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Einführung, Schlußwort sowie Teile
des Anhangs im PDF-Format
   
   

Das Bild des Schlafes in der altchinesischen Literatur

   

Antje Richter

 
   

Hamburger Sinologische Schriften 4
Hamburger Sinologische Gesellschaft / OSTASIEN Verlag
Paperback (21,0 x 14,8 cm), 263 Seiten.
2001 und 2015 (unveränderter Nachdruck). € 31,40
ISBN-13: 978-3-935664-03-5 / 978-3-940527-99-8 (978-3935664035 / 978-3940527998, 9783935664035 / 9783940527998)
ISBN-10: 3-935664-03-6 / 3-940527-99-8 (3935664036 / 3940527998)

Vertrieb: CHINA Buchservice / Bestellen

 
   

Konfuzius verdammt einen seiner Schüler, weil dieser am hellichten Tage schläft. Warum schläft der Meister dann selbst am Tage? Ein anderer Meister aus dem Alten China wieder ist entzückt, als ihm sein Schüler während einer Unterweisung einschläft. Von einem König erfahren wir, er sei beim Prüfen der Rechnungsbücher eingenickt und habe damit seinen Untergebenen Gelegenheit zu deren Fälschung gegeben.

Die Autorin untersucht die Darstellung des Schlafes in überlieferten und durch Grabfunde bekannt gewordenen Texten der altchinesischen Literatur. Aufbauend auf lexikalischen Untersuchungen, legt sie dar, wie der Schlaf als natürliches, gesellschaftliches und psychologisches Phänomen wahrgenommen wurde. Besonderes Augenmerk gilt dabei der rhetorischen Funktion der Rede vom Schlaf im jeweiligen Kontext.

Die verschiedenen Entwürfe vom Schlaf, die sich in den Texten finden, lassen die Konturen der verschiedenen Geistestraditionen des Alten China überraschend deutlich hervortreten. Ausgehend von den Geschichten über den Schlaf, lassen sich wesentliche rhetorische Ziele eines Textes erschließen. Die hier an die altchinesische Literatur herangetragene neue Fragestellung bringt zudem Motive zutage und zeigt intertextuelle Beziehungen auf, die auch über die Frage nach dem Schlaf hinaus relevant sind.

 
   
  English translation of the table of contents

Inhalt

Einleitung
 Zum Forschungsstand
 Ziel und Vorgehen dieser Untersuchung

Teil I: Lexikalische Vorbemerkungen
 1. Relevante Wörter
  1.1 mei
  1.2 ming
  1.3 qin
  1.4 wo
  1.5 shui
  1.6 wu 寤 und jiao
 2. Resümee

Teil II: Schlaf als Naturphänomen
 1. Erklärungen der Körpervorgänge im Schlaf
  1.1 Der intakte Schlaf
  1.2 Der gestörte Schlaf
  1.3 Träume
 2. Die Übereinstimmung von Schlaf und Nacht
 3. Die Schlaf-Lehre des Wen Zhi
 4. Resümee

Teil III: Schlaf als gesellschaftliches Phänomen
 1. Die Konstituierung als gesellschaftlich relevanter Bereich
  1.1 Schlaf als Genuß und Rückzug
  1.2 Die Verquickung des Schlafes mit anderen Genüssen
   1.2.1 Schlaf und Essen
   1.2.2 Schlaf und Wein
   1.2.3 Schlaf und Musik
   1.2.4 Schlaf und Sexualität
 2. Schlafenszeiten
  2.1 Der Zeitpunkt
   2.1.1 Die Nacht gehört dem Schlaf
   2.1.2 Der Schlaf zur Unzeit
  2.2 Die Zeitdauer
   2.2.1 Früh auf, spät zu Bett
   2.2.2 Bei Nacht den Schlaf vergessen
 3. Umstände des Schlafens
  3.1 Diverse Vorschriften
  3.2 Schlaf und kindliche Pietät
 4. Resümee

Teil IV: Schlaf als psychologisches Phänomen
 1. Schlaf als Gefährdung
  1.1 Mord an Schlafenden
  1.2 Schlaf und Kontrollverlust als Themen im Legismus
   1.2.1 Mißtrauen gegenüber dem Schlaf
   1.2.2 Schlaf als Metapher für die Entbehrlichkeit der Kontrolle
 2. Schlaflosigkeit
 3. Resümee

Teil V: Schlaf als Gegenentwurf
 1. Das Lob des traumlosen Schlafes
 2. Schlaf und Tod

Schlußwort

Anhang
 Zeittafel
 Abkürzungen
 Verzeichnis der Primärquellen
 Verzeichnis der Zitate
 Distribution relevanter Wörter
 Literaturverzeichnis
 Index

 
   
   

Ziel und Vorgehen dieser Untersuchung [S. 10-14; PDF, S. 17-21]

Die vorliegende Untersuchung soll das literarischen Bildes des Schlafes im Alten China erhellen. Durch die erste zusammenhängende Darstellung dieses bisher nicht systematisch untersuchten Aspekts der chinesischen Kultur soll ein Beitrag zu deren Verständnis geleistet werden, der in anderen Fächern bereits vorliegt. Beantwortet werden sollen also Fragen wie die folgenden: Welche Erklärungen für das Phänomen Schlaf bieten die Texte? Welche Bedeutung messen sie diesem Teil des Lebens bei? Welchem Reglement unterwerfen sie ihn? Und schließlich: Welche Implikationen könnten die vorgefundenen Vorstellungen vom Schlaf für die Bewertung des jeweiligen Textes haben?

Die erwähnte Beiläufigkeit in der Behandlung des Schlafes hat den Blick auf die Frage gelenkt, welche Rolle dieser Gegenstand in den Texten, in denen er überhaupt vorkommt, eigentlich spielt. Dabei hat sich herausgestellt, daß der Schlaf gewöhnlich nur sekundär über Bilder des Schlafes in den Blick gerät und in vielen Fällen als rhetorisches Vehikel dient, mit dem in verschiedenen Texten je nach Denkungsart sehr verschiedene Inhalte transportiert werden können. Ziel der Untersuchung ist daher nicht allein herauszufinden, was die Texte heutigen Lesern über den Schlaf mitteilen, sondern auch, welche Botschaften es sind, die das Vehikel der Rede vom Schlaf transportiert, das heißt, welche rhetorische Funktion der Erwähnung des Schlafes in einem gegebenen Kontext zukommt. Mit der Wahrnehmung der Rede vom Schlaf als rhetorisches Mittel ist das wichtigste methodische Prinzip der Arbeit angesprochen.[1].

Es sei noch einmal betont, daß es ausdrücklich um den Schlaf selbst gehen soll und eine Reihe anderer Themen, die mit dem Schlaf zusammenhängen, nur am Rande erwähnt werden können. Träume etwa werden nur insofern thematisiert, als während des Schlafes eben auch geträumt wird. Funktion und Struktur von Traumberichten, Traumdeutung oder Theorien des Traumes dagegen werden keine Rolle spielen. Genausowenig geht es um eine Bewertung der Konzepte von Bewegung und Ruhe (dong jing 動靜), um das Motiv der Nacht oder des anbrechenden Morgens oder um einen der vielen anderen, mit dem Schlaf mittelbar oder unmittelbar zusammenhängenden Komplexe.[2] Im Laufe der Untersuchung hat sich gezeigt, daß Abgrenzungen dieser Art unabdingbar sind, damit der Schlaf auch tatsächlich im Blick bleibt. Dies hängt nicht nur mit den zahlreichen Verquickungen des Schlafes mit anderen Lebensbereichen und Themen zusammen, sondern ist auch der Tatsache geschuldet, daß die Rede vom Schlaf in vielen Texten als rhetorisches Vehikel dient und die sehr verschiedenen Botschaften, die dieses vermitteln soll, oft eigene Studien verdienen.[3]

Gegenstand dieser Untersuchung sind die überlieferten und durch archäologische Funde bekannten Texte von der Zeit der Kämpfenden Staaten bis zum Ende der Han-Zeit, also vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis zum Anfang des 3. Jahrhunderts n. Chr. An früher entstanden Texten werden nur die schließlich kanonisierten, im wesentlichen die entsprechenden Teile von Shangshu  尚書 und Maoshi  毛詩, nicht jedoch Orakelknochen- oder Bronzeinschriften herangezogen. Durch die Beschränkung auf die Zeit bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. und den damit einhergehenden Ausschluß der weitreichenden buddhistischen Einflüsse auch auf die Bewertung des Schlafes begibt sich die Arbeit zwar eines sicherlich produktiven komparatistischen Aspekts; diesen angemessen wahrzunehmen, hätte jedoch den Rahmen des Vorhabens weit überschritten. Von einer stärkeren zeitlichen Eingrenzung des Materials, die von der Menge und Vielfalt der in Betracht zu ziehenden Texte nahegelegt werden könnte, wurde abgesehen, da ein möglichst breites Spektrum an Vorstellungen über den Schlaf erfaßt werden soll. Explizite oder implizite Bezüge auf den Schlaf finden sich zwar in vielen Texten, sind jedoch nicht so umfang- und zahlreich, daß sie nicht berücksichtigt werden könnten.[4]

Eine philologische Feinanalyse, die die unterschiedlichen Entstehungszeiten und -regionen der Texte, ihren oft heterogenen Charakter oder Fragen der Autorschaft berücksichtigt, erschien nicht angebracht, da hier ein thematischer Zusammenhang textübergreifend behandelt werden soll. Die gemeinsame Betrachtung so diverser Texte ist allein schon deswegen sinnvoll, weil die Texte selbst auf vielfältige Weise miteinander kommunizieren – auch, wie sich zeigen wird, was das Thema Schlaf angeht. Zudem liegt der überlieferte Teil der Texte des Untersuchungszeitraums im wesentlichen als ein im Laufe der Han-Zeit gesammelter und geordneter gemeinsamer Fundus vor, auf den in späteren Zeiten immer wieder zurückgegriffen wurde. Eine bisher noch nicht an diese Texte herangetragene Fragestellung und der dadurch entstehende ungewöhnliche Blickwinkel sollen dazu führen, daß bisher weitgehend unbeachtet gebliebene Facetten der Texte und der Zusammenhänge zwischen ihnen deutlicher ins Licht gerückt werden.

Erinnert werden muß in diesem Kontext auch an den in zweierlei Hinsicht fragmentarischen Charakter unseres Wissens über das Alte China. Zum einen werfen Verständnis und Interpretation der überlieferten Texte immer mehr oder weniger große Probleme philologischer Natur auf. Zum anderen muß man davon ausgehen, daß die Überlieferung alles andere als vollständig ist, die antike Literatur vielmehr „wesentlich umfangreicher [war], als die erhaltenen, das heißt seit dem Altertum tradierten, Texte vermuten lassen.“[5] Die Auffindung von Grabtexten gibt davon erfreulicherweise immer wieder Zeugnis.[6] In gewisser Hinsicht ist der überlieferte Textfundus – nicht zuletzt als Ergebnis auch bewußter, rigoroser Beschneidung des ursprünglich Vorhandenen – demnach stets als eine Art Fragment aufzufassen.

Lexikalische Vorbemerkungen zur Klärung der Semantik des relevanten Wortbestandes bilden den Ausgangspunkt der Darstellung. In Teil I werden die wichtigsten Bezeichnungen des Schlafes und verwandter Gegebenheiten im Klassischen Chinesisch und in der Schriftsprache bis zum Ende der Han-Zeit vorgestellt. Um die Übersetzungskonventionen des Hauptteils zu begründen, wird festgestellt, inwiefern sich die verschiedenen Wörter hinsichtlich ihrer Semantik unterscheiden und welche metaphorische Dimension ihnen eigen ist.

In Teil II wird es um den Schlaf als Gegenstand naturphilosophischer Reflexion gehen. Festgestellt werden soll, welche mikrokosmischen Erklärungen für den Schlaf gefunden wurden und welche makrokosmische Einbindung er erfahren hat. Da sich Darstellungen des Schlafens und Wachens der Menschen als wesenhaft natürliche Vorgänge vor allem in Fachtexten der chinesischen Medizin finden, wird sich die Untersuchung auf diese konzentrieren.

Während Teil II also den Menschen als natürliches Wesen und Teil des Kosmos betrachtet, geht es in Teil  III um den Menschen als soziales Wesen, das heißt als Teil einer Gesellschaft, die ausgesprochen oder unausgesprochen permanent Forderungen an ihn stellt, auch hinsichtlich seines Schlafverhaltens. Untersucht wird, unter welchen Aspekten der Schlaf im Hinblick auf die notwendige Sozialisierung des Menschen reflektiert wurde. Dem großen Gewicht dieses Themas in der chinesischen Literatur und der Vielfalt der Texte aus dem späteren konfuzianischen Kanon und dessen Umkreis sowie der historiographischen und rhetorisch-didaktischen Literatur entsprechend ist Teil III besonders umfangreich.

Eine weitere Perspektive auf den Schlaf wird in Teil  IV durch die Untersuchung des Schlafes als psychologisches Phänomen gewonnen. Dieser Teil wird der Tatsache gerecht, daß der Mensch nicht nur in Natur und Gesellschaft eingebunden ist, sondern den Schlaf auch als über Bewußtsein und Emotionalität verfügendes Wesen wahrnimmt und bewertet.

Der abschließende Teil V wird einen weniger von pragmatischen Überlegungen geprägten Umgang mit dem Schlaf vorstellen, als er in den Teilen III und IV zutage trat. In später als daoistisch charakterisierten Texten, im besonderen in Zhuangzi, begegnet das Phänomen Schlaf als bedeutsamer Freiraum, auch kulturfreier Raum, das heißt als in verschiedener Hinsicht positiv besetzter Gegenentwurf. Durch die entschiedene Absetzung vom konfuzianischen, mohistischen und z.T. auch legistischen Mißtrauen gegenüber dem Schlaf zeigen sich die überlieferten daoistischen Schriften in ihrer Eigenschaft als konkurrierende Entwürfe des Lebens.

Schlafforscher  aus  den  verschiedensten  Fächern  scheinen  die  gemeinsame Neigung zu verspüren, sich für die Wahl ihres Gegenstandes zu entschuldigen, und geben damit zu erkennen, daß ihnen die Macht des wachen, aktiven Lebens durchaus bewußt ist. Ich möchte zum Abschluß der Einleitung und Auftakt der Arbeit dieser Neigung durch ein Zitat des amerikanischen Ornithologen Alexander Skutch nachgeben, der die Rechtfertigung unseres Gegenstandes im Vorwort zu seinem Buch Birds Asleep in die folgende sehr schöne Form gebracht hat:

Studying how birds sleep may not be as exciting as watching them in full daylight when their colors are most vivid, listening to their songs, finding their nests, or making lists of them. But to know how they pass the more obscure half of their lives is necessary to round out our picture of their habits. This knowledge brings a sense of intimacy that is deeply satisfying. (1989: xi)

 
   

Schlußwort [S. 211-213; PDF, S. 22-24]

Das Bild des Schlafes in der altchinesischen Literatur, das im Laufe dieser Arbeit entstanden ist, kann sich nicht mit dem Bild vergleichen, das dem eingangs zitierten Ornithologen vorschwebte. Wir wissen auch jetzt, nach eingehender Untersuchung, nur wenig darüber, wie man im Alten China die „verborgenere Hälfte seines Lebens“ verbrachte, und das wenige trägt eher den Charakter einer Vermutung. Auch das „Gefühl von Intimität“, dessen sich der Vogelforscher erfreuen konnte, will sich nicht recht einstellen. Da wir es jedoch lediglich mit einer begrenzten Menge von Texten zu tun hatten, die noch dazu aus einer in mancher Hinsicht fernen Lebenswelt stammen, war es uns realistischerweise auch nicht darum zu tun, herauszufinden, wie man nun im Alten China geschlafen hat – Wissen dieser Art muß uns angesichts der Quellenlage verwehrt bleiben. Uns ging es vielmehr darum, das Bild des Schlafes in der Literatur, die aus dem Alten China auf uns gekommen ist, auszumachen. Die Ergebnisse dieser Fragestellung, die sehr wohl geeignet sind, „unser  Bild  abzurunden“  –  und  zwar  das  der  uns  erhaltenen  altchinesischen Literatur – seien im folgenden zusammengefaßt und eingeschätzt.

Da sie das methodische Vorgehen der Arbeit prägen, wurden zwei wichtige Ergebnisse der Untersuchung bereits in der Einleitung vorweggenommen. Zum einen wurde festgestellt, daß der Schlaf in der altchinesischen Literatur nur eine kleine Rolle spielt. Er teilt damit das Los vieler anderer, vorwiegend privater Themen, über die uns die überlieferte Literatur, die ja zum größten Teil eine Literatur der politischen Argumentation ist, ebenfalls nur spärlich unterrichtet. Was den Schlaf betrifft, so dürfte die Aussparung oder Verhüllung dieses Lebensbereichs auch auf die vielfach belegte Assoziation des Schlafes mit Sexualität und Tod zurückzuführen sein.

Zum anderen hat sich herausgestellt, daß der Schlaf in den altchinesischen Schriften gewöhnlich nur sekundär über Bilder des Schlafes in den Blick gerät. Die Rede vom Schlaf dient in den meisten Fällen nicht der Erhellung dieses Gegenstands, sondern ist rhetorisches Vehikel, mit dem in verschiedenen Texten je nach Denkungsart sehr verschiedene Inhalte transportiert werden können. Die rhetorische Funktion der Rede vom Schlaf im jeweiligen Kontext festzustellen, war daher das wichtigste methodische Prinzip der Untersuchung. Die Wahrnehmung der Rede vom Schlaf als rhetorisches Mittel hat im übrigen auch dazu geführt, daß trotz der starken Fokussierung der Recherche der jeweilige Zusammenhang der Bilder des Schlafes nicht aus dem Blick geriet.

Die Konzentration auf den anscheinend marginalen Gegenstand Schlaf hat gezeigt – und das ist in seiner Klarheit doch ein überraschendes Ergebnis –, daß die verschiedenen Entwürfe vom Schlaf, so sie sich denn in den Texten finden, eine erstaunlich genaue Vorstellung über den betreffenden Entwurf vom Wachen erlauben und also als Lebensentwürfe verstanden werden können, so wie der Schlaf nun einmal Teil des Lebens ist. Auch wenn die Darstellung des Schlafes in Texten  verschiedener  Denkungsart  signifikante  Unterschiede  aufweist,  finden sich andererseits doch Vertreter von Schulen, die sich sonst gar nicht einig sind, in einem „Lager“ wieder, etwa konfuzianische, mohistische und teilweise auch legistische Schriften.

Während die makrokosmische Perspektive der medizinischen Texte eine weitgehend unparteiische Bewertung des menschlichen Schlafens und Wachens bewirkt, nehmen staatspolitisch orientierte Texte generell Partei, da sie den Menschen eher als gesellschaftliches denn als natürliches Wesen betrachten und daher an seiner Verfügbarkeit für die Belange der Gesellschaft interessiert sind. So unterschiedlich, ja teilweise antagonistisch staatspolitisch orientierte Texte auch sein mögen – Schriften aus dem konfuzianischen Kanon und dessen Umkreis sowie die rhetorisch-didaktische Literatur, darunter mohistische und legistische Schriften –, problematisieren sie, zumeist auf der Grundlage seines Genußcharakters, doch übereinstimmend den Schlaf und zeugen von einer prinzipiellen Hochschätzung des Wachens. Als Gegenentwurf zu dieser dominanten Haltung erscheint die Zhuangzi’sche Neutralität in der Bewertung von Wachen und Schlafen, und zwar auf der philosophischen wie auch auf der rhetorischen Ebene.

Zugespitzt formuliert könnte man sagen, daß sich, ausgehend von einer der zentralen Geschichten über den Schlaf, die wesentlichen rhetorischen Ziele eines Textes erschließen lassen. Konfuzius’ hartes Urteil über den eigennützigen Mittagsschlaf seines Schüler Zai Yu geht von der strikten Unterordnung des Einzelnen unter die Belange der Gesellschaft aus, die charakteristisch ist für das konfuzianische Menschenbild. Die Sorge des Markgrafen Zhao von Han um den unvermeidlichen Kontrollverlust im Schlaf demonstriert die legistische Besessenheit von Kontrolle und Machtausübung. Yang Zhus Geringschätzung des Schlafes als Zeitverschwendung enthüllt die kleinlichen, utilitaristischen Züge seines „Hedonismus“ und führt ihn so praktisch ad absurdum. Die Freude von Meister Beiyi, als sein Schüler Nieque ihm mitten in der Unterweisung einschlief, belegt das aus Zhuangzi sprechende Vertrauen in die Ganzheit des Lebens, die den Schlaf wie den Tod als selbstverständliche Bestandteile einschließt.

Darüber hinaus hat die hier an die Texte herangetragene neue Fragestellung einige in verschiedenen Texten wiederkehrende Motive zutagegebracht und bemerkenswerte Konsistenzen in deren Gebrauch erwiesen sowie intertextuelle Beziehungen aufgezeigt, die auch über die ursprüngliche Fragestellung hinaus relevant sind. So stellte sich etwa heraus, daß Wendungen wie „früh auf, spät zu Bett“ (su xing ye mei)  oder „nachts den Schlaf vergessen“ (ye ze wang mei) nicht in erster Linie Auskunft über tatsächliches oder anempfohlenes Schlafverhalten geben, sondern einen besonders hohen Grad von Engagement für die jeweiligen überindividuellen  Belange  ausdrücken  bzw.  dessen  Kontinuität,  sein  „Allezeit“ betonen. In der Han-Zeit scheinen sie eine terminologische Festlegung als konfuzianische „Leitmotive“ erfahren zu haben. Sie finden sich zahlreich in Schriften aus dem konfuzianischen Kanon und dessen Umkreis, wo sie meist Anerkennung ausdrücken, kommen in daoistischen Texten jedoch äußerst selten vor und markieren dann immer einen konfuzianischen Kontext. In den frühen mohistischen Texten hingegen wurden sie noch ohne jeden Verweischarakter verwendet.

Daß der Einsatz solcher Wendungen, die als Erkennungszeichen der Vertreter einer bestimmten Geistesrichtung fungieren, sehr subtile Wertungen erlaubt, konnte in bezug auf eine andere, wohl ebenfalls terminologisch festgelegte Wendung, den „Schlaf bei Tage“ (zhou  qin), im Zusammenhang mit dem Bild des Konfuzius aufgezeigt werden.

Es steht zu vermuten, daß die altchinesische Literatur von einer großen Anzahl solcher festgelegter Motive geprägt ist, die auf bestimmte Geistestraditionen hinweisen, auch wenn sie in Texten verwendet werden, die diesen nicht angehören. Es wäre wünschenswert, wenn weitere Untersuchungen, die zum einen über das Thema Schlaf hinausgehen und zum anderen über die prominenten philosophischen Termini, Leitmotive dieser Art – das heißt feste Beziehungen zwischen bestimmten Wendungen und bestimmten Geistestraditionen – ausmachen könnten, um zu einer differenzierteren Bewertung der altchinesischen Literatur auch im Detail zu gelangen.

Weitreichende und reizvolle Ausblicke ergäben sich sicherlich ebenfalls, wollte man die Literatur späterer Jahrhunderte auf das Thema Schlaf und einige der erwähnten Motive hin untersuchen, etwa was die Lyrik angeht, in der die Schlaflosigkeit ein fester Topos ist, oder die sogenannten Pinselaufzeichnungen und ähnliche Schriften der Gelehrten späterer Zeiten, für die die Texte des hier behandelten Untersuchungszeitraums die Bildungsgrundlage darstellten. Es wäre schön, wenn die vorliegende Arbeit eine Anregung für solche Unternehmungen bieten könnte.

 
   

[1]   Ausgenommen von diesem Prinzip waren lediglich die Texte, die den Teilen I und II zugrunde lagen, da sie sich zumeist explizit über unseren Gegenstand äußern. In Zeichen- bzw. Wörterbüchern werden direkte Aussagen über schlafrelevante Zeichen oder Wörter gemacht, in medizinischen Texten solche über das natürliche Phänomen Schlaf.
[2]   Ein Komplement der hier vorgelegten Untersuchung des Schlafes aus geistesgeschichtlicher Perspektive ist mit Franz X. Peintingers Untersuchung der materiellen Schlafkultur (speziell der Entwicklung der Kopfstütze) in Arbeit. (Vgl. auch Peintinger 1987.)
[3]   Ausdrücklich betont werden soll auch, daß diese Arbeit trotz der hier und da angeführten Zitate aus der westlichen Literaturtradition keinerlei komparatistischen Anspruch hat. Diesen gänzlich unsystematischen Verweisen kann lediglich eine Funktion zukommen, und auch diese nur arbiträr: Sie sind Zeugnisse für einige der Assoziationen, die sich bei westlichen Lesern im Kontaktmit den chinesischen Texten einstellen können, und enthüllen somit einige der Bedingungen unseres Denkens.
[4]   Weitgehend ausgeschlossen werden die hanzeitliche apokryphe Literatur sowie die Dichtung, letztere mit Ausnahme der Lieder, die wegen ihres kanonischen Charakters und ihrer Allgegenwart in der Prosaliteratur in die Untersuchung einbezogen werden.
[5]   Unger 1997: 90.
   Ein Beleg dafür, daß sich das mittels der überlieferten Texte gewonnene Bild durch den Fund von Grabtexten erheblich erweitern kann, konnte auch in bezug auf die Bewertung des Schlafes gefunden werden, s.u. S. 62ff.