Zum Aufbau des Buches
Das Hauptanliegen bildet eine Sammlung bekannter und repräsentativer Haiku, die in japanischer Art und Weise als Miszellen, das heißt kommentiert und erläutert dargestellt werden. Diese Vorgehensweise nennt man in Japan kaishaku to kanshō, was wörtlich „Interpretation und Würdigung bzw. Genuss“ bedeutet. Allen literaturtheoretischen Entwicklungen zum Trotze stellt sie dort immer noch eine bedeutsame Form der kreativen Auseinandersetzung mit der Haiku-Dichtung dar. Ohne kaishaku to kanshō ist ein tieferes Verstehen der Haiku-Dichtung oftmals kaum möglich, was freilich für die japanische Leserschaft ebenfalls gilt. Das Aufdecken einiger Verbindungen zur klassischen Dichtung, auf das hier viel Gewicht gelegt wurde, dient dabei dem Versuch einer weitwinkligen Kontextualisierung, einer vernetzten Verortung von Santōkas Dichtung.
Diese macht unserer Meinung nach deutlich, dass ein Haiku nicht auf den in über jahrhunderten von Jahren erstarrten Rhythmus von siebzehn Moren beschränkt sein muss. Das besitzt natürlich Konsequenzen für die Übersetzungstechnik. Der amerikanische Haiku-Übersetzer Robert Aitken schreibt:
I do not cramp my translations by forcing conformity to a particular count of syllables,
und die meisten amerikanischen Übersetzer folgen ihm darin. Warum sollte bei einem „traditionellen Haiku“ eine gute deutsche Übersetzung auf siebzehn Silben beschränkt bleiben? In der Form des freien Haiku (jiyūritsu haiku) scheint die Silben- bzw. Morenzahl keine große Rolle zu spielen und es solche Probleme zunächst nicht zu geben. Die Formfreiheit gestaltet die Übersetzung allerdings nicht einfacher. Ganz im Gegenteil – Santōka benutzte verschiedene rhythmische Kombinationen mit unterschiedlichen Zähleinheiten, die über den bloßen Aspekt der Form hinausgehen. Rhythmus und Morenzahl tragen eine Bedeutung – was allerdings in der lyrischen Dichtung nichts Ungewöhnliches ist und in gewisser Weise auch für das traditionelle Haiku gilt. Anders gewendet: Gerade weil die Form frei ist, fließt sie als gestalterisches Mittel in die Bedeutung ein. Dabei fällt auf, dass Santōka eine Vorliebe für Rhythmen zu haben schien, die zum Laufen passen. Der Rhythmus ist viabel, gangbar, wobei mit Laufen oder Gehen weder die zweckgebundene Bewegung noch der zerstreuende Spaziergang gemeint ist. Santōka legte tausende Kilometer zu Fuß zurück. Allein. Und in dieses Gehen hämmerten sich die Rhythmen seiner „freien“ Haiku ein. Oder umgekehrt: Stundenlanges Laufen – „Leer-Laufen“ – verpasste den Worten ihren Rhythmus. Es waren Roman Jakobson und die Formalisten, die uns gezeigt haben, dass wir viel über den Inhalt erfahren, wenn wir die Form betrachten, dass eine Strukturbeschreibung selbst schon zur Bedeutung führt.
Aus diesem Grund wurde bei der Übersetzung versucht, Rhythmus und Zähleinheiten möglichst zu berücksichtigen. Das Gleiche gilt für den Wortklang, was im Folgenden noch genauer zu zeigen ist. Santōka überließ es übrigens dem Leser selbst, wo dieser die Zäsuren setzt. Er schrieb seine Haiku oftmals in nur einer Zeile, was gewöhnlich für das klassische Haiku ebenfalls gilt. Die Übersetzungen werden hier in drei, aber auch in nur zwei Zeilen – je nach Kürze oder Interpretation – notiert. Freilich kommt es dabei häufig vor, dass die Setzung der Zäsur bzw. der Zeilenumbruch dem Bereich der Interpretation anheimfällt.
Die Frage, was Santōka für ein Dichter war, ist schwer zu beantworten. War er ein Impressionist, so wie es sein Mentor Ogiwara Seisensui forderte? Ein Zen-Dichter, so wie ihn die westliche Leserschaft, aber auch manch Japaner gerne sähe? Oder vielleicht ein Naturdichter? Impressionen sind oft nur scheinbare Impressionen, die sich bei genauerem Hinsehen als tradierte Technik, literarische Anspielung oder ähnliches entpuppen. Und auch Naturlyrik zeigt sich schließlich als Dichtung aus dem menschlichen Bereich – was gerade bei Santōkas oft angemerkter Ichbezogenheit besonders deutlich ist. Zu diesem komplexen Geflecht aus Santōka und Natur schreibt der Poet in sein Tagebuch:
Ich betrachte mich als einen Teil der Natur und zugleich die Natur als eine Erweiterung meiner selbst.
Das mag egozentrisch oder sich selbst überschätzend wirken, ist jedoch angesichts moderner Kommunikationstheorien eine hochinteressante Selbst-Beobachtung. Thematisch jedenfalls war Santōka ein „Wasser-Dichter“, ein „Regen-, Wind- und Berg-Dichter“ und vor allem ein Dichter der klanglichen Welt. Wie vermutlich kein anderer verstand er es meisterhaft, die Welt der Klänge in seiner Dichtung einzufangen. Dieses sollen nur ein paar der Themen sein, die in den Miszellen aufgegriffen werden.
An diese anschließend folgen die Übersetzung der Sammlung Hachi no ko („Die Bettelschale“) sowie eine lose Sammlung von Haiku. Hachi no ko ist die erste von Santōka selbst veröffentlichte Sammlung, deren einundneunzig Gedichte vollständig in deutscher Sprache präsentiert werden. Es handelt sich dabei um eine akribische Auswahl an Haiku, die der Dichter offensichtlich als seine besten ansah – und nicht nur er. Die Gründe für die Auswahl sind jedoch manchmal nur schwer nachzuvollziehen. Trotz einer einfachen Wortwahl ist bei einigen Versen der direkte Zugang nicht möglich. Um die Vollständigkeit der Sammlung aber nicht zu gefährden, wurden diese Haiku dennoch „übersetzt“. Damit sich diejenigen, die der japanischen Sprache mächtig sind, ein eigenes Bild machen können, fügen wir der Sammlung – und nur hier – die japanischen Originalnotationen bei. Diese erste Sammlung ergänzt eine lockere Zusammenstellung an ausgewählten Haiku.