Vor fünfzehn Jahren hat die Shanghai Media Group (SMG) einen zehnteiligen Dokumentarfilm mit dem Titel „10 berühmte Chinakenner“ produziert. Der Film stellt zehn international prominente Leute vor, die ein besonderes Verhältnis zu China haben – von Henry Kissinger und Yasuhiro Nakasone bis Wolfgang Kubin. Direkt am Anfang der Kubin-Sequenz sagte ich damals: „Wolfgang Kubin ist eine Art ‚Dreieinigkeit‘: Er ist zugleich Dichter, Gelehrter und Übersetzer.“ Ich wusste natürlich, und heute – angesichts des vorliegenden, mehr als 140-seitigen Schriftenverzeichnisses von ihm, das aus Anlass seines 80. Geburtstags herauskommt, ist es noch offensichtlicher –, dass das eine Vereinfachung ist. Eine Kennzeichnung als „Universalgenie“ ist heutzutage wohl nicht mehr en vogue; und dass ich ihn als ein jüngerer Kollege, auch wenn nicht mehr ganz jung, als einen Nestor charakterisiere, geht auch nicht: da fühle ich eine gewisse Befangenheit. Zudem wäre ich sicher nicht der Aufgabe gewachsen, hier das umfassende Wissen von Wolfgang Kubin zu kommentieren. Phänomenal ist aber auf jeden Fall, dass man so viel so profund zu Papier bringen kann. Bekannte und Freunde wissen, dass Kubin enorm diszipliniert arbeitet, also richtig „ranklotzt“, und seit vielen Jahren schon um 5 oder 6 morgens anfängt zu schreiben. Scherzend fragte ich ihn einmal, ob wirklich so viel zu schreiben ist. Er habe nicht genügend Zeit, sagte er.
Seit seiner Emeritierung lebt Wolfgang Kubin hauptsächlich in China, lehrt weiter in seiner zweiten Heimat, von der er schon seit jeher fasziniert und gefesselt ist. Er hält dort noch überall Vorträge, war an so vielen Universitäten, darunter einigen, von denen ich zum ersten Mal hörte – zu viele Universitäten gibt es in China. Klar, er ist in China sehr gefragt. Ich erinnere mich noch: Vor vielen Jahren, auf einer Konferenz in Beijing, während der Kaffepause, hatte ich Kubin wieder getroffen, nachdem ich ihn längere Zeit nicht gesehen hatte. Schon nach ein paar Grußworten, war Kubin, ehe man sich’s versah, verschwunden! Ein daneben Stehender sagte mir, Kubin sei gekidnappt worden – von einem Dichter. Wie viele in China hoffen, dass durch oder von Kubin ihre Werke in eine Fremdsprache übersetzt werden! Da kann man nichts machen. Er sagte doch, Lyrik sei sein einziges Refugium. Er liebt Dichter, das kann man verstehen.
Er hat viele Gesichter, nicht wenige kennen wohl nur eins: Für sie ist er ein deutscher Sinologe, tatsächlich: einer der bekanntesten europäischen Sinologen. Schon vor zwanzig, dreißig Jahren kannten chinesische Leser die Übersetzungen von zwei seiner Monographien: Der durchsichtige Berg: Die Entwicklung der Naturanschauung in der chinesischen Literatur (Zhongguo wenren de ziranguan中国文人的自然观, 1990), und Studien zum Fremden. Exoticism and Salvation (Guanyu yi de yanjiu关于异的研究, 1997). Aber, einen anderen Kubin, den bei einer Dichterlesung, jenen anziehenden Dichter Kubin, kennen nicht viele, auch wenn schon vor fünfzehn Jahren die chinesische Fassung von Ausgewählte Gedichte von Wolfgang Kubin (Gubin shixuan顾彬诗选, 2010) erschienen ist. Vor langer Zeit habe ich ihn einmal eingeladen, an der Beijing Normal University eine Vorlesungsreihe zu halten, und er hat Themen der gegenwärtigen deutschen Philosophie gewählt. Das war ein bisschen rätselhaft für nicht wenige Hörer: Ein Sinologe spricht über Philosophie? Aber für mich reicht das Etikett Sinologe schon längst nicht mehr aus, diesen Kubin zu „kategorisieren“. Man wird mir zustimmen, wenn man diese Publikationsliste durchblättert. Er schreibt über Gott und die Welt, über Mann und Frau, unterhält sich über alles Mögliche. Manchmal sehr philosophisch, manchmal „vulgär“.
Diese Sätze schreibe ich deshalb, weil ich vor einigen Jahren seine Essaysammlung Ein Held mit 1000 Flaschen Schnaps und die Geschichte eines Flachmanns (Yi qian ping jiu de yingxiong yu yige jiuhu de gushi一千瓶酒的英雄与一个酒壶的故事, 2017) gelesen habe. Das Buch enthält Essays und Feuilletonartikel, die er seit etlichen Jahren auf Chinesisch geschrieben hat. Im Nachwort des Buchs fragt er sich und antwortet auch selbst: „Bin ich ein chinesischer Schriftsteller? Vielleicht.“ In manchen westlichen Ländern wird jemand, der in der Sprache des jeweiligen Landes schreibt, oft auch als Schriftsteller oder Wissenschaftler dieses Landes betrachtet. In China ist das jedoch nicht der Fall. Trotzdem wurde Kubin dort bereits mit unterschiedlichen Preisen geehrt, einschließlich des „Ersten Internationalen Feng Zikai-Essaypreises“ (shou jie quanqiu Feng Zikai sanwen jiang首届全球丰子恺散文奖). Dass dieser Preis einem, der von anderswo herkommt, verliehen wird, ist wirklich etwas Außergewöhnliches. Ob dies wohl Kubins Identitätsproblem lösen kann? Er scheint oft wie verstrickt in dieses Problem. Es gibt Leute, die wegen seiner chinesischen Bücher in ihm einen „chinesischsprachigen Schriftsteller Deutschlands“ sehen. Ob er damit zufrieden ist? Wer oder was ist Kubin denn nun? In China ist er ein Begriff, auf jeden Fall noch viel bekannter als in Deutschland.
Womit er den Essaypreis verdient hat? Ich denke, damit, dass er als Kolumnist in Zeitungen und Zeitschriften wie in der bekannten Nanfang zhoumo 南方周末 seine Essays veröffentlicht, Essays, die sozusagen in einer Art ausländischem Chinesisch geschrieben sind – Essays über sein Leben und seine Erlebnisse in China und natürlich immer wieder auch Reflexionen, in denen es um China geht. Seine Artikel gefallen vielen, sie erregen auch die Aufmerksamkeit der Kritiker, sie rufen sogar Bewunderung hervor: „Er schreibt gut!“ heißt es dann. Das alles hat ihm viele Leser außerhalb akademischer Kreise eingebracht. Und seine Bücher verkaufen sich in China bestimmt auch viel besser als in Deutschland. Nicht nur das. „Ein anderer Kubin“ tritt so auf die Bühne, als man ihn in Deutschland oder hier bei uns an den Universitäten kennt. Und man sagt: „Der Alte ist nett.“
Kubins Chinesisch ist sehr gut, aber er weiß auch, dass Chinesisch schwer ist. Wie er verrät, traute er sich eigentlich nicht zu, Essays auf Chinesisch zu schreiben. Geschrieben war alles meist auf Einladung. Er glaubte dann natürlich, dass die Redaktion sein Manuskript stilistisch korrigieren würde, und hat überhaupt nicht damit gerechnet, dass man schließlich alles einfach so publiziert. Ein bisschen Pidgin-Chinesisch hier und dort erzeugte sogar eine ungeahnte Wirkung! Der Dichter Wang Jiaxin 王家新 ist des Lobes voll über Kubins „deutschgefärbtes Chinesisch“. Ihm zufolge hat Kubin mit seinem Chinesisch einen klaren, individuellen und geschmacklich guten Stil geschaffen: den Kubin-Stil. Und der hat eine besondere Ausdruckskraft. Wang meint sogar, Kubin habe auf seine Weise erneut Chinesisch „erfunden“. Ich möchte hier nicht groß auf diese „Erfindung“ eingehen, aber im Großen und Ganzen teile ich Wangs Auffassung. Kubin sagte einmal in einem Artikel, dass sein Prinzip sei: je einfacher, desto schöner, gerade wie ein Kind spricht, immer frei heraus – was an sich schön ist. Ich denke, gerade dies ist wahrscheinlich der Kubin-Stil. Seine Sprache ist sehr einfach, darin wie die Sprache eines Kindes, die nicht ohne Fehler ist, aber wahr. Ich spreche hier natürlich von der Sprache seiner chinesischen Essays, nicht der seiner Abhandlungen.
Bei Dao 北岛 sagte einmal, ein Kubinsches Gedicht sei „kurz und bündig, habe philosophisches Flair“. Das ist wohl auch die Eigenart seiner Essays – es sind Essays mit einem originellen Stil, geschrieben von einem Dichter. Aber was die chinesischen Leser anzieht, so denke ich, ist es bestimmt nicht bloß der sogenannte Kubin-Stil, eher ist es der Inhalt seiner Texte, seine Ansicht und die Perspektive, wie er die Sachen betrachtet, oder auch, wie er den Leser die Perspektive wechseln lässt, während er immer wieder die ontologische Bedeutung der Sprache betont. Wie wir wissen, kritisiert er bei jeder möglichen Gelegenheit die chinesische Gegenwartsliteratur, und zwar sehr verletzend, beschwert sich dann, dass die Chinesen ihn nicht verstehen, wenn er klipp und klar zu verstehen gibt, worum es ihm geht: „Meine Kritik an der chinesischen Gegenwartsliteratur wird oft nicht in ihrer eigentlichen Bedeutung verstanden: Die Kritik ist zugleich auch auf die chinesische Sprache der Gegenwart gerichtet. Nicht wenige Chinesen meinen, dass die Sprache lediglich Werkzeug zum Ausdruck des Inhalts ist. Aber die Sprache kann doch nicht den Inhalt einwickeln, wie man Brot mit Papier verpackt. Die Sprache an sich ist Inhalt.“ (Wo kan dangdai Deguo zhexue我看当代德国哲学/Meine Sicht zur Gegenwartsphilosophie in Deutschland, 2011) Kubin behauptet sogar, „dass die Romanciers im heutigen China sich überhaupt nicht um die Sprache bemühen“. (Cong yuyan jiaodu kan Zhongguo dangdai wenxue从语言角度看中国当代文学/Aus Sicht der Sprache einen Blick auf die chinesische Gegenwartsliteratur werfen, 2013) Halt schonungslos, diese Kritik! – Von daher ist es auch verständlich, wenn man deshalb beschimpft wird.
Kubins Sprachanschauung basiert auf Hans-Georg Gadamer, den er oft heranzieht. „Wir Menschen sind Sprache, ohne Sprache sind wir nichts. Daher ist die Sprache unser einziges ‚Haus‘, Haus unserer Existenz.“ (Shige: zuiba, erduo, yanjing诗歌: 嘴巴,耳朵,眼睛/Lyrik: Mund, Ohr, Auge, 2017). Sprache als „Haus des Seins“ ist eine bekannte Auffassung von Martin Heidegger – dies weiß Kubin natürlich. Aber er mag Heidegger nicht, der eine Nazi-Vorgeschichte hat, und spricht gern über Gadamer und mit ihm über Sprache: Außer Sprache haben wir nichts, heißt es dann. Oder: Ist die Sprache verletzt, sind wir obdachlos. Nicht nur in seinen Abhandlungen, sondern auch in den Essays spricht Kubin immer wieder über die Sprache. In China haben wir ein geflügeltes Wort: San ju hua bu li benhang三句话不离本行: Man spricht ständig über seinen Beruf – bei drei Worten einmal. Bei Kubin könnte man sagen: In drei Artikeln einmal über die Sprache.
In dem Feuilletonartikel Ist Sinologie eine ausländische Wissenschaft? (Hanxue shi waiguoxue ma汉学是外国学吗?, 2015) schreibt Kubin: „Chinesisch ist eine Sprache, eine sehr schöne Sprache. Diese Sprache hat mir eine Tür geöffnet, Tür des Traums. Falsch? Ich hoffe nicht. In diesem Jahr bin ich 70. Offen gesagt: Ohne chinesische Kultur bin ich ohne mich. Ist aber mein Verständnis von China nur das eines Ausländers? Fast 50 Jahre lebe ich inmitten der chinesischen Zivilisation, bin ich immer noch ein Ausländer? Aus deutscher Sicht bin ich zu sehr ein Chinese. Li Bai 李白 und Zhuangzi 庄子 haben nicht nur früher meinen Weg entschieden, jetzt tun sie’s immer noch. Ohne Li Bai sein heißt ohne Kubin sein. Es war Chinesisch, als Sprache, Fremdsprache, die mich meinen Weg finden ließ.“ Folgt man Gadamers Deutung, ließ es Kubin den Weg nach Hause finden und ein Haus haben; mit Kubin selbst gesprochen, ist Chinesisch eine weitere Heimat.
Weiter oben sagte ich, dass das, was die chinesischen Leser fasziniert, nicht einfach der Kubin-Stil sein könne. Allerdings hat sein Stil in der Tat seinen eigenen Charakter. Er erzählt oft den Chinesen eine deutsche Geschichte, wie nämlich nach dem Zweiten Weltkrieg die Deutschen neu Deutsch lernten, da die 12-jährige Nazi-Herrschaft dieses Deutsch missbraucht und beschädigt hatte. Sogar das ganze Alltagsleben war von der Nazi-Ideologie und -sprache infiltriert. In seinen Augen waren zwar die meisten Städte Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg verwüstet, aber die von den Nazis vergewaltigte deutsche Sprache war noch trostloser. Besonders die Schriftsteller der „neuen Generation“ betrachteten die Wiederherstellung der Menschlichkeit und die Rettung der vom Nazi-Gegeifere vergifteten deutschen Sprache als ihre moralische Mission. Er erzählte dann gerne von Heinrich Böll und seinem Schreiben als einem Werk zur Rettung der deutschen Sprache.
In diesem Kontext kommt er auf ein bekanntes Gedicht von Günter Eich aus dem Jahr 1945 zu sprechen: „Inventur fängt so an: ‚Dies ist meine Mütze, /dies ist mein Mantel, /hier mein Rasierzeug /im Beutel aus Leinen.‘ Sprache eines Kindes? Sicher, aber schön, auch sehr tief.“ (Wode Zhongwen我的中文/Mein Chinesisch, 2015) In Kubins chinesischen Essays ist oft eine derartige Sprache zu finden – auf den ersten Blick ein bisschen unbeholfen, aber de facto lyrische Sprache, was für Chinesen eine frische Brise bedeuten könnte. Aber dass er – wie bei der Literatur im Nachkriegsdeutschland – die Sprachkritik mit Ethik in Verbindung setzt, können wohl viele Chinesen nicht ertragen; zudem ist dies im heutigen China ein heikles Thema. Kubin, der von Haus aus ein Experte für klassische chinesische Literatur ist, hat während der Kulturrevolution ein Jahr in Beijing modernes Chinesisch gelernt, scheint aber nicht viel gelernt zu haben, so ist er in gewissem Sinne „unschuldig“, beherrscht eine direkte Umgangssprache. Er braucht ja keinen Kahlschlag, kennt keine Stunde Null.
Auch bei seiner Schilderung, wie die Nazisprache zur Rechenschaft gezogen wurde, erzählte er Chinesen, wie deutsche Schriftsteller damals durch Erlernen von Fremdsprachen und durch das Übersetzen ausländischer Literatur das damals vorherrschende abnormale Deutsch zu überwinden suchten. Und er selbst, das weiß man, bemüht sich auch heute noch, durch Auseinandersetzung mit Fremdsprachen seinen eigenen Schreibstil zu verbessern, und durch das Übersetzen der gegenwärtigen chinesischen Dichtung das Niveau der eigenen Muttersprache zu erhöhen. Es hört sich unvorstellbar an, dennoch hat er vielleicht recht. Aber er mischt sich vielleicht zu viel ein, fordert bei verschiedenen Anlässen und in unterschiedlichen Zusammenhängen die chinesischen Schriftsteller zu direkt auf, eine Fremdsprache zu lernen und Originalwerke der Weltliteratur zu lesen, um aus anderen Sprachen Kraft zu schöpfen. „Da sie nicht die Originalwerke der Weltliteratur lesen können, so können sie auch nicht in anderer Sprache, Tradition und Weltanschauung Inspiration suchen.“ (Aus Sicht der Sprache einen Blick auf die chinesische Gegenwartsliteratur werfen) Dies hat viele gekränkt und viel Tadel, ja sogar Hass nach sich gezogen, vor allem, weil heutzutage die meisten bekannten Schriftsteller Chinas keine Fremdsprache verstehen.
Besonders beim Thema Fremdsprache können die chinesischen Schriftsteller Kubin nicht verknusen: Chinesische Autoren schreiben auf Chinesisch, denkt man. Warum eine Fremdsprache lernen? Manche meinen sogar, dass eine Fremdsprache die Muttersprache beschädigen kann. In ihren Augen ist Kubin dann nicht bloß von Arroganz und Vorurteilen geblendet, sondern auch noch ein Eurozentrist! Warum? Offensichtlich glaubt Kubin fest an eine beharrliche deutsche Auffassung: Sprache und Idee sind eins, und Sprache ist Inhalt, in hohem Maße unübersetzbar, wie schon Roman Jakobson dachte. Ist es also notgedrungen so, dass er sich emsig mit Übersetzungsarbeit beschäftigt? Andererseits soll man nicht über sein Wohlwollen hinwegschauen, dass er nämlich bei seinem Verlangen nach dem Erlernen einer Fremdsprache, besonders natürlich von Englisch, noch etwas im Auge hat: Auch einige der wichtigen chinesischen Autoren der Bewegung vom 4. Mai lernten unglaublich viel, weil sie übersetzten: Der Impuls befruchtete ihr chinesisches Denken, in ihrer Sprache, über ihr eigenes „Haus“. Und weiter noch, instrumenteller gedacht, muss man zugeben: Es ist auch, wenn man Fremdsprachen versteht, in anderer Hinsicht vielleicht ziemlich nützlich, und zwar für jenen internationalen Austausch, bei dem es auch darum geht, dass die chinesische Literatur „hinaus in die Welt geht“. (Über das zouchuqu走出去bzw. „Hinaus in die Welt“ hat er aber seine eigene Ansicht und darüber auch Artikel geschrieben.) Es geht nicht, wenn der Austausch zwischen Literaten immer auf Dolmetscher angewiesen ist. Einmal wurde Kubin eingeladen, in Indien Vorlesungen über die chinesische Gegenwartsliteratur zu halten, was ihn ein wenig irritierte: Warum lädt man nicht direkt einige chinesische Schriftsteller ein? Man sagte ihm, dass man gerade aus China zurückkam, und die Schriftsteller dort kein Englisch können.
Eingangs sagte ich, Kubin sei ein Begriff in China. Wir können es auch als ein Phänomen betrachten: Er ist eine streitbare Person, daher berühmt. Dies betrifft dann in hohem Grade die Frage nach Verständnisweisen bzw. Missverständnissen, was mich an unsere internationale Konferenz vor einigen Jahren erinnert, an: „Ideas and Methods: Possibilities of a Chinese-Western Dialogue in a Globalized Age”. Eingereicht hat Kubin damals einen Beitrag mit dem Titel „Far Understanding, Close Misreading: Towards the Problem of a Possible Encounter between ‘East‘ and ‘West‘“ (Mangyuan de lijie, qiejin de wudu: lun Dong Xi fang xiangyu zhi keneng茫远的理解,切近的误读: 论东西方相遇之可能,2012). Er stützte sich auf eine Auffassung in der gegenwärtigen deutschen Philosophie, dass kein Verständnis ganz erreicht werden kann. Die deutsche Kultur ist wohl eine Zweifelskultur, und er hat offensichtlich als ein Deutscher seine These aufgestellt. Er sagte: „If complete understanding would be really possible, it has to be regarded as a gift.“ Kubin selbst ist ein sehr gutes Beispiel für das Problem des Verständnisses bzw. Missverständnisses. Oder anders gesagt: Er lässt mich ziemlich leicht auf die Frage des Verständnisses zwischen Ost und West kommen.
Hinsichtlich der Frage, wie man China – auch in China – vesteht, identifiziert Kubin zwei gängige Arten: Erstens schätze man China gemäß westlichen Kriterien und Termini ein, so z. B. in der Art von Aussagen wie „Dies hat China auch“, als gebe es in China keine eigenen Sachen. Zweitens ist es: „unsere alte Kultur und lange Zivilisation.“ Kubin bezeichnet das als ein Klischee. Die erste Denk- und Sehweise zeugt meistens von einer verbreiteten Neigung der chinafreundlichen westlichen Sinologen, während die zweite eher bei jenen chinesischen Wissenschaftlern vorkommt, die gern zu einem Ressentiment gegen den Westen aufreizen. Kubin gehört gewiss nicht zu einer dieser zwei Kategorien, daher findet man genügend Spott und Ironie bei ihm. Er ist ein kühler Sinologe, spielt bisweilen die Rolle eines Bösewichts, macht oft überraschende Bemerkungen, und dies ist auch keine Seltenheit in seinem chinesischsprachigen Sammelband (Yemanren lailin: hanxue hequ hecong野蛮人来临: 汉学何去何从 (Die Barbaren kommen: Sinologia – quo vadis?, 2017). Was seinen „Agnostizismus“ betrifft, so habe ich diesen ganz früh schon in seinem Aufsatz „The Importance of Misunderstanding: Reconsidering the Encounter between East und West“ (Wujie de zhongyaoxing: chongxin sikao Zhong Xi xiangyu误解的重要性: 重新思考中西相遇, 2005) kennengelernt. Ich halte den Artikel für einen genialen Text von ihm und habe ihn deshalb auch ins „Ideas and Methods“-Conference Manual aufgenommen. In gewissem Sinne war die von diesem Aufsatz angeregte Reflexion einer der Gründe, warum ich die erwähnte Konferenz organisierte.
In diesem Aufsatz über das Missverständnis, wie sonst auch in nicht wenigen Texten von Kubin, finden sich einfallsreiche Ansichten und gescheite Bemerkungen. Das von ihm angesprochene Missverständnis ist nicht jenes absichtliche und schöpferische, welches es auch gibt, sondern eine Einbildung im philosophischen Sinne. Er lässt eine Auffassung von manchen westlichen Asien-Forschern nicht gelten, die glauben, dass es möglich sei, „die Anderen“ vollkommen zu verstehen. Für ihn ist „Verständnis“ allein semantisch gesehen nicht möglich; Verstehen und Deuten ist nicht Ergebnis, sondern ein endloser Prozess: Das heutige Verständnis könnte morgen schon korrigiert werden. Überdies kann man manche Seiten der Anderen überhaupt nicht verstehen: so ist Missverständnis unvermeidlich. Anscheinend ist Kubin jemand, der immer etwas tun will. Sonst würde er sich nicht vorstellen, wie langweilig es wäre, wenn ein anderer Mensch oder eine andere Kultur vollkommen verstanden werden könnte. Man kann sich natürlich auch fragen, ob seine alte, frühe, längst transzendierte Hegel- und Marx-Rezeption in ihm den Gedanken, dass alles ein unabgeschlossener Prozess sei, so tief und grundsätzlich verankert haben könnte – und damit eine Vorstellung, die sich bis zu Heraklit und zu manchen alten chinesischen Denkern zurückverfolgen lässt. Eine solche Vorstellung steht allerdings unter Umständen quer zum Denken Husserls, Gadamers und anderer Phänomenologen.
Langweilig findet Kubin auch, was manche chinesischen Wissenschaftler oft behaupten: „Nur Chinesen verstehen China.“ Oder: „Betrachte mich bitte, wie ich mich sehe.“ Derartige Meinungen hat Kubin völlig widerlegt: Es ist nicht nur unrealistisch, sondern wiederholt bloß Altbekanntes und ein jedermann geläufiges Urteil. („Nur Chinesen verstehen China”: Zum Problem eines Verständnisses zwischen Ost und West, 1999; chinesische Fassung: Zhiyou Zhongguo ren lijie Zhongguo? 只有中国人理解中国?, 2006) Kubin kann beim besten Willen nicht begreifen, warum die Chinesen Ausländern abverlangen, China von China aus zu betrachten, dann selbst aber immer wieder mit Walter Benjamin oder Michel Foucault die chinesische Kultur deuten. Für ihn ist das Missverständnis ein Recht der Menschheit, und eines der wichtigsten Merkmale der modernen Wissenschaft ist gleichzeitig das ungewisse Verständnis, Ohne Missverständnis ist kein Verständnis möglich. Andersherum gilt für ihn auch: Nur dank einer bestimmten Menge von Verständnis kann ein Missverständnis entstehen. Daher ist Verständnis eine Ergänzung des Missverständnisses, und umgekehrt. Kubins Darlegung des Missverständnisses ergibt sich aus seinen Erfahrungen, zugleich ist das auch ein Resultat eines philosophischen Nachdenkens, was ich wertvoll finde. Offenbar hat er lange Zeit einen diametral entgegengesetzten Standpunkt gegenüber den zwei üblichen Formen des China-Verständnisses eingenommen. Er ist ziemlich eigenwillig, liebt eine Devise des Expressionisten Georg Trakl: „Vorwärts zu dir selber!“
Kubin ist problematisch – das ist natürlich nicht meine Meinung, sonst wären wir nicht Freunde seit mehr als dreißig Jahren. Problematisch, sogar sehr problematisch finden ihn manche Schriftsteller, auch Literaturwissenschaftler und führende Kritiker in China: Es gibt Leute, die ihn keines Blickes würdigen, oder die mit den Zähnen knirschen. Denkt man zurück, so hat er selbst Unheil angerichtet. So hatte er im Jahr 2006 bei einem DW-Interview Chinas heutige Literatur als „Schrott“ bezeichnet. Später erfuhr man, dass er das nicht von der chinesischen Gegenwartsliteratur allgemein behauptet habe, sondern nur von einigen wenigen chinesischen „Fräuleinwundern“. Aber die Medien-Leute in China waren prompt daran interessiert und . So war Kubin auf einmal überall berühmt. Eigentlich ist die „Schund“- oder „trash“-These – diese Rede über Dreck oder Müll (laji shuo垃圾说) – überhaupt nicht seine Erfindung; in der chinesischen Literaturszene sprach man schon längst davon. Er hatte dann aber in dem Interview das Flüstern unter Berufsgenossen offen aufs Tapet gebracht. Lieber Gott! Chinas heutige Literatur ist Müll – das sagt Kubin, ein Prominenter der Sinologie! Es fand viel Zustimmung, erntete aber zugleich damit eine heftige Antwort derer, die nicht mit lauten Schimpfwörtern sparten. Nie zuvor hat Kubin so große Aufmerksamkeit erregt. Er hat danach dann versucht, die Sachlage zu klären, aber vergebens. Die „Schund-These“ kursierte schon in aller Munde. Für viele scheint der Name Kubin stets mit der „Schund-These“ verbunden zu sein, sie haben es also fest im Kopf behalten, fast ist es schon ein gewohnter Gedankengang.
Kubin ist ein bisschen eigenartig, er macht manchmal einen „radikalen“ Eindruck. Aber er hat ja sein eigenes Urteilsvermögen, eigene Auffassungen, und er übersetzt immer noch chinesische Gedichte und Essays der Gegenwart, oder auch Novellen und Erzählungen. Wie kann er so verkommen sein und sich dauernd mit „Schund“ abgeben? Es ist leicht einzusehen, dass es überhaupt nicht verkehrt ist, zu vermuten, dass es einigen darum ging, auf dem Umweg über einen „Fremden“ Chinas heutige Literatur mit dem unerfreulichen Etikett „Schund“ zu versehen, und eine Kritik an manchen Tendenzen und Werken ist ja auch nicht völlig unbegründet. Kubin jedenfalls ist der chinesischen Gegenwartsliteratur gegenüber richtig hart. In seinen Augen sind die heutigen Gedichte Chinas großartig, die meisten Prosawerke (besonders die Romane) aber ziemlich mittelmäßig, manchmal sogar rückständig. Er hat die chinesischen Literaturschaffenden von heute in zwei Lager geteilt, so vermute ich: Dichter und die anderen. Er wirft dennoch nicht alle Dichter in einen Topf. Im Großen und Ganzen ist er der Ansicht, dass die heutigen Schriftsteller in China keine Einsamkeit aushalten können: „Zuerst will man berühmt werden, dann kommt Erfolg und schließlich viel Geld,“ hat er geschrieben. (Xiezuo yinggai shi gudu de写作应该是孤独的/Schreiben ist eigentlich einsam, 2015) Seine Kritik ist ja eindeutig: Die chinesische Literatur zwischen 1949 und 1979 sei reine Parteiliteratur gewesen, und die Literatur nach 1989 stehe in den Diensten des Marktes, stinke nach Geld. Viele chinesische Schriftsteller und Kritiker können seine Kritik nicht hinnehmen, für manche hat er die Ehre der chinesischen Schriftsteller geschändet. Sie würden sich aber erleichtert fühlen, wenn sie wüssten, wie Kubin Amerika bzw. amerikanische „China Studies“ geißelt. Er ist ja ein kritischer Geist, kritisiert nicht nur Amerika, auch nicht nur China: Er bemängelt einfach, was er für inkorrekt hält.
Vorhin habe ich über die Einfachheit, ja „Kindlichkeit“ von Kubins Chinesisch gesprochen, wollte eigentlich noch sagen, dass seine Sprache mich halt eine chinesische Redewendung erneut begreifen lässt: tongyan wu ji童言无忌, das heißt „die Kindersprache kennt kein Tabu”. Er ist jenem naiven Kind in Des Kaisers neue Kleider ähnlich, da er so offen und frei heraus ist, in seiner Art. Manche Sachen kann man wohl insgeheim sagen, er aber hat sie ausgesprochen und aufgeschrieben, das ist oft den anderen nicht so lieb. Schon lange ein Chinakenner für uns, also als solcher in China anerkannt, scheint er zugleich, wie ich denke, im Reich der Mitte Narrenfreiheit zu genießen: Er sagt jedenfalls, was er will. Dies ist vielleicht das Privileg eines in China lebenden Ausländers. China braucht so sehr derartige Menschen, Menschen wie ihn – denn er ist ein aufrichtiger Mensch, und darum geht es doch, überall, auch bei uns! Xiao Ying 肖鹰 von der Qinghua-Universität meint, Kubin sei ein Repräsentant der kritischen Sinologie. Einverstanden! Kritisches Denken ist genau das, was China braucht, und nicht, dass man andauernd sich selbst gute Noten ausstellt.
Seinerzeit, als ich in China von der „Schund-These“ hörte – man sprach auch von Schrott, von „trash“ –, konnte ich vermuten, was für ein Wort Kubin gebraucht hat: es ist ein alltäglicher Ausdruck, auf Deutsch ebenso wie auf Chinesisch. Aber wie anders, in beiden Sprachgebieten! Der Ausdruck „Schrott“ (oder „Müll“) ruft bei den Chinesen und Deutschen ganz andere Echos hervor. Selbst wenn er die deutsche Gegenwartsliteratur als Schrott bezeichnete, würden viele Deutsche vielleicht nur mal mit den Achseln zucken, bestimmt würde es nicht, wie in China, hohe Wellen schlagen, eine Art „Konfrontation“ sogar bedeuten, die bis heute nachwirkt. Und dies auch, weil er ein Ausländer ist? Ich erzähle diese ganze Geschichte hier, um zu verdeutlichen, dass wegen der unterschiedlichen Kultur und des unterschiedlichen sozialen Hintergrunds, und weil man sich in China schon vor der Lancierung der „Schund-These“ fortwährend mit dem Gedanken an einen Nobelpreis für Literatur gequält hat, der Grad der Sensibilität angesichts mancher Urteile hier ein anderer als anderswo, z. B. in Deutschland, ist. Ob man ein Gespür für das hat, was sich schickt, hat oft auch mit der jeweiligen Kultur- und Sozialgeschichte zu tun, auch mit individueller und sozialer Psyche, sowie mit dem Grad des Selbstvertrauens oder dem Mangel daran. So wie Kubin meint, dass Verstehen und Deuten ein endloser Prozess seien, so kann ich nur sagen, dass China noch Zeit braucht, um ihn voll und ganz zu verstehen; im Moment jedenfalls ist es nicht einfach. Man weiß, dass es derzeit kaum eine Chance für einen Dialog zwischen Kosmopoliten und Nationalisten gibt.
Bei einem Interview wurde ich befragt über Kubin, wie er sei, wie ich ihn sähe. Meine Antwort war, wie viele Deutsche tendiere er in der Argumentaton zum Absolutismus, im Gegensatz zu einem Chinesen, der daran gewöhnt ist, nach allen Seiten ausgewogen zu sprechen. Aber nicht nur bei den Deutschen, sondern im Westen überhaupt ist es gang und gäbe: Man ist hart bei der Kritik, während man bei Lob auch keinen Spielraum lässt, wie es in einem englischen Kinderreim heißt: „And when she was good, she was very good, / And when she was bad, she was horrid.“ Als damals, in der „trash“-Affäre, die Leute feurig Kubin entgegneten, war meine Reaktion der Gedanke, dass hier die minimale Voraussetzung eines Dialogs fehlte. Du kannst zustimmen, oder auch widersprechen – es geht doch nur um ein Wort, warum soll man so in Zorn geraten? Ich sage dies deshalb, weil eine Reaktion wie „Nichts Besonderes“ im westlichen akademischen Kreis möglich ist. Kubin ist ein Chinakenner, aber noch mehr ein Westler; erst recht gibt er zu, dass er sich manchmal absichtlich etwas übertrieben ausdrückt, so dass man sich darüber ärgert.
Die „Schund-These“ ließ Kubin jedenfalls gleichsam über Nacht weithin bekannt werden. Zuvor war er nur ein in Fachkreisen bekannter Sinologe, seither steht er im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Allerdings ist er nicht nur in den chinesischen Massenmedien eine bekannte Persönlichkeit; auch in den wissenschaftlichen Zeitschriften sieht man oft seinen Namen. Das „Kubin-Phänomen“ löste ein lebhaftes Treiben aus, und seine Fundamentalkritik hat unter den chinesischen Literaturwissenschaftlern eine hitzige Debatte über den Wert der chinesischen Gegenwartsliteratur ausgelöst. Vor diesem Hintergrund erschien die chinesische Übersetzung der von ihm herausgegebenen Geschichte der chinesischen Literatur, darunter auch die von ihm selbst verfasste Chinesische Literatur im 20. Jahrhundert, ein Buch, das selbstverständlich besondere Aufmerksamkeit auf sich zog. An Rezensionen hat es nicht gefehlt – Anerkennung gibt es, aber auch Tadel. Ist die von der „Schund-These“ ausgelöste Differenz von viel Streiterei und Schaumschlägerei begleitet, so ist es diesmal mindestens an der Oberfläche viel nüchterner geworden. Ich sage: Oberfläche, weil zwischen den Zeilen der objektiven Analyse immer noch Emotionales zu spüren ist, selbst manche Wortwahl stammt aus der „Schund“-Affäre.
Eine Literaturgeschichte bezieht sich selbstverständlich auf eine große Menge von Material, und diesmal ist es Kubin selbst, dem so manches vorgeworfen wird: vermeintliche Lücken, sogenannte Fehlurteile, mitsamt seiner „kritischen Distanz“ und seinem „individuellen Interpretationsstandpunkt“. Man hat „Versäumnisse“ gefunden, man hat „Missverständnisse“ entdeckt. Unzufrieden ist man vor allem mit seinen „westlichen Kriterien“ und seinem „Elitebewusstsein“. Professor Chen Xiaoming 陈晓明 meint nicht nur, dass Die Chinesische Literatur im 20. Jahrhundert Kubins und die von den Chinesen geschriebene Literaturgeschichte der Moderne und Gegenwart divergieren; zudem sei der Gedankengang von Kubin nicht logisch. Solche harsche Kritik muss einen in Verlegenheit bringen. Der ernsthafte Kubin musste dann überraschenderweise feststellen, dass ohne sein Wissen in der ins Chinesische übersetzten Ausgabe 20% des Buchs weggelassen worden sind – hauptsächlich Teile der theoretischen Erläuterung. So kontert er mit der Bemerkung: Es wäre schön, wenn Professor Chen Deutsch verstünde. Das war zu erwarten.
Diejenigen, die oft mit Kubin in Kontakt stehen, wissen, dass er selten zu Scherzen aufgelegt ist, aber ein Umgang mit ihm ist ja nicht schwierig. Im Gespräch hört er gern zu, stellt Fragen, sagt dann offen seine Meinung. Ich habe niemals bei ihm in einer Unterrichtsstunde hospitiert. Ich vermute, dass er es nicht leicht hat gegenüber vielen chinesischen Studenten von heute, die sich nicht nur an seine Denk- und Sprechweise, sondern auch an seinen schwarzen Humor gewöhnen müssen; auch seine Weltanschauung würde vielleicht nicht so viel Zustimmung finden.
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Was für eine Ehre und was für eine Sisyphusaufgabe, ein Vorwort zu einer mehr als 140-seitigen Publikationsliste zu verfassen. Zugleich ist es eine Freude; denn mit dieser Bibliografie kann ein erster universeller Blick auf einen Zeitgenossen geworfen werden, der vor allem als Sinologe, Übersetzer und Schriftsteller tätig ist und dessen Bekanntheitsgrad mit der Zeit wachsen und zunehmen wird. Keineswegs kann ich behaupten, dass ich in dieser bibliografischen Angelegenheit den umfassenden Durchblick habe, aber manches von Wolfgang Kubin habe ich gelesen: Übersetzungen, wissenschaftliche Abhandlungen, Kommentare, Rezensionen und vor allem dessen literarische (prosaische, essayistische und lyrische) Werke. Die Doppelbegabung, als Wissenschaftler und als Literat aufzutreten, ist selten geworden, aber überzeugend. In hochkulturellen Zeiten gab es dafür den Begriff poeta doctus, in der angelsächsischen Moderne immerhin den Begriff poet-critic; auch in China, im alten China und im neuen, der Volksrepublik, kann man Dichter und Wissenschaftler in Personalunion sein. Wer einst in die höchsten Staatsämter aufsteigen wollte, musste dichten können. Obschon das in China im 21. Jahrhundert nicht mehr reicht, bleibt der Respekt vor dem „gelehrten Dichter“, wie auch vor der Dichtung und den Dichtern, bestehen. Nur im heutigen Deutschland sieht das anders aus.
Als Schriftsteller mit großem Interesse an der chinesischen und ostasiatischen Kultur ist es für mich eine Ehre, ein Vorwort zu schreiben. In den letzten Jahren sind wir Freunde geworden. Dass ich Wolfgang Kubin (geb. 1945) gut verstehen kann, hängt nicht nur damit zusammen, dass wir zur selben Generation gehören. Uns verbindet eine Reihe von Erfahrungen, die wir z. T., wenn auch nicht gemeinsam, zeitgleich in Berlin/West, in Japan und in China machten. Der Mann aus Celle mit Vorfahren aus Wien war immer derjenige, der mit seinen Sprachstudien in die Tiefe ging, der sich v. a. an den chinesischen Originalen abarbeitete, der übersetzte und der zu einem überragenden Kulturvermittler wurde. Meine Tätigkeit in Japan und später in China bestand in der Vermittlung von deutscher Sprache, Kultur und Philosophie, obschon vergleichend ausgerichtet. Diese Tätigkeit öffnete meinen Blick für aktuelle Vorlagen aus deutscher Feder; da gab es kein zweites Werk, das ich ähnlich gewinnbringend heranziehen konnte wie das von Wolfgang Kubin, von Kulturvermittlern wie Richard Wilhelm (1873–1930) und Franz Kuhn (1884–1961) einmal abgesehen. Wilhelm, Kuhn und Kubin gehören zu denjenigen Gelehrten, die chinesische Kultur vermitteln und nicht bloß für ein kleines, abgehobenes Fachpublikum schreiben. Ohnehin ist das Publikum, das sich für Kultur interessiert, in einer bildungsfernen Zeit im Westen klein genug geworden.
Kubins Werk verfügt über zahlreiche Facetten; es gibt den Sinologen, Japanologen, Philosophen, Theologen, Germanisten, den Übersetzer und Rezensenten, vor allem den Schriftsteller Wolfgang Kubin, obschon nicht in allen Genres und in allen Schattierungen gleichermaßen intensiv. Nun besteht die Funktion eines Vorwortes normalerweise darin, auf ein einzelnes Werk hinzuweisen und dafür einleitende Worte zu finden. Vor mir liegt freilich eine vielseitige Publikationsliste in Buchform, die detaillierte Angaben zu den veröffentlichten Werken auflistet, den Übersetzungen, den wissenschaftlichen Werken, den literarischen, den „großen“ wie den „kleinen“… Nur eines kann ich mit Sicherheit sagen, diese Bibliografie könnte, nein, sie sollte der Grundstein für eine darauf aufbauende Kubin-Philologie und/oder allgemeine Kubin-Rezeption auf geistesgeschichtlicher und interkultureller Grundlage sein. Wie die Titel nahelegen, wird in diesem Werk vor allem chinesische Kultur in der Form von Prosa, Lyrik und Philosophie vermittelt.
Prosa: Da ist das vorzügliche Werk Lu Xuns (1881–1936), der einer der wichtigsten Vorbereiter und Mitgestalter der chinesischen Moderne war. Kubin übersetzte selber zahlreiche Texte des Schriftstellers. Er gab Lu Xuns „Werke in 6 Leinenbänden“ (1994) heraus, gefolgt von einer „Geschichte der chinesischen Literatur“ in 10 Bänden (2002–2021). In der Lyrik arbeitete Kubin über Du Mu (803–852) und andere Dichter der Tang- und der früheren Han-Zeit; des Weiteren veröffentlichte der gelehrte Dichter 2015 in einer Neuauflage eine umfangreiche Anthologie mit moderner chinesischer Lyrik auf Deutsch und auf Chinesisch, die im österreichischen Bacopa Verlag herauskam: „Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne. Moderne chinesische Lyrik 1919–1984.“ Die Erstveröffentlichung 1985 im Suhrkamp Verlag war einsprachig deutsch.
Schließlich zog mich eine profunde philosophische Ausgabe in ihren Bann, die zehnbändige Ausgabe „Klassiker des chinesischen Denkens“ (2011–2020), die von Kubin zusammengestellt, übersetzt und kommentiert wurde. Bislang konnte ich in Japan und China deutsche Philosophen vorstellen, jetzt könnte ich das in Deutschland auf Vorträgen mit chinesischen tun. Der Taoismus (Daoismus) und seine Philosophen Zhuang Zi (Bd. 4: „Vom Nichtwissen“) und Lie Zi (Bd. 8: „Von der Kunst, auf dem Wind zu reiten“) motivierten mich besonders, bis ich auf Mo Zi (Bd. 10: „Von Sorge und Fürsorge“) aus dem Jahr 2020 stieß, was mich zu einer vergleichenden Studie der Auswahl von Kubin mit Alfred Forkes „Mê-Ti“, einer 1922 erschienenen Übersetzung des Gesamtwerks, und Bertolt Brechts in den 1930er Jahren entstandenen und 1965 von Uwe Johnson herausgegebenen Fragment „Me-ti. Buch der Wendungen“ anregte.
Der Sinologe, Philosoph, Übersetzer, Schriftsteller … macht uns die chinesische Kultur verständlich und bringt sie mit der deutschen in Berührung (Wahlverwandtschaft). Das Fremde wird auf nachhaltige und eindrucksvolle Weise in die Nähe gerückt. Aber der aktuelle deutsche Literaturbetrieb und die Medien, die davon lernen könnten, tun das viel zu selten. Die Medien, diese manipulierenden und manipulierten Meinungsmacher, sind, aus welchen Gründen auch immer, auf ein allzu überhebliches China-Bashing eingestellt. Des Weiteren vermag sich der Literaturbetrieb in der Bundesrepublik gut gebildete und profunde Autoren kaum noch vorzustellen. Dass man literarische Produktion, Gelehrsamkeit, Wissenschaft und Kritik miteinander verbinden kann, war allerdings etwas, das romantische und klassische Autoren im 18. und noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert auszeichnete, nicht nur in Deutschland, sondern in Frankreich, in England und in anderen europäischen Ländern ebenfalls. Verglichen mit der einstigen geistigen Höhe sind wir allmählich in einem tiefen Tal angelangt. Da sind manche von uns froh, wenn sie zu einer „friedlichen Emigration“ in die Kulturoasen des Fernen Osten aufbrechen können.
Wenn Werke klein sind, werden sie gern übersehen; wenn sie groß oder zu groß sind, übersieht man sie auch. Dann wagt sich keiner mehr heran. Das könnte bei unserem „Poet-critic“ der Fall sein. Es bedarf unerschrockener Geisteswissenschaftler, welche die schärfste Kritik an dieser, auch die durchaus notwendige Psychoanalyse, integriert und überwunden haben, ohne dekonstruktiv auseinanderzufallen. – Privat ist Wolfgang Kubin der freundlichste, hilfsbereiteste und motivierendste Mensch, den man sich vorstellen kann; das gilt für die von ihm betreuten Studentinnen und Studenten ebenso. Nur kleinkarierte Lehrer plustern sich auf; weitblickende, bedeutende, universelle Gelehrte sind oft großzügig und haben eine gute Portion Humor wie Meister K. oder einige meiner ehemaligen Lehrer und Freunde im Berlin der 1970er Jahre wie der Philologe und Stilist Alfred Behrmann (1928–2022) oder der Philosoph, Phänomenologe, Kulturanthropologe und Simmel-Forscher Michael Landmann (1913–1984).
Dass Wolfgang Kubin ein poet-critic ist, konnte ich in einer kleinen Abhandlung darlegen. Damit habe ich vielleicht einen ersten Baustein zur Kubin-Philologie gelegt. Einen weiteren Baustein gibt es zur klassischen chinesischen Philosophie. Genug davon, mein Vorwort will nicht fachmännisch daherkommen. Es ist ein mit einer Würdigung verbundener Versuch, eine umfangreiche Bibliografie vorzustellen, ohne dass Leser, Studierende und jüngere Gelehrte vor Masse, Material und Geist erschrecken müssen. Wenn man nur will, wird man in diesem Werk vieles finden, das bildungsfreudige Leser geistig anzieht, sowie Forscher, wenn es darum geht, Themen und Sichtweisen des Werkes philologisch oder philosophisch zu ergründen.
Wissenschaftler (Gelehrter, Experte) und Dichter in Personalunion zu sein, das hat in China bis in die Gegenwart hinein Konjunktur. Dem Dichter, dem Schriftsteller Kubin oder (mit chinesischem Namen) Gu Bin 顾彬 auf die Spur zu kommen, muss die erweiterte Seite des Unternehmens sein. Neugierigen Lesern und vorurteilslosen Komparatisten wird das gelingen. Nachdem ich von Kubin Vorträge und Lesungen gehört hatte, hieß die erste Schrift, die ich von ihm las, Unterm Schnurbaum. Deutsch-Chinesische Wahlverwandtschaften. Essays 1991–2009. Mir wurde klar, dass hier kein abgehobener Gelehrter, sondern ein Dichter und ein Freund der Dichter spricht. Nicht nur das Kapitel „Am Wendekreis des Krebses. Nachrichten vom Ende der Welt“ zeigt einen Flaneur, der über die Bedingungen des Schreibens nachdenkt und in der Nähe Shantous, faktisch und imaginär, auf eben diesem Wendekreis flaniert. Möglicherweise ist Wolfgang Kubin (Gu Bin) der in den Osten verschlagene Franz Hessel (1880–1941). Hessel und der jüngere Freund Walter Benjamin (1892–1940) waren die Begründer einer famosen deutschen Flaneurliteratur, die freilich in Frankreich ihre Vorläufer hatte.
Ich will nicht aufzählen, was ich von Kubin inzwischen gelesen habe, es ist eine Menge und doch nur ein Teilchen des Werkes. Auch Gedichtbände sind darunter wie In fernen Landen (2014), Abgründige Erleuchtung, Das Gleichgewicht der Unruhe (Das frühe Werk, Bd. 2 und Bd. 3, 2015) oder Was kommt, was bleibt: Ein poetischer Mischsatz (2018). In Abgründige Erleuchtung heißt es vom „Wendepunkt“: „Eines manchen Zeit ist rückläufig. / In ihr zum Beispiel will es nicht licht werden. / Ihre Dämmerung beschirmt, / als läge hier der Wendepunkt.“ Es gibt auch „Wendepunkte der Wendepunkte“, das Leben besteht aus solchen, davon hat der Dichter viele eingefangen. Lyrik nimmt bei Kubin einen hohen Stellenwert ein. Zur eigenen Lyrik kommen poetisch ansprechende Übersetzungen älterer und moderner chinesischer Lyrik hinzu, ich erwähne nur Zhang Zaos Briefe aus der Zeit. Chinesisch und deutsch (1999) oder Ouyang Jianghes Der Doppelphönix. Ein Langgedicht sowie andere längere Poeme (2015), ebenfalls auf Chinesisch und auf Deutsch.
Kubin ist vielschichtig, ich weiß nicht, wie viele personae in ihm stecken, und doch bodenständig. Er liebt den ruhigen Gang durchs Gebirge, dabei wird man an den Lao Shan nahe Qingdao in der Provinz Shandong oder an die Gelben Berge (Huang Shan) in der Provinz Anhui denken. Der Dichter ist beides, ein Meister der Form und der turbulenten Inhalte. Er ist einer, der nicht ins „Kästchendenken“ und in keine Schublade passt. Die meisten von uns, auch die Wissenschaftler, werden zum „Kästchendenken“ genötigt. Kein Wunder, dass diejenigen, die sich mit diesem Denken abgefunden haben, mit einem „Querdenker“ ihre Schwierigkeiten haben. Der alte Streit zwischen Positivisten und Dialektikern flammt wieder auf, obwohl es unbestreitbar ist, dass nur das dialektische Denken lebendig und beflügelnd wirkt und von unschätzbarem Vorteil für alle Kreativen ist.
Gibt es Hausgötter? Die Frage kommt unvermittelt. Wo Goethe seinen Philippus Neri, seinen humoristischen Heiligen hatte, um sich geistig abzulenken und auf andere Gedanken zu kommen, da hat Meister K. seine Kammer mit Schnaps (Maotai oder Volksschnaps). Ich meine allerdings das literarische Ergebnis und zwar des Dichters „Schnaps-Essays“: „Die Geschichte eines Flachmanns“ (2014). Aber die Geschichte ist nicht flach, das Trinken hat in China seine Tradition. Und wenn man einmal unten ist, blickt man nach oben, falls man überhaupt je unten war. In den Essays heißt es: „Berufene aller verlorenen Reiche, vereinigt euch bei 52 %, gießt hinunter, was nie wiederkommt, eure Freude, eure Trauer, werdet wie er, ein Fels in der Landschaft, der höchste Klare (Taibai)!“
Trotzdem, liebe Leser- und Forscher*innen, Kubin will menschlich sein und ist es auch; man muss vor den Text- und Veröffentlichungsmengen des Meisters nicht erschrecken. Er will kein Olympier auf dem Berg Tai (Tai Shan) sein. Das ist er dennoch, eine Koryphäe der Kulturvermittlung zwischen Ost und West, zwischen China und Deutschland, zwischen China und der Europäischen Union. Nicht ohne gute Gründe erhielt Wolfgang Kubin dreimal den höchsten Staatspreis der Volksrepublik China, nicht wegen der Politik, sondern für seine vielfältigen Verdienste um die Vermittlung der chinesischen Kultur in ihrer Breite seit der Zeit des Konfuzius, des Lao Zi oder Mo Zi aus dem 6. und 5. Jahrhundert v.u.Z., über die Han- und Tang-Dichter, über die literarische Moderne des 20. Jahrhunderts bis hinein in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts. Kubin wurde als herausragender Vermittler der chinesischen Kultur, der Hochkultur, aber auch der Alltagskultur, ausgezeichnet.
Ohne Frage kommt China im 21. Jahrhundert eine bedeutende Rolle zu, in erster Linie als Wirtschaftsmacht, aber auch als Kulturnation. Kein anderes Land blickt auf eine solche Kontinuität zurück, die bis ins 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung reicht. Der Westen ist erschrocken über ein sich erfolgreich gestaltendes Land von der Größe und von der Bedeutung eines Kontinents. Doch China kennt mehr als andere Staaten seine globale Verantwortung. „Gelbe Gefahr“, „rote Gefahr“ und ritualisiertes China-Bashing sind nichts als Humbug, der zur Maskierung des schlechten Gewissens ehemaliger westlicher Eroberer und heutiger Amerika-, Europa- und Germanozentristen beiträgt. An Selbsterkenntnis und an Selbstkritik wird dabei im Westen noch immer nicht gedacht. Bislang hat China als Wirtschaftsmacht die Fehler der USA, gerade auch die militärischen, nicht begangen. Für China spricht, dass es bis in den Alltag hinein Kulturnation ist. Das alte China ist und war die Mutterkultur Ostasiens, so wie es einst Hellas und Rom für Europa waren. Das gebildete und gut ausgebildete China ist nicht nur ein wirtschaftlicher Antriebsmotor; es hat eine besondere kulturelle Bedeutung. Wenn der Satz ex oriente lux je Geltung hatte, gilt das für China heutzutage umso mehr. Wer bildungsmäßig und kulturell dazulernen will, findet im umfangreichen Werk Wolfgang Kubins (Gu Bin) einen geeigneten Anlass.
Wulf Noll. „Bertolt Brechts Me-ti / Buch der Wendungen mit Blick auf Alfred Forkes Mê Ti des Sozialethikers und seiner Schüler philosophische Werke als Quelle“, minima sinica 32 (2020), 233-291.
Wulf Noll. „Wolfgang Kubin als poet-critic“, minima sinica 30.1 (2018), 1-15.
Wulf Noll. „Von der ‚Freude der Fische‘ (Zhuang Zi): Ein Plädoyer für interkulturelles Philosophieren mit Blick auf Wolfgang Kubin“, minima sinica 30.1 (2018), 17-36.
Wulf Noll. „Deutsch-chinesische Wahlverwandtschaften: Unzeitgemäße Betrachtung zu Wolfgang Kubins Unterm Schnurbaum“, minima sinica 2014.2, 111-117.
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