscher Übersetzer moderner chinesischer Romanliteratur in Deutschland wie in China anerkannt ist. 2007 wurde ihm in Peking zusammen mit Wolfgang Kubin ein Preis für besondere Verdienste um das chinesische Buch im Ausland verliehen.
Jedes Mal ein eindrucksvolles Erlebnis waren die zahlreichen Lesereisen, die Ulrich Kautz mit den chinesischen Autoren in Deutschland unternahm und die ihn auch immer wieder nach Germersheim führten. Das Besondere an diesen Veranstaltungen war, dass der Publikumsbeifall meist dem Vortrag des Übersetzers galt und weniger den chinesischen Schriftstellern selbst. Ich erinnere mich an die Lesung mit Yu Hua im Mai 2000 in Germersheim, bei der dieser immerhin prominenteste Romancier der jüngeren Generation mit matter Stimme, fast etwas gelangweilt, sich über sein Werk beugte und vor sich hinmurmelnd ablas, während Ulrich Kautz stehend und gestikulierend die von ihm übertragenen Passagen bühnengerecht vortrug und die Zuhörer in seinen Bann zog. Spätestens dann konnte man verstehen, von wem sein Sohn Sebastian, namhafter Schauspieler und Regisseur in Bremen, sein Talent geerbt hat.
Ulrich Kautz’ Ausscheiden aus dem aktiven Dienst in Germersheim wurde mit einem ihm zu Ehren abgehaltenen Symposium am 29. Januar 2005 am Fachbereich Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft in Germersheim gekrönt, an dem führende Persönlichkeiten der literarischen Szene in der deutschsprachigen Sinologie teilnahmen. Den einführenden Rückblick auf die verschlungenen Wege seiner Biografie etikettierte er dabei recht treffend mit dem Titel „Von der Seite her zwischen alle Stühle“. Zunächst zeigte sich dies in der politischen Ausgrenzung, die er zu DDR-Zeiten und leider auch danach erfahren musste. Obwohl er sie wie kaum ein anderer verdient hätte, blieb ihm nach der Wiedervereinigung mehrmals die Berufung auf einen Lehrstuhl verwehrt. Rückblickend war es ihm jedoch nach zahlreichen schicksalshaften Serpentinen vergönnt, die Früchte aus der idealen Symbiose von Theorie und Praxis zu ernten, die sein wissenschaftliches und didaktisches Engagement charakterisierte und die Tatsache erklärt, dass Kautz heute nicht nur in der Sinologie, sondern auch in der allgemeinen Translationswissenschaft international als Experte und Pionier anerkannt ist. War er schon Translationswissenschaftler und ‑didaktiker mit Leib und Seele, so galt dies noch mehr seiner großen Leidenschaft für die moderne chinesische Literatur und ihre Vermittlung. Seien es nun seine Übersetzungen, seine Vorträge oder seine Lehrveranstaltungen: Jeder, der ihn liest oder – noch besser – ihm zuhörte, weiß um seine belletristische Begeisterungsfähigkeit und sein inneres Bedürfnis, diese auch auf Gleichgesinnte zu übertragen und dem allgemeinen Publikum auf diese Weise authentische chinesische Lebenswirklichkeit nahezubringen.
So ganz kann und will man es noch nicht wahrhaben, dass etliche von Ulrich Kautz’ Vorhaben so abrupt enden mussten: die Fortführung von Weiterbildungskursen für deutsche und chinesische Dolmetscher und der Aufbau eines professionellen Dolmetscherstudiengangs Deutsch-Chinesisch, längerfristig auch für die Sprachen Japanisch und Koreanisch, in Germersheim sowie weitere Übersetzungen chinesischer Gegenwartsliteratur, deren Entwürfe vielleicht noch in den Schubladen seines Schreibtischs entdeckt und der Nachwelt zugänglich gemacht werden. Der Hirntumor, den er noch Ende 2019 besiegt zu haben glaubte, kehrte zurück und beendete am 7. August 2020, im Alter von achtzig Jahren, sein ereignisreiches und schöpferisches Leben.
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